5.4. Ausführung der Erfindung im gesamten beanspruchten Bereich
Umfasst ein Anspruch nicht funktionsfähige Ausführungsformen (non-working embodiments), so kann das laut G 1/03 (ABl. 2004, 413, Nr. 2.5.2 der Gründe) je nach den Umständen unterschiedliche Folgen haben. Gibt es eine Vielzahl denkbarer Alternativen und enthält die Patentschrift ausreichende Angaben zu den relevanten Kriterien, anhand derer mit vertretbarem Aufwand geeignete Alternativen aus dem beanspruchten Bereich ausgewählt werden können, so ist der Einschluss nicht funktionsfähiger Ausführungsformen unschädlich (T 238/88, ABl. 1992, 709; T 292/85, ABl. 1989, 275; T 301/87, ABl. 1990, 335). Ist das nicht der Fall und ist die beanspruchte Erfindung nicht wiederholbar, so kann dies für die Erfordernisse der erfinderischen Tätigkeit oder der ausreichenden Offenbarung relevant werden. Ist eine Wirkung im Anspruch definiert, so liegt eine unzureichende Offenbarung vor. Diese Passage aus G 1/03 wird in T 2210/16 analysiert. Siehe auch T 875/16 (Nrn. 7 und 35 der Gründe) sowie T 1128/22 (zu weit gefassten Ansprüchen).
In T 1994/12 (Kautschukzusammensetzung) wurde argumentiert, dass das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung nicht erfüllt sei, weil die Fachperson angesichts der Ungewissheit bezüglich der Beschaffenheit des Asphalts nicht in der Lage sei, die Beispiele des Patents zu reproduzieren. Dazu stellte die Kammer fest, dass es bei der ausreichenden Offenbarung nicht um die Erfindung gehe, die der Anmelder bei der Abfassung der Anmeldung vielleicht im Sinn hatte, sondern vielmehr um die Erfindung, die in den Patentansprüchen anhand technischer Merkmale definiert ist (s. R. 43 (1) EPÜ), was auch bei der Beurteilung anderer Patentierbarkeitskriterien wie Neuheit und erfinderische Tätigkeit der Fall sei.
In der Entscheidung T 2824/19 (Elektrogerät, isolierende Schicht) argumentierte der Beschwerdeführer (Einsprechende), dass die Fachperson den Gegenstand des Anspruchs 1 nicht über den gesamten beanspruchten Bereich ausführen kann, da die Formulierung "variable Dicke" ihm zufolge auf zweierlei Art, nämlich als räumliche und zeitliche Variation, gedeutet werden kann. Das Streitpatent jedoch enthalte keinerlei Angaben zum Aspekt einer zeitlichen Variation. Die Kammer erinnerte daran, dass die Fachperson bei der Prüfung eines Anspruchs unlogische oder technisch unsinnige Auslegungen ausschließen sollte (s. Kapitel II.A.6.1.). Die Auslegung, nach der sich die Formulierung "variable Dicke" auf eine zeitliche Variation bezieht, sei technisch unsinnig. Der Kammer zufolge weiß die Fachperson, dass die isolierende Schicht elektrische Lichtbögen vermeiden soll. Die Ansprüche wiederum sollen den Gegenstand des Schutzbegehrens deutlich und knapp definieren. Sie richten sich an die Fachperson. Das Erfordernis der knappen Formulierung führt - unabhängig von den zu prüfenden Bestimmungen – zum Ausschluss technisch unsinniger Auslegungen im anspruchsgemäß definierten Fachgebiet Zur Stützung der Auslegung im Sinne einer zeitlichen Variation bezog sich der Beschwerdeführer auf ein allgemeinsprachliches Wörterbuch. Die Kammer befand, dass der Anspruch im Lichte des betreffenden Fachgebiets und nicht rein semantisch auszulegen ist. Ebenso konnte auch der Verweis auf die aus einem anderen Fachgebiet stammende Entscheidung T 133/15 nicht nachweisen, dass der Ausdruck "variable Dicke" im Fachgebiet der vorliegenden Erfindung im zeitlichen Sinne verstanden werden kann. Darüber hinaus listete der Einsprechende in diesem Fall mehrere auf die ausreichende Offenbarung anwendbare Grundsätze auf, wobei insbesondere die Auslegung der Ansprüche an das Erfordernis von Art. 83 EPÜ gekoppelt wurde. Die Kammer bestätigte die Gültigkeit der detailliert erörterten Prinzipien.
In T 1716/21 befand die Kammer hinsichtlich des Arguments, dass die Erfindung für mehrere "vorherige Anzeigen" angeblich nicht ausgeführt werden kann, dass eine beanspruchte Erfindung so lange ausreichend offenbart ist, wie die Fachperson unter Berücksichtigung der gesamten Offenbarung und ihres allgemeinen Fachwissens ableiten kann, welche Ausführungsformen funktionieren oder nicht. Dies gilt selbst dann, wenn ein weit gefasster Anspruch nicht funktionierende Ausführungsformen umfasst (s. insbesondere T 2773/18 und ebenso G 1/03, Nr. 2.5.2 der Gründe, Satz 2).
In der Ex-parte-Entscheidung T 748/19 bezog sich die Anmeldung auf die Identifizierung von Ereignissen in videoüberwachten Bereichen. Der Kammer zufolge kann es vorkommen, dass "technisch unsinnige" Formen des beanspruchten Gegenstands den Offenbarungsgehalt gemäß Art. 83 EPÜ nicht in Zweifel ziehen. Wenn das "technisch unsinnige" Beispiel konstruiert ist, sodass es die Fachperson angesichts der offenbarten Lehre und der beanspruchten Verallgemeinerung nicht als vom Anspruch gedeckt erachten würde, ist dieses Beispiel auch nicht als gedeckt zu betrachten. Nicht konstruierte Beispiele hingegen, die eindeutig vom Anspruch gedeckt sein sollen, müssen bei der Beurteilung des Offenbarungsgehalts berücksichtigt werden (selbst wenn sie "technisch unsinnig" sind – etwa ein Anspruch betreffend einen Teleporter). Die Erfordernisse von Art. 83 EPÜ waren im vorliegenden Fall nicht erfüllt.
In T 174/21 verstand der Beschwerdegegner (Patentinhaber) die gängige patentrechtliche Praxis, Ansprüche als Verallgemeinerung der Offenbarung der Beschreibung zu verfassen, so, dass einige "nicht funktionierende Ausführungsformen" naturgemäß nicht ausdrücklich ausgeschlossen werden können. Für die Kammer jedoch bestand die Frage im vorliegenden Fall nicht darin, ob bestimmte Ausführungsformen "funktionieren" oder nicht. Vielmehr ging es darum, ob die Fachperson das beanspruchte Verfahren über den "gesamten beanspruchten Bereich" ausführen kann. Um dies zu prüfen, ist der gesamte beanspruchte Bereich in der Tat durch die Augen des fachkundigen Lesers, d. h. basierend auf objektiven Kriterien und dem Anspruchswortlaut getreu, zu bestimmen. Durch dieses Vorgehen wird die Berücksichtigung von Ausführungsformen, die theoretisch möglich, aber nicht "technisch sinnvoll" sind, vermieden. Jedoch bedeutet das nach Auffassung der Kammer nicht, dass nur jene Anspruchsauslegungen als "technisch sinnvoll" gelten können, bei denen die Erfordernisse des EPÜ erfüllt sind (vgl. T 2210/16). Der Beschwerdegegner bestritt, dass der fachkundige Leser eine Mikrofoncharakteristik als "frequenzabhängige, ohrunabhängige Charakteristik" im Sinne des Merkmals c) betrachten würde. Die Kammer hingegen sah dies als technisch sinnvolle Auslegung von Anspruch 1 an. Zudem widmete sie sich dem Einwand des Beschwerdegegners, dass sie die Anwendbarkeit des Erfordernisses der Ausführbarkeit "über den gesamten Bereich" von Amts wegen geprüft hatte (s. Nr. 2.2.2 der Gründe). Die Kammer kam zu dem Schluss, dass der Einspruchsgrund gemäß Art. 100 b) EPÜ der Aufrechterhaltung des Streitpatents in erteilter Fassung entgegenstand.
Der in Art. 83 EPÜ genannte Fachmann sollte über alle technischen Gebiete hinweg durch das Streitpatent und sein allgemeines Fachwissen in die Lage versetzt werden, die beanspruchte Erfindung über den gesamten Bereich, d. h. nach allen technisch möglichen Auslegungsvarianten, die fachkundige Leser nach objektiven Kriterien aufgrund ihres allgemeinen Fachwissens heranziehen würden, auszuführen. Bei der Prüfung nach Art. 83 EPÜ sollten also alle "technisch sinnvollen" Anspruchsauslegungen berücksichtigt werden (T 149/21). Dieser Aspekt der Entscheidung wurde in T 124/22 (Cloud-Modellierung eines industriellen Automatisierungssystems) angewandt.
In T 867/21 betraf die Erfindung eine Antenneneinrichtung für Hörinstrumente. Die Kammer befasste sich zuerst ausführlich mit der für diesen Fall relevanten Frage der Auslegung von Anspruch 1. Danach befasste sich die Kammer mit der Frage der Ausführbarkeit. Es sei im Streitpatent wenigstens ein Weg zur Ausführung der beanspruchten Erfindung offenbart. Gemäß Art. 83 und 100 b) EPÜ ist es die "Erfindung", die so deutlich und vollständig zu offenbaren ist, dass eine Fachperson sie ausführen kann. Dabei ist die "Erfindung" nach Ansicht der Kammer als "die in den Ansprüchen definierte Erfindung" zu verstehen, im Einklang mit dem in den Art. 52, 54 und 56 EPÜ verwendeten Erfindungsbegriff. Demnach ist die "Erfindung", und damit auch die Frage, ob diese ausführbar ist, auf die Gesamtheit der Anspruchsmerkmale bezogen. Alle möglichen, für die Fachperson technisch sinnvollen Ausführungsformen, die unter die Merkmale des Anspruchs fallen, sind daher grundsätzlich in der Anmeldung bzw. im Patent so deutlich und vollständig zu offenbaren, dass die Fachperson sie ausführen kann. Insofern kann das Erfordernis der Ausführbarkeit nur dann als erfüllt angesehen werden, wenn die Fachperson die in den Ansprüchen definierte Erfindung im gesamten beanspruchten Bereich unter Verwendung der Angaben in der Anmeldung bzw. dem Patent und des einschlägigen allgemeinen Fachwissens nacharbeiten kann. Dieses Erfordernis verlangt allerdings nicht, dass für jede einzelne, unter den Anspruch fallende, technisch sinnvolle Ausführungsform in der Anmeldung oder im Patent ein separater, eigener Weg zu offenbaren ist. Die Ausführbarkeit kann sich nämlich für unter den Anspruch fallende, aber nicht ausdrücklich in der Beschreibung offenbarte Ausführungsformen auch aus dem allgemeinen Fachwissen – unter Umständen zusammen mit dem ausdrücklich in der Beschreibung angegebenen Weg – ergeben. Insofern mag die Offenbarung eines Weges ausreichen, allerdings eben nur unter der Bedingung, dass dieser eine Weg auch – zusammen mit dem allgemeinen Fachwissen – den gesamten beanspruchten Bereich abdeckt. Die Erfüllung des Erfordernisses der Ausführbarkeit setzt somit voraus, dass die Anmeldung bzw. das Patent in deutlicher und vollständiger Weise zumindest einen Weg aufzeigt, mittels dem die Fachperson die beanspruchte Erfindung über den gesamten beanspruchten Bereich ausführen kann (siehe Orientierungssatz).
Ex-parte-Fall T 553/23 betraf die Lokalisierung von Objekten in einem Laderaum eines Transportfahrzeugs mittels einer optischen Positionserkennung. Die Anmeldung wurde von der Prüfungsabteilung im Wesentlichen zurückgewiesen, weil keiner der Anträge die Erfordernisse der Ausführbarkeit erfüllte. Bezüglich der Prüfung des Hauptantrags (nicht gewährbar), erinnerte die Kammer zunächst daran, dass Art. 83 EPÜ nicht erfüllt sei, wenn eine im Anspruch ausgedrückte Wirkung nicht reproduziert werden könne. Die Prüfungsabteilung habe die Ausführbarkeit der beanspruchten Lehre auf Grund der Problematik eines verdeckten Sichtfelds für die optische Positionsbestimmung zurecht in Frage gestellt. Im Hilfsantrag (gewährbar) ging es um nebeneinander angeordnete Objekte, nicht mehr um nur ein transportiertes Objekt oder um den problematischen mehrlagigen Fall. Es könne (anders als beim mehrlagigen Fall mit übereinandergestapelten Objekten) nicht pauschal angenommen werden, dass die beanspruchte Lehre nicht ausführbar sei. Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist nicht erforderlich, dass eine Reproduktion in jeder denkbaren theoretischen Konstellation gelingt. "In einem Anspruch wird allgemein versucht, eine Vorrichtung unter Idealbedingungen zu definieren. Kann sich die Fachperson unter Berücksichtigung der Offenbarung und des allgemeinen Fachwissens erschließen, was funktioniert und was nicht, ist eine beanspruchte Erfindung hinreichend offenbart, auch wenn eine breite Auslegung einen Gegenstand einschließen könnte, der nicht funktioniert. Im vorliegenden Fall ist die Fachperson in der Lage, Situationen direkt zu erkennen und auszuschließen, die offenkundig die angestrebte Wirkung nicht erzielen (etwa aufgrund einer verdeckten Sicht) und darauf durch eine angepasste Positionsbestimmungsvorrichtung zu reagieren. Die Kammer hat keine Zweifel daran, dass die Fachperson im Rahmen ihres allgemeinen Fachwissens das funktionale Merkmal einer optischen Positionsbestimmungsvorrichtung den Größenverhältnissen der zu transportierenden Objekte anpassen würde", so die Kammer in ihrem Orientierungssatz (s. auch Punkt 3.5 der Gründe).
Allgemein definieren Patentansprüche gemäß Art. 84 EPÜ in Kombination mit Regeln 43(1) und 43(3) EPÜ nur die wesentlichen Merkmale der Erfindung. Es ist ein Leichtes, zu jedem derart formulierten Patentanspruch Ausführungsformen zu finden, die zwar unter den Anspruch fallen, jedoch aus verschiedenen Gründen nicht verwirklicht werden können. Solange die Fachperson dies erkennt, und weiß, wie sie stattdessen zu funktionierenden erfindungsgemäßen Ausführungsformen gelangt, ist dies unschädlich (s. G 1/03, Nr. 2.5.2 der Gründe). Es kann nicht verlangt werden, dass ein Patentanspruch jede denkbare, unter den Anspruchswortlaut fallende Ausführungsform, die für die Fachperson erkennbar nicht funktioniert, explizit vom Anspruchswortlaut ausschließt (T 1857/20, Nr. 9.3 der Gründe).
In T 2374/13 kam die Kammer – im Gegensatz zu den Feststellungen in T 292/85 (Nr. 3.1.5 der Gründe) und T 435/91 (Nr. 2.2.2 der Gründe) – zu dem Schluss, dass der Fachperson durch die Offenbarung der Anmeldung oder das allgemeine Fachwissen keine geeigneten Varianten bekannt waren. Mangels Kriterien, wie die Ähnlichkeit mit Rezeptorstellen zu bestimmen ist oder wie geeignete funktionalisierte Monomere auszuwählen sind, war die Fachperson der Kammer zufolge nicht in der Lage, zwischen funktionierenden und nicht funktionierenden Ausführungsformen zu unterscheiden (s. T 731/00, Nr. 3 der Gründe) oder gelegentliche Fehlschläge im Rahmen des Zumutbaren zum Erfolg zu wenden (T 931/91, Nr. 3.2 der Gründe und T 14/83, Nr. 6 der Gründe).