9.9. Chemische Erfindungen
9.9.5 Vorhersehbare Verbesserungen durch kristalline Formen gegenüber amorphen Formen
In zahlreichen Entscheidungen wurde befunden, dass eine erfinderische Tätigkeit anerkannt werden kann, wenn das beanspruchte Polymorph eine unerwartete Eigenschaft aufweist, sodass seine Auswahl nicht willkürlich war (T 1994/22, siehe auch z. B. T 777/08, T 1684/16, T 2086/21). Das bloße Vorliegen eines weiteren Polymorphs impliziert jedoch keine erfinderische Tätigkeit, da die Polymorph-Identifizierung im Zusammenhang mit der Entwicklung pharmazeutischer Produkte eine Routinetätigkeit darstellt (s. z. B. T 2157/21).
In T 777/08 (ABl. 2011, 633) bezogen sich die fraglichen Ansprüche auf ein besonderes Polymorph (Form IV) von kristallinem Atorvastatinhydrat. Die Kammer führte aus, dass die Fachperson auf dem Gebiet der Arzneimittelentwicklung gewusst hätte, dass Polymorphie ein verbreitetes Phänomen bei Molekülen ist, die für die pharmazeutische Industrie interessant sind, und dass es sich empfiehlt, schon in einer frühen Phase der Arzneimittelentwicklung nach Polymorphen zu suchen. Mit den entsprechenden Routineverfahren hierfür wäre die Fachperson vertraut gewesen. Die bloße Bereitstellung einer kristallinen Form einer bekannten pharmazeutisch wirksamen Verbindung konnte daher nicht als erfinderisch angesehen werden, sofern kein technisches Vorurteil zu überwinden war und keine unerwartete Eigenschaft vorlag (s. auch T 41/17, T 1831/18). Ausgehend von der amorphen Form einer pharmazeutisch wirksamen Verbindung als nächstliegendem Stand der Technik würde die Fachperson eindeutig erwarten, dass sich die Aufgabe der Bereitstellung eines Erzeugnisses mit verbesserten Filtrations- und Trocknungseigenschaften durch eine kristalline Form dieser Verbindung lösen ließe. Eine willkürliche Auswahl eines spezifischen Polymorphs aus einer Gruppe gleichermaßen geeigneter Kandidaten kann nicht als erfinderisch angesehen werden.
In T 478/17 sah die Kammer insofern einen Unterschied zu den Entscheidungen T 777/08 und T 41/07, als der vorliegende Fall nicht die Auswahl einer kristallinen Form betraf, sondern die eines konkreten Salzes, nämlich die von Eliglustat-Hemitartrat, das zu mindestens 70 Gew.-% kristallin ist. Die Auswahl dieses konkreten Salzes war nicht willkürlich. Vielmehr hatte es unerwartete Eigenschaften, nämlich eine verbesserte (geringere) Hygroskopizität und eine verbesserte chemische Stabilität. Eine "Einbahnstraßen-Situation" gegenüber D1 – wie vom Beschwerdeführer geltend gemacht – konnte die Kammer nicht erkennen. Ausgehend von D1 hätte die Fachperson verschiedene Auswahlmöglichkeiten in Bezug auf die Stöchiometrie und den Grad der Kristallinität gehabt. Daher kam die Kammer zu dem Schluss, dass es für die Fachperson angesichts des angeführten Stands der Technik nicht naheliegend gewesen wäre, das zu mindestens 70 Gew.-% kristalline Salz Eliglustat-Hemitartrat zu isolieren und zu der in Anspruch 9 des Hauptantrags definierten Verbindung zu gelangen.
Auch die Kammer in T 1684/16 machte einen Unterschied zu T 777/08, vor deren Hintergrund der Beschwerdeführer vorgebracht hatte, dass die beanspruchte Lösung naheliegend sei, weil das Screening von Polymorphen, wie der Stand der Technik zeige, eine Routinetätigkeit sei. Anders als T 777/08 betraf die vorliegende Sache nicht die Auswahl irgendeiner kristallinen Form, sondern die einer ganz speziellen kristallinen Form (nämlich Form I von Bosutinib-Monohydrat). Die Auswahl dieser speziellen kristallinen Form war nicht willkürlich, vielmehr hatte diese Form unerwartete Eigenschaften, nämlich eine bessere Stabilität im Vergleich zu den anderen kristallinen Formen aus D1, D2 und D3. Dass der Stand der Technik die Fachperson lehrte, Polymorphe zu untersuchen, um die kristalline Form mit den vorteilhaftesten Eigenschaften zu isolieren, reicht allein nicht unbedingt aus, um eine spezielle polymorphe Form mit einer bestimmten gewünschten Eigenschaft als naheliegend anzusehen (s. auch T 1326/18).
In T 1079/18 stellte die Kammer fest, dass die Fachperson, die vor der Aufgabe stünde, eine kristalline Form von Febuxostat bereitzustellen, die eine höhere Löslichkeit als die Form A aufweise, offensichtlich geneigt wäre, zu prüfen, ob die Form A bei höheren Temperaturen eine endotherme Phasenumwandlung in eine neue Form mit höherem Schmelzpunkt erfahre. Eine solche Form existiere, oder sie existiere nicht. Sie stellte fest, dass sich die Fachperson in einer "Try and see"-Situation befunden hätte. Durch eine DSC-Analyse der Form A hätte die Fachperson, die eine höhere Löslichkeit anstrebe, die Form I als die gewünschte Form ermittelt. Die Tatsache, dass die Form I lediglich die Nicht-Hygroskopizität der Form A beibehalten hätte, hätte lediglich als Bonuseffekt angesehen werden können, den die Fachperson zwangsläufig erzielt hätte, da sie in erster Linie eine kristalline Form von Febuxostat mit höherer Löslichkeit gesucht hätte.
In T 215/20 unterschied die Kammer den vorliegenden Fall von T 777/08. Erstens ist die Wirkung, die für die erfinderische Tätigkeit herangezogen wurde, eine andere (Filtrierbarkeit und Trocknungseigenschaften in T 777/08 gegenüber der Hygroskopizität im vorliegenden Fall), und zweitens hätte die Fachperson, obwohl eine Lösung für die objektive technische Aufgabe, eine pharmazeutische Zusammensetzung bereitzustellen, die eine kristalline Form von Dapagliflozin enthält, die stabiler (d. h. weniger hygroskopisch) ist, von D4 vorgeschlagen worden sein mag, nicht vernünftigerweise erwarten können, dass die von D4 angebotene Lösung diese Aufgabe gelöst hätte. Die Fachperson hätte die von D4 vorgeschlagene Wirkung, nämlich die allgemeine Abnahme der Hygroskopizität, lediglich als Behauptung angesehen. Angesichts der allgemein anerkannten hohen Unvorhersehbarkeit der Eigenschaften kristalliner Formen hätte die Fachperson eine weniger hygroskopische Form von Dapagliflozin nicht vernünftigerweise erwarten können.
In T 672/21 bestand die objektive technische Aufgabe nach der Definition der Kammer darin, eine kristalline Form von Selexipag mit ausgewogenen vorteilhaften Eigenschaften bereitzustellen. Es fehlt nicht an unerwarteten Eigenschaften, und die Auswahl ist nicht willkürlich, da die gewählte Form I im Vergleich zu Form II und Form III ausgewogene vorteilhafte Eigenschaften in Bezug auf Stabilität, industrielle Verarbeitbarkeit und Reinheit aufweist. Im Stand der Technik gibt es keinen Hinweis darauf, dass die beanspruchte Form I diese Ausgewogenheit der vorteilhaften Eigenschaften aufweisen würde, und sie sind somit nicht zu erwarten. Damit unterscheidet sich der vorliegende Fall von der Situation, um die es in der Entscheidung T 777/08 ging. Die Kammer hat den vorliegenden Fall auch von T 41/17 unterschieden, in dem geschlussfolgert wurde, dass die Fachperson zur Ermittlung der stabilsten Form ein Screening der verschiedenen, im nächstliegenden Stand der Technik offenbarten Polymorphe durchgeführt hätte. Im vorliegenden Fall ist die Stabilität nicht die einzige Eigenschaft, sondern vielmehr Teil der Ausgewogenheit dieser vorteilhaften Eigenschaften. Selbst wenn also die Stabilität der Form I erwartet worden wäre, hätte dies nicht für die Ausgewogenheit der vorteilhaften Eigenschaften gegolten (s. auch T 2086/21).
Die Kammer in T 1994/22 unterschied den vorliegenden Fall von T 672/21, indem sie feststellte, dass keine Ausgewogenheit der vorteilhaften Eigenschaften gegeben war. Im vorliegenden Fall sah die Kammer nichts Unerwartetes in der Entdeckung eines Polymorphs, der in Bezug auf eine Eigenschaft optimale Werte, für mehrere andere aber nur moderate Werte aufwies. Wäre dies unerwartet und würde aus diesem Grund eine erfinderische Tätigkeit anerkannt, so müsste ein Anmelder oder Inhaber, der einen neuen Polymorph entdeckt hat, lediglich lange genug Versuche durchführen, um eine einzige Eigenschaft zu finden, für die der entdeckte Polymorph am besten geeignet ist. Dies könnte zu einer Situation führen, in der fast jeder Polymorph auf der Welt erfinderisch wird, was Art. 56 EPÜ seinen Wesensgehalt nehmen würde.
In T 2086/21 bestätigte die Kammer, dass die objektive technische Aufgabe, die dem Anspruch 1 zugrunde liegt, darin bestehe, eine Form von Apalutamid mit einer vorteilhaften Kombination von Eigenschaften bereitzustellen: verbesserte Hygroskopizität, hohe thermodynamische Stabilität und hohe Polymorphstabilität. Die Beschwerdeführer (Einsprechenden) machten geltend, dass Apalutamid bereits vor dem Anmeldetag des Patents Gegenstand eines Antrags auf Genehmigung einer klinischen Prüfung eines neuen Arzneimittels (Investigational New Drug) gewesen sei, und argumentierten, dass die Fachperson somit motiviert gewesen wäre, Routine-Untersuchungen durchzuführen, da die Untersuchung von Polymorphen und die Stabilitätsprüfung zum allgemeinen Fachwissen gehörten. Die Kammer stellte fest, dass diese Vorträge die Formulierung der objektiven technischen Aufgabe gemäß dem Problem-Lösungs-Ansatz nicht berücksichtigten, wonach die Form B eine vorteilhafte Kombination von Eigenschaften aufweise, die durch die bloße Bereitstellung einer kristallinen Form per se nicht zu erwarten gewesen wäre. Die Kammer befand, dass es an unerwarteten Eigenschaften nicht fehlt. Die Kammer unterschied zwischen T 41/17 und dem vorliegenden Fall: Selbst, wenn hier die Wirkung der thermodynamischen Stabilität als naheliegend angesehen worden wäre, gelte dies nicht für die vorteilhafte Kombination.
Näheres zu "Try and see-Situation" enthält Kapitel I.D.7.4. Näheres zu "Unerwartete Bonuseffekt" enthält Kapitel I.D.10.8.