7. Erfolgserwartung, insbesondere auf dem Gebiet der Gen- bzw. Biotechnologie
7.4. "Try and see"-Situation
Wenn weder die Umsetzung noch die Erprobung eines im Stand der Technik vorgeschlagenen Ansatzes irgendwelche besonderen technischen Schwierigkeiten mit sich bringt, dann ist die Überlegung, dass die Fachperson zumindest eine "Try and see"-Haltung eingenommen hätte, ein Grund für die Verneinung der erfinderischen Tätigkeit (s. z. B. T 333/97, T 377/95 vom 24. April 2001 date: 2001-04-24, T 1045/98, T 1396/06, T 2168/11). Bei solchen Sachverhalten findet das Konzept der "angemessenen Erfolgserwartung" keine Anwendung (T 91/98, T 293/07, T 688/14, T 259/15). Die Fachperson würde es vorziehen zu prüfen, ob die von ihr ersonnene mögliche Lösung funktioniert, statt das Projekt aufzugeben, weil ihr Erfolg nicht sicher ist ("Try and see"-Ansatz).
Von einer "Try and see"-Situation werde dann ausgegangen, wenn die Fachperson in Anbetracht der Lehre aus dem Stand der Technik eine Gruppe von Verbindungen oder eine Verbindung bereits klar ins Auge gefasst und sodann mithilfe von Routineversuchen festgestellt habe, ob diese Verbindung(en) die gewünschte Wirkung hätte(n) (T 889/02, T 542/03, T 1241/03, T 1599/06, T 1364/08). S. auch dieses Kapitel I.D.9.21.7 "Überlegene Wirkung".
In T 1396/06 stellte die Kammer fest, dass die Fachperson trotz der verständlichen Unsicherheiten, die für biologische Versuche kennzeichnend seien, im vorliegenden Fall keinen Grund zur Skepsis gehabt hätte. Die Fachperson hätte entweder eine gewisse Erfolgserwartung oder allenfalls gar keine besondere Erwartung gehabt, sondern es einfach aufs "Durchprobieren" ("Try and see"-Ansatz) ankommen lassen, was nicht mit dem Fehlen einer vernünftigen Erfolgserwartung gleichgesetzt werden könne (s. auch T 759/03).
In T 293/07 stellte die Kammer fest, dass eine Erprobung am Menschen nicht als bekannter Routineversuch angesehen werden kann und dass sich die Fachperson folglich nicht in einer "Try and see"-Situation befand. In T 847/07 hielt es die Kammer für fraglich, ob die Fachperson in Fällen, in denen umfassende In-vivo-Tierversuche und letztendlich eine Erprobung am Menschen notwendig wären, um festzustellen, ob eine Verbindung eine bestimmte Eigenschaft hat, überhaupt eine "Try and see"-Haltung einnehmen würde (s. auch T 1545/08). In T 1011/17 entschied die Kammer, dass zur Bestätigung der Wirksamkeit von Bosutinib bei menschlichen Leukämiepatienten mit Imatinib-resistenten Krebszellen, die die F317L-Mutation aufweisen, umfangreichere Studien erforderlich gewesen wären. Die Fachperson befand sich hier nicht mehr in einer "Try and see"-Situation, sondern hätte eine angemessene Erfolgsaussicht als Anreiz dafür verlangt, zu weiteren, wesentlich aufwendigeren und umfangreicheren klinischen Studien überzugehen.
In T 62/16 betonte die Kammer, dass die Fachperson bei der Abwägung der Möglichkeit, eine klinische Studie mit einem bis dato noch nicht am Menschen erprobten Arzneimittel zu starten, konservativ vorgehen würde. In der Entwicklung eines neuen Arzneimittels für den Einsatz beim Menschen wird es früher oder später immer notwendig sein, von Versuchen an Tiermodellen zu solchen am Menschen überzugehen, und dieser Schritt ist unweigerlich mit einem gewissen Grad an Unsicherheit verbunden. Ob die Fachperson sich für die Aufnahme einer klinischen Studie mit dem betreffenden Arzneimittel entscheiden würde, ist je nach Sachlage im Einzelfall zu entscheiden.
In T 259/15 befand die Kammer, die Rechtsprechung lasse nicht den Schluss zu, dass die Fachperson unabhängig von den Umständen des Falles einen "Try and see"-Ansatz systematisch vermeiden würde, wenn damit eine Erprobung am Menschen verbunden ist. Im vorliegenden Fall war die Kammer der Meinung, dass die Fachperson das betreffende Hilfsmittel (ein transdermales Pflaster mit dem Wirkstoff Buprenorphin) am Menschen testen würde, obwohl Unsicherheit in Bezug auf die maximale Dauer der Anwendung bestand.
Angesichts des nächstliegenden Stands der Technik betrachtete die Kammer die in T 886/91 zu lösende technische Aufgabe als die exakte Identifizierung und Charakterisierung von DNA-Sequenzen der HBV-Genom-Unterart adyw. Die Kammer wies darauf hin, dass der Sachverhalt im vorliegenden Fall nicht mit dem in T 223/92 und T 500/91 zu vergleichen war, wo die Herstellung eines teilweise bekannten Proteins in einem rekombinanten DNA-System gelungen war und aufgrund der Tatsache als erfinderisch betrachtet wurde, dass unter den jeweiligen Umständen keine realistische Erfolgserwartung bestand. In der zu entscheidenden Sache waren die Klonierung und die Exprimierung der HBV-Genom-Unterart adyw im nächstliegenden Stand der Technik bereits offenbart. Die Identifizierung und Charakterisierung der beanspruchten spezifischen Sequenzen desselben Genoms bedeutete für die Fachperson weiter nichts als die routinemäßige Durchführung von Experimenten im Rahmen der ganz normalen Praxis, bei der Wissenslücken durch Anwendung des vorhandenen Wissens geschlossen werden.
In T 688/14 argumentierte der Beschwerdeführer I, dass die Fachperson keine "Try and see"-, sondern eine skeptische Haltung eingenommen hätte. Die Kammer war anderer Ansicht. Die Fachperson konnte dem Dokument 8 nicht nur entnehmen, dass bei der Durchführung des fraglichen Verfahrens mehrere Probleme auftraten, sondern auch, mit welchen Maßnahmen und Mitteln sich diese überwinden ließen. De facto waren diese Probleme bereits aus dem Stand der Technik bekannt ebenso wie die Maßnahmen und Mittel zu ihrer Überwindung. Für die Fachperson gab es keinen Grund, sämtliche vorhandenen Informationen zu ignorieren und in einer "Try and see"-Situation das schlechtest-mögliche-bekannte System oder Verfahren auszuwählen. Zu beachten war nach Auffassung der Kammer, dass die Fachperson im vorliegenden Fall keine Verbesserung oder vorteilhafte Wirkung anstrebte, sondern lediglich nach einem alternativen Verfahren suchte.
In T 1715/15 stellte die Kammer fest, dass die Fachperson zugleich als vorsichtig und konservativ eingestellt gelten kann (s. dieses Kapitel I.D.8.1.3), aber auch als mit der Weiterentwicklung des Stands der Technik durch routinemäßige Anpassungen und Versuche beauftragt (s. auch T 688/14, T 2697/16 and T 1289/22).
In T 2015/20 vertrat die Kammer die Auffassung, dass der in Anspruch 1 definierte Gegenstand nicht das naheliegende Ergebnis von Routineversuchen, sondern vielmehr das unerwartete Ergebnis einer Studie zur Ermittlung einer Aclidinium-Dosis mit optimierter Wirksamkeit und ohne Nebenwirkungen zur Behandlung einer chronischen Erkrankung war. Sie befand den Gegenstand des Anspruchs 1 für erfinderisch. S. auch dieses Kapitel I.D.10.8 "Unerwartete Bonuseffekt".
In T 3016/18 erklärte die Kammer, dass eine Fachperson zwar eine gegebene Schicht eines Schichtverbundes theoretisch durch jede willkürlich gewählte alternative Schicht ersetzen könnte. Eine Fachperson würde dies im Rahmen von "Try and see"-Situationen allerdings nur dann innerhalb seines üblichen, routinemäßigen Vorgehens in Erwägung ziehen, wenn es sich bei den möglichen Alternativen um Schichten handelt, die bekanntermaßen die gewünschte Funktionalität der zu ersetzenden Schicht aufweisen. Diese Ausgangsbedingung war aber im vorliegenden Fall nicht gegeben.
In T 2695/18 war die Kammer nicht der Ansicht, dass die Fachperson, die die Lehre des Dokuments D1 mit D3 oder D17 kombiniert, sich zumindest in einer "Try and see"-Situation befindet, sodass sie zwangsläufig zum beanspruchten Gegenstand gelangt. Die verfügbaren Dokumente enthalten keinen Hinweis; keine der Lehren des Standes der Technik sehen eindeutig eine Vorgehensweise im Lichte der zu lösenden Aufgabe vor; die Fachperson ist nicht in der Lage, die Lehren des Standes der Technik durch routinemäßige Verfahren zu überprüfen, weil die dosisabhängige Wirkung von Mn**(2+) auf die Erhöhung der Sialylierung nicht bekannt gewesen ist und daher dieser eine Weg unter den vielen möglichen Wegen zur Lösung der Aufgabe nicht angedeutet wurde.
In T 2565/19 führte die Kammer aus, dass im vorliegenden Fall die Bedeutung der Forschung am Menschen in einem medizinischen Kontext die Fachperson dazu veranlasst hätte, die an Ratten durchgeführten Versuche in Dokument D2 am Menschen zu wiederholen, selbst angesichts alternativer Erklärungen für die Ergebnisse und selbst angesichts der Kenntnis, dass beim Menschen nur ein Typ von TRH-Rezeptor gefunden wurde. Die Kammer erkannte an, dass es in der Fachwelt allgemein bekannt ist, dass die Arbeit mit postmortalem menschlichem Gewebe und insbesondere mit Gehirngewebe mit besonderen praktischen Problemen verbunden ist. Da die Fachperson jedoch ein Tiermodell auf den Menschen übertragen will, hat sie keine andere Wahl, als auf menschliches Gewebe zurückzugreifen.
Auch die Entscheidungen T 455/91 (ABl. 1995, 684), T 412/93, T 915/93, T 63/94, T 856/94, T 91/98, T 111/00 und T 948/01 befassen sich mit dieser Thematik.