3. Klarheit der Ansprüche
3.5. Funktionelle Merkmale
In T 68/85 (ABl. 1987, 228) entschied die Beschwerdekammer, dass funktionelle Merkmale, die ein technisches Ergebnis definieren, im Patentanspruch dann zulässig sind, i) wenn diese Merkmale ohne Einschränkung der erfinderischen Lehre anders nicht objektiv präziser umschrieben werden können und ii) wenn die funktionellen Merkmale der Fachperson eine ausreichend klare technische Lehre offenbaren, die sie mit zumutbarem Denkaufwand – wozu auch die Durchführung üblicher Versuche gehört – ausführen kann. Außerdem wurde von der Kammer hervorgehoben, dass das Streben nach funktioneller Definition eines Merkmals dort seine Grenze finden muss, wo die Deutlichkeit des Patentanspruchs im Sinne von Art. 84 EPÜ 1973 nicht mehr gewährleistet wäre. Dieser Entscheidung sind viele weitere Entscheidungen gefolgt, so z. B. T 139/85, T 292/85 (ABl. 1989, 275), T 293/85, T 299/86 date: 1987-09-23 (ABl. 1988, 88), T 322/87, T 418/89 (ABl. 1993, 20), T 707/89, T 204/90, T 752/90, T 388/91, T 391/91, T 810/91, T 822/91, T 894/91, T 281/92, T 490/94, T 181/96, T 750/96, T 265/97, T 568/97, T 484/98, T 1186/01, T 295/02, T 499/02, T 1173/03, T 404/06, T 959/08, T 560/09, T 556/11, T 2067/12, T 754/13, T 2427/13, T 2114/14 und T 1605/20. In einigen dieser Entscheidungen (s. z. B. T 204/90, T 181/96, T 265/97) wird ein drittes Kriterium geprüft – streng genommen kein Erfordernis nach Art. 84 EPÜ 1973 – nämlich, dass iii) der Stand der Technik der Verwendung einer solchen funktionellen und damit allgemeinen und weiten Formulierung nicht entgegenstehen darf.
In T 361/88 differenzierte die Kammer zwischen zwei Arten von funktionellen Merkmalen, nämlich zwischen funktionellen Merkmalen, die Verfahrensschritte betreffen, die die Fachperson kennt und ohne Weiteres ausführen kann, um zum gewünschten Ergebnis zu gelangen; und solchen, die Verfahrensschritte betreffen, die durch das zu erzielende Ergebnis definiert werden. Auch Merkmale der zweiten Art seien zulässig, solange die Fachperson im Rahmen seiner normalen Fachkenntnisse wisse, was er zu tun habe, um zu dem angegebenen Ergebnis zu gelangen.
In T 720/92 stellte die Kammer fest, dass sich der Begriff "deutlich" in Art. 84 EPÜ 1973 auf die praktische Bedeutung des Wortlauts der Patentansprüche bezieht. Ansprüche mit funktionellen Merkmalen, die es der Fachperson nicht ermöglichen, die Erfindung anhand der Offenbarung und des allgemeinen Fachwissens auszuführen, erfüllen das Erfordernis der Deutlichkeit nicht. Im Hinblick auf Art. 84 EPÜ 1973 ist nichts gegen einen Anspruch einzuwenden, der funktionelle Definitionen, die sich auf Merkmale beschränken, die eine Fachperson anhand des allgemeinen Fachwissens mühelos bestimmen kann, mit einer strukturellen Definition des wesentlichen Beitrags des Anmelders kombiniert.
In T 560/09 betonte die Kammer, dass im Hinblick auf technische Merkmale, die in allgemeinen funktionellen Angaben ausgedrückt sind, die Funktion durch Versuche oder Maßnahmen nachweisbar sein muss, die in der Beschreibung in angemessener Weise dargelegt oder der Fachperson bekannt sind. Das bedeutet, dass ein Merkmal im Anspruch nicht nur verständlich, sondern auch insofern eindeutig sein muss, als unmissverständlich bestimmt werden kann, ob das beanspruchte funktionelle Merkmal erfüllt ist (s.°T 2427/13). Deshalb sind Mittel zur Unterscheidung zwingend erforderlich, damit in einem Anspruch eine Definition durch Funktion und nicht durch Struktur ermöglicht wird.
In T 243/91 wurde entschieden, dass ein funktionelles Merkmal gewährbar ist, wenn es der Fachperson eine klare Lehre offenbart, die sie ohne unzumutbaren Aufwand ausführen kann. In T 893/90 sah die Kammer durch das funktionelle Merkmal "in Mengen und Anteilen, die gerade ausreichen, um die Blutung zu stillen" ein technisches Ergebnis definiert, das ebenfalls ein nachprüfbares, von dem beanspruchten Arzneistoff zu erfüllendes Kriterium darstelle. Da die Nachprüfung anhand bloßer Routineversuche erfolge, könne die gewählte funktionelle Formulierung zugelassen werden. Die Angabe genauer Mengen und/oder Anteile der Komponenten, durch die der Anspruch eingeengt würde, sei nicht erforderlich. Der der Entscheidung T 181/96 zugrunde liegende Fall wurde hingegen von der Kammer als anders gelagert angesehen als der Fall T 893/90, wo die vorzunehmenden Versuche zwar auf den ersten Blick mühselig erscheinen mochten, aber zum medizinischen Alltag gehörten, also nur Routineversuche waren. In T 181/96 hingegen, bei dem es um eine Vorrichtung zur hydrostatischen Prüfung eines Dichtungselements einer Schraubverbindung zwischen zwei miteinander verbundenen Rohrabschnitten gehe, handele es sich nicht um die üblichen Rohrverbindungen mit im Allgemeinen genau definierten Abmessungsbereichen, die für eine Überprüfung der funktionellen Merkmale als solche herangezogen werden könnten. In T 1802/12 befand die Kammer, dass die Beschreibung keinen Test zur Prüfung umfasste, ob die funktionellen Merkmale nach Anwendung des beanspruchten Verfahrens vorlagen. Die Kammer schloss, dass die Erfordernisse des Art. 84 EPÜ – anders als im Falle von T 893/90, wo ein Test vorhanden war – nicht erfüllt waren.
In T 391/91 enthielt der Anspruch 1 allgemeine Angaben über die zur Ausführung der Erfindung nacheinander durchzuführenden Schritte, durch die sich ein einzelliger Mikroorganismus-Wirt mit INA (ice nucleation activity) oder verstärkter INA herstellen lässt. Der Anspruch war de facto eine Verallgemeinerung der Einzelbeispiele. Die Kammer führte aus, dass kein Grund bestehe, daran zu zweifeln, dass sich die spezifische Lehre der vorliegenden Beispiele verallgemeinern lasse; daher wäre es unbillig, vom Anmelder eine Beschränkung des Anspruchs durch Aufnahme der spezifischen Merkmale der Beispiele zu verlangen. Die Fachperson könne jede geeignete Variante verwenden, die dieselbe erfindungsgemäße Wirkung haben könne. Dies sei zwar vielleicht etwas umständlich, auf diesem Gebiet aber nichts Ungewöhnliches und erfordere nur Routineversuche. Der Anspruch war daher nach Art. 84 EPÜ 1973 gewährbar.
In T 241/95 (ABl. 2001, 103) definierte der so genannte "Swiss-Type-Anspruch" im Rahmen der zweiten medizinischen Indikation die mit dem Stoff X zu behandelnde Krankheit oder gesundheitliche Störung als "ein Leiden, das durch die selektive Belegung des Serotonin-Rezeptors gemildert oder dem dadurch vorgebeugt werden kann". Nach Auffassung der Kammer war diese funktionelle Definition nicht deutlich, weil kein Test vorlag, mit dem sich ermitteln ließ, ob die therapeutische Wirkung auf die neu entdeckte Eigenschaft von X, den Serotonin-Rezeptor zu belegen, oder auf irgendeine andere bekannte oder unbekannte Eigenschaft dieses Stoffs zurückzuführen war. S. auch T 2321/13.
Die Kammer in T 830/08 setzte sich mit der Klarheit eines Anspruchs auseinander, der auf eine zweite medizinische Verwendung gerichtet war. Derartige Ansprüche gelten nur dann als deutlich, wenn die zu behandelnde Erkrankung darin klar definiert wird (z. B. T 1048/98). Im vorliegenden Fall wurde die zu behandelnde Erkrankung funktionell definiert mit den Worten "präferentielle Apoptoseinduktion in einer ersten Zellpopulation im Vergleich zu einer zweiten Zellpopulation, wobei die Zellen der ersten Population Tumorzellen sind". Es stellte sich die Frage, ob die Fachperson dieser funktionellen Definition eindeutig eine Erkrankung oder Gruppe von Erkrankungen zuordnen konnte. Nach Ansicht der Kammer war dies nicht der Fall. Der Fachperson würde beim Lesen der Definition in Anspruch 3 auffallen, dass die erste Zellpopulation ausdrücklich erwähnt und spezifisch definiert wurde, während die zweite Zellpopulation zwar ausdrücklich erwähnt, aber nicht spezifisch definiert wurde.
In T 1074/00 war die Kammer der Auffassung, dass der Ausdruck "unter strikten Bedingungen hybridisierungsfähig" unter Berücksichtigung der besonderen Natur des Gegenstands der Patentanmeldung im Sinne von Art. 84 EPÜ 1973 hinreichend klar war (s. auch T 29/05). Die Tatsache, dass verschiedene Versuchsprotokolle zur Beurteilung einer Hybridisierung unter stringenten Bedingungen herangezogen werden könnten, bedeute nicht, dass diese Protokolle, was die ermittelte Nukleotidsequenz betreffe, zu verschiedenen Ergebnissen führen würden. Ferner sei zu berücksichtigen, dass der Gegenstand dieses Anspruchs auch durch ein weiteres, sich auf die biologische Aktivität beziehendes funktionelles Merkmal definiert werde.
In T 151/01 wurde der fragliche Erzeugnisanspruch gegenüber den Ausführungsformen des Stands der Technik durch ein funktionelles Merkmal dahin gehend eingeschränkt, dass der in der Zusammensetzung vorhandene Bestandteil nur in einer "therapeutischen Menge" vorhanden sein dürfe. Die Kammer hegte keinen Zweifel daran, dass die Fachperson in den meisten Fällen sehr gut in der Lage sei zu entscheiden, ob eine bestimmte Menge eines nicht-steroidalen entzündungshemmenden Wirkstoffs eine therapeutische Wirkung habe oder nicht. Um jedoch die Untergrenze der therapeutischen Menge eines gegebenen nicht-steroidalen entzündungshemmenden Wirkstoffs zu bestimmen, d. h. mit anderen Worten den Schutzbereich der Ansprüche genau festlegen zu können, sei ein Standardtest erforderlich, da das Ergebnis stark von der verwendeten Versuchsmethode abhänge. Da in der Beschreibung kein solcher Test angegeben werde und der Fachperson ein solcher auch nicht bekannt sei, zog die Kammer die Schlussfolgerung, dass der Anspruch das Erfordernis von Art. 84 EPÜ 1973 nicht erfülle.
In T 143/06 erkannte die Kammer in der "nahe am theoretischen Maximum" liegenden Dichte eines Erzeugnisses ein funktionelles Merkmal des Erzeugnisses, das untrennbar mit den für die Herstellung des Erzeugnisses erforderlichen Verfahrensbedingungen zusammenhing. Mangelnde Klarheit nach Art. 84 EPÜ war daher nicht gegeben.
In T 2565/19 handelte es sich bei dem beanspruchten Erzeugnis um einen isolierten TRH-Rezeptor, der ausschließlich durch lokale und funktionelle Merkmale definiert war, d. h. durch das Gewebe, aus dem er isoliert werden kann, und durch seine Fähigkeit, die im Anspruch definierten Verbindungen zu binden. Keines dieser Merkmale vermittelte strukturelle Informationen über das beanspruchte Erzeugnis, zum Beispiel, ob es sich dabei um ein Protein handelte oder nicht oder welche Sequenz es haben könnte, falls es sich um ein Protein handelte. Die Kammer befand, dass der Anspruch in Ermangelung von Strukturmerkmalen nicht als klar angesehen werden könne, da er eine Bestimmung des durch das Patent (oder die Patentanmeldung) gewährten Schutzes nicht ermögliche und den beanspruchten Gegenstand nicht in einer Weise definiere, die einen sinnvollen Vergleich mit dem Stand der Technik erlaube. In Ermangelung jeglicher struktureller Informationen über den beanspruchten Gegenstand war es nämlich nicht möglich zu bestimmen, ob das beanspruchte Erzeugnis neu ist. So konnte beispielsweise nicht ausgeschlossen werden, dass die im Anspruch definierten funktionellen und lokalen Merkmale nicht einfach ein bekanntes Molekül neu beschreiben.
In T 147/22 brachte der Beschwerdegegner einen Deutlichkeitseinwand vor mit der Begründung, dass einige in Anspruch 1 genannte Verbindungen mehr als eine Funktion haben könnten (Hilfsstoff, Bindemittel, Gleitmittel, Aromastoff…) und dass je nach ihrer Funktion die zulässige Menge in der Zusammensetzung unterschiedlich sein könne. Polyvinylalkohol könnte zum Beispiel ein Bindemittel oder ein Gleitmittel sein. Im ersten Fall wäre er in einer Menge von 0,001 bis 5 Massenprozent zulässig, im zweiten Fall darf er nicht enthalten sein, da er nicht unter den Gleitmitteln in Bestandteil (d) aufgeführt ist. Die Kammer widersprach. Die Tatsache, dass Polyvinylalkohol als Bindemittel und Gleitmittel bekannt sei, mache den Anspruch nicht unklar. Wenn Polyvinylalkohol in der Zusammensetzung enthalten sei, spiele er zwangsläufig die Rolle eines Bindemittels, selbst wenn er auch die Funktion eines Gleitmittels erfülle. Daher sei er als Bindemittel zu betrachten, das in einer Menge von 0,001 bis 5 Massenprozent in der Zusammensetzung zulässig sei.
- T 2387/22
In T 2387/22 claim 1 according to auxiliary requests 9 to 11 defined the use of a Vacuum Metallised Pigment (VMP) in a flexographic ink formulation for providing the following technical effects: "fewer print defects, higher hiding and stronger colour and allowing a lower volume anilox". The respondent (patent proprietor) submitted that according to G 2/88, when a use claim defined technical purposes or effects, these were to be interpreted as functional features restricting the scope of protection.
According to the appellant (opponent) these functional features did not meet the requirement of clarity under Art. 84 EPC, since they were defined using relative terms as well as diffusely defined concepts. The respondent replied that it was a well-established practice of the boards to allow the definition of effects or purposes in non-medical use claims using broad and/or relative terms.
The board observed that there was no basis – be it in the case law or in the EPC – for concluding that the limiting functional features of a use claim are exempt from the clarity requirement under Art. 84 EPC or somehow exposed to lower standards in this respect. It however emphasised that – irrespective of whether a claim was directed to a use or to any other category of subject-matter – the mere breadth of protection did not in itself imply a lack of clarity. The decisive consideration was whether the feature(s) in question gave(s) rise, or could plausibly give rise, to legal uncertainty when assessing whether a particular subject-matter falls within or outside the scope of protection conferred by the claim.
Moreover, the board stated that, where the invention was based on the discovery of a new technical effect of a known entity (as in G 2/88 and G 6/88), it was generally accepted in practice to define that effect in correspondingly broad terms, provided the effect was sufficiently distinct to clearly delimit the scope of protection with respect to the prior art. The situation in the present case was, however, fundamentally different. The use claim did not seek to define distinct technical effects, but rather relative improvements in the achievement of such effects..
The board held that where a claimed invention is defined by the use of a known entity to achieve a known technical effect or purpose, and the alleged technical contribution lies in a relative improvement or enhancement of that effect or purpose, the requirement of clarity under Art. 84 EPC generally demands that the feature defining such relative improvement or enhancement be expressed in objectively verifiable terms, thereby ensuring legal certainty regarding the scope of protection. In these "relative-improvement" scenarios, any imprecise functional language could blur the distinction between claimed and known uses, giving rise to the very legal uncertainty that the clarity requirement is intended to prevent.
In the present case, the board concluded that no objective criteria were available for determining when the number of print defects, the degree of hiding, the colour intensity or the anilox volume could be regarded as sufficiently low or high for other uses to fall within or outside the scope of the claim. As a result, the subject-matter of claim 1 could not be assessed objectively in relation to the prior art, which gave rise to legal uncertainty and therefore failed to meet the clarity requirement of Art. 84 EPC.