5.4. Ausführung der Erfindung im gesamten beanspruchten Bereich
Die Offenbarung einer Erfindung betreffend ein Stoffgemisch, bei dem eine seiner Komponenten durch die erfindungsgemäße Funktion definiert wird, ist nicht ausreichend, wenn das Patent nur Einzelbeispiele angibt, nicht aber eine gegebenenfalls unter Berücksichtigung des einschlägigen allgemeinen Fachwissens verallgemeinerungsfähige technische Lehre, die die Fachperson in die Lage versetzen würde, das angestrebte Ergebnis im gesamten Bereich des die "funktionelle" Definition enthaltenden Anspruchs ohne unzumutbaren Aufwand zu erreichen. Dabei ist in jedem Fall anhand des vorliegenden Sachverhalts zu entscheiden (T 435/91 ABl. 1995, 188, Leitsatz und Nr. 2.2.1 der Gründe). Der Kammer zufolge gibt es keine einheitliche Antwort auf die Frage, wie viele Einzelheiten in einer Patentschrift notwendig sind, damit ihre praktische Umsetzung im gesamten, umfassenden Anspruchsbereich gewährleistet ist, da hierüber nur nach Sachlage des jeweiligen Einzelfalls entschieden werden kann.
Entscheidung T 435/91 (ABl. 1995, 188) betraf einen Anspruch, dessen Stoffgemisch eine Komponente umfasste, die nur durch ihre Funktion definiert wurde; eines der wesentlichen technischen Merkmale von Anspruch 1, das "Additiv", wurde nur durch seine Funktion definiert. Deshalb musste geprüft werden, ob die vorliegende Patentschrift nur eine einzige Ausführungsart oder aber eine verallgemeinerungsfähige technische Lehre offenbart, die der Fachperson das ganze Variantenspektrum, das unter die "funktionelle" Definition des betreffenden Anspruchs fällt, zugänglich macht (s. Nr. 2.2.1 der Gründe).
Wie in T 292/85 (ABl. 1989, 275) dargelegt, ist die Notwendigkeit eines angemessenen Schutzes sowohl für die Überlegungen zum Umfang der Ansprüche als auch für die Anforderungen an eine ausreichende Offenbarung maßgeblich. Wenn mit den Ansprüchen nicht auch Varianten von Komponenten erfasst werden dürften, die jetzt oder zu einem späteren Zeitpunkt genauso gut geeignet sind, dieselbe Wirkung in einer Weise zu erzielen, wie sie ohne die Erfindung nicht denkbar gewesen wäre, dann wäre der Patentschutz wirkungslos. Die Kammer war daher der Auffassung, dass eine Erfindung dann ausreichend offenbart ist, wenn sie der Fachperson mindestens einen Weg zu ihrer Ausführung eindeutig aufzeigt. Somit ist es für die ausreichende Offenbarung unerheblich, ob bestimmte Varianten eines funktionell definierten Merkmals der Erfindung verfügbar sind oder nicht, solange der Fachperson aufgrund der Offenbarung oder ihres allgemeinen Fachwissens geeignete Varianten bekannt sind, die für die Erfindung dieselbe Wirkung haben. Die Offenbarung braucht keine besonderen Hinweise darauf zu enthalten, wie alle denkbaren Varianten der Komponenten, die unter die funktionelle Definition fallen, zu erzielen sind (T 292/85, Nr. 3.1.5 der Gründe).
In Hinblick auf Varianten wird T 292/85 beispielsweise von folgenden Entscheidungen zitiert und aufgegriffen: T 81/87 (ABl. 1990, 250), T 301/87 (ABl. 1990, 335, Nr. 4.3 der Gründe) und T 212/88 (ABl. 1992, 28, Nr. 3.3 der Gründe) mit Verweis auf T 281/86, T 238/88 (ABl. 1992, 709, Nr. 4.1 der Gründe), T 60/89 (ABl. 1992, 268 – hier erlaubte das allgemeine Fachwissen kein Auffinden von Varianten), T 19/90 (ABl. 1990, 476), T 740/90, T 456/91, T 242/92, T 1173/00 (ABl. 2004, 16), T 986/21.
Der Einsprechende berief sich auf die Entscheidung T 292/85 zur Stützung seiner Argumente zur unzureichenden Offenbarung; der Kammer in T 740/90 zufolge betraf die Entscheidung T 292/85 eine Erfindung, bei der einige Varianten eines funktionell definierten Merkmals einer Erfindungskomponente nicht verfügbar und andere, nicht näher bezeichnete Varianten unbrauchbar waren. Die Beschwerdekammer sah die Erfindung als ausreichend offenbart an, solange der Fachperson aufgrund der Offenbarung oder ihres allgemeinen Fachwissens geeignete Varianten bekannt sind, die für die Erfindung dieselbe Wirkung haben. Gleichzeitig wies die Kammer in T 292/85 darauf hin, dass die Offenbarung keine besonderen Hinweise darauf zu enthalten braucht, wie alle denkbaren Merkmalsvarianten, die unter die funktionelle Definition fallen, zu erzielen sind.
Im Fall T 206/83 (ABl. 1987, 5) befand die Kammer die Offenbarung eines Verfahrens, mit dem man nur zu einigen Mitgliedern der beanspruchten Klasse chemischer Verbindungen gelangen konnte, für nicht ausreichend im Sinne von Art. 83 EPÜ (Entscheidung aufgegriffen in T 409/91).
Die Beschreibung der Erfindung gilt als ausreichend offenbart, wenn die Fachperson im Wesentlichen alle unter den Umfang der Ansprüche fallenden Ausführungsarten nacharbeiten kann (T 409/91).
Die Kriterien zur Bestimmung, ob die Erfindung ausreichend deutlich und vollständig offenbart ist, sind für alle Erfindungen dieselben, unabhängig davon, wie diese definiert sind; es ist daher unerheblich, ob es sich dabei um eine Definition durch ein funktionelles Merkmal handelt (T 435/91, ABl. 1995, 188, Nr. 2.2.1 der Gründe; T 1121/03, Nr. 3.1 der Gründe; T 2172/15; weitere Verweise in jüngeren Entscheidungen, z. B. in T 1311/22, die ebenfalls nochmals auf die Bestimmungen für funktionelle Merkmale hinweist, darunter die Kombination verschiedener Aspekte insbesondere durch Verweis auf das Thema von Kapitel II.A.3.5).
Die Besonderheit der funktionellen Definition eines technischen Merkmals besteht darin, dass es durch seine Wirkung definiert wird. Eine solche Definition bezieht sich ganz abstrakt auf eine unbestimmte Vielzahl möglicher Alternativen und ist solange zulässig, wie alle Alternativen der Fachperson zur Verfügung stehen und das gewünschte Ergebnis liefern; deshalb muss geprüft werden, ob das Patent eine verallgemeinerungsfähige technische Lehre offenbart, die der Fachperson das ganze Variantenspektrum, das unter die funktionelle Definition fällt, zugänglich macht (T 1121/03 (keine verallgemeinerungsfähige technische Lehre – unzumutbarer Aufwand bei der Nacharbeitung der Erfindung im gesamten beanspruchten Bereich – Forschungsprogramm); T 369/05; T 671/05 (zahlreiche Überlegungen zum Nutzen funktioneller Merkmale); T 2128/13; T 552/22 (mit einer Zusammenfassung der Rechtsprechung zu funktionellen Merkmalen); T 1311/22 (zudem Verweis auf den technischen Beitrag)).
Eine funktionelle Definition ist solange zulässig, wie alle Alternativen der Fachperson zur Verfügung stehen und das angestrebte Ergebnis liefern. Bei funktionellen Definitionen eines technischen Merkmals muss geprüft werden, ob das Patent eine verallgemeinerungsfähige technische Lehre offenbart, die der Fachperson das ganze Variantenspektrum, das unter die funktionelle Definition fällt, zugänglich macht (T 552/22).
Die Offenbarung eines Wegs zur Ausführung einer Erfindung ist nur dann ausreichend, wenn die Erfindung im Wesentlichen über den gesamten beanspruchten Bereich nachgearbeitet werden kann. Anders ausgedrückt, setzt die ausreichende Offenbarung voraus, dass die Fachperson im Wesentlichen alle in den Bereich eines Anspruchs fallenden Ausführungsformen erhalten können muss. Dieser Grundsatz gilt bei allen, wie auch immer – sei es funktionell oder nicht – definierten Erfindungen (T 2172/15). In T 2172/15 lag – entgegen der Auffassung des Beschwerdegegners (Patentinhabers) – keine verallgemeinerungsfähige Lehre vor.
Im Hinblick auf ein funktionell, also durch sein Ergebnis definiertes Verfahren entschied die Kammer in T 1051/09, dass eine verallgemeinerbare Lehre fehle, d. h. eine Lehre, die innerhalb des Schutzumfangs der Ansprüche anwendbar sei und über die konkreten Beispiele hinausgehe.
Die Kammer in T 2038/19 (wasserabsorbierende Harzpartikel) befand unter ausdrücklichem Verweis auf die Grundsätze in T 435/91 (funktionelle Definition einer Komponente), dass nach ständiger Rechtsprechung immer derselbe Grundsatz anzuwenden ist, ob der Anspruch nun eine parametrische Definition enthält oder der Gegenstand sich nicht ausschließlich über strukturelle Merkmale definieren lässt.
Der Kammer in T 500/20 zufolge genügt bei beanspruchten Erfindungen, in denen es nicht um einen Bereich von Parameterwerten oder Zusammensetzungen geht, sondern die auf eine anhand grundsätzlicher struktureller oder funktioneller Merkmale einer Vorrichtung bzw. eines Verfahrens definierte Lehre gerichtet sind, nicht der Beweis, dass ein unter den Anspruch fallendes Beispiel nicht funktioniert, weil es die beanspruchte Wirkung nicht oder nicht vollständig erzielt, um der Erfindung die ausreichende Offenbarung über die gesamte Breite des Anspruchs abzusprechen.
Die bloße Tatsache, dass ein Anspruch weit gefasst ist, ist an sich noch kein Grund, die Erfindung nicht als ausreichend offenbart zu betrachten (T 19/90, ABl. 1990, 476, Nr. 3.3 der Gründe; s. auch z. B. T 2224/08, T 447/22).
Da die Definition der Bestandteile a) bis c) in T 817/11 (Beschichtungszusammensetzungen mit verbesserter Kratzfestigkeit) sehr weit gefasst war, umfasste der im erteilten Anspruch 1 definierte Gegenstand eine große Vielzahl möglicher Kombinationen. Dass alle möglichen Kombinationen der Bestandteile a) bis c) gemäß erteiltem Anspruch 1 in beliebiger Menge zwingend zu höherer Kratzfestigkeit führen sollten, war weder glaubhaft noch jemals im Verfahren geltend gemacht worden – im Verfahrensverlauf stimmte selbst der Beschwerdeführer (Patentinhaber) zu, dass dies nicht der Fall war. Daher galt es zu beurteilen, ob das Streitpatent eine verallgemeinerungsfähige Lehre offenbarte, die der Fachperson die spezifischen Kombinationen (aus den zahlreichen vom Gegenstand des Anspruchs 1 umfassten Möglichkeiten) an die Hand gab, die tatsächlich für höhere Kratzfestigkeit sorgten. In anderen Worten wurde geprüft, ob die Fachperson hinreichend Hinweise für eine zielführende Auswahl der Bestandteile a) bis c) erhielt, um bei guten Erfolgschancen eine Beschichtungszusammensetzung mit verbesserter Kratzfestigkeit herzustellen. Angesichts des weit gefassten Umfangs des beanspruchten Gegenstands genügte es nicht, dass das Patent mindestens einen Weg zur Ausführung der Erfindung angab oder einige Kombinationen die erforderliche Oberflächenverbesserung erzielten. Der Fachperson, die eine Beschichtung gemäß erteiltem Anspruch 1 herstellen will, wurde der Kammer zufolge die Aufgabe der Durchführung eines umfassenden Forschungsprogramms zugemutet, um herauszufinden, welche Kombination aus a) filmbildenden Materialien, b) Partikeln und c) oberflächenaktiven Stoffen und welche Herstellungsbedingungen zu verwenden sind. Das Urteil der Kammer steht in Einklang mit z. B. T 1121/03 und T 369/05, da das Patent keine über den gesamten Bereich der Ansprüche verallgemeinerungsfähige technische Lehre offenbarte.
In T 1638/11 stellten die Beschwerdegegner (Einsprechenden) die ausreichende Offenbarung ebenfalls aufgrund des angeblich übermäßig weit gefassten Anspruchs infrage, wodurch die Beschreibung des Streitpatents keine verallgemeinerungsfähige technische Lehre enthalte. Daher sei die funktionelle Definition in Anspruch 1 wie in den Entscheidungen T 1121/03 und T 369/05 eine reine Aufforderung zur Durchführung eines Forschungsprogramms. Dem stimmte die Kammer nicht zu: T 1121/03 und T 369/05 waren ihr zufolge nicht anzuwenden. Die technische Lehre ging aus zahlreichen möglichen Alternativen hervor, was ihr verallgemeinerungsfähigen Charakter verlieh, den sie im Übrigen bereits nur auf der Grundlage der strukturellen Merkmale von Anspruch 1 erhielt. Die Mehrdeutigkeit des funktionellen Merkmals war der Kammer nach vielmehr eine Frage von Art. 84 EPÜ.
Zur Stützung breiter Ansprüche können nähere technische Angaben und mehr als ein Beispiel notwendig sein (T 612/92, T 694/92, ABl. 1997, 408; T 187/93). Dies muss von Fall zu Fall entschieden werden. In T 694/92 urteilte die Kammer, dass zur Stützung breit gefasster Ansprüche mehr als ein Beispiel notwendig sein kann, falls der Kern der beanspruchten Erfindung in der Erzielung einer bestimmten technischen Wirkung in verschiedenen Anwendungsbereichen mittels bekannter Techniken besteht (Zusammenfassung des Beitrags von T 694/92 in T 354/97). Siehe auch die zu Beginn dieses Kapitels II.C.5.4 a) zitierte Entscheidung T 435/91.
Im Fall T 596/11 waren in Anbetracht des breit gefassten Anspruchs für eine ausreichende Offenbarung der beanspruchten Erfindung mehr technische Angaben und mehr als ein Beispiel notwendig. Die Entscheidungen T 792/00 und T 617/07 stellten klar, dass eine Erfindung nur dann im Sinne von Art. 83 EPÜ ausreichend offenbart ist, wenn die Fachperson vernünftigerweise erwarten kann, dass sich im Wesentlichen alle unter die beanspruchte Erfindung fallenden Ausführungsformen, die die Fachperson ausgehend von der entsprechenden Offenbarung und ihrem einschlägigen allgemeinen Fachwissen in Betracht ziehen würde, verwirklichen lassen. Dies traf vorliegend nicht zu. Weder das Argument, dass die Fachperson die in der Anmeldung enthaltenen Angaben durch ihr allgemeines Fachwissen ergänzen würde, noch der Verweis auf die Entscheidungen T 206/83, T 32/85, T 51/87, T 212/88, T 580/88, T 772/89, T 231/92 und T 818/97 konnten überzeugen. All diese Entscheidungen beziehen sich auf das ohne Weiteres verfügbare allgemeine Fachwissen oder Fälle, in denen das Streitpatent auf Dokumente mit den notwendigen Angaben oder entsprechenden Verweisen darauf verweist. Dies war in der vorliegenden Patentschrift nicht der Fall. Darüber hinaus geht aus besagten Entscheidungen hervor, dass der Fachperson kein unzumutbarer Aufwand entstehen darf. Die Kammer urteilte, dass im vorliegenden Fall nicht vernünftigerweise erwartet werden konnte, dass sich die breit beanspruchten mineralischen Materialien zweckmäßig in einer beliebigen sauren wässrigen Lösung lösen, zumindest nicht innerhalb angemessener Zeit oder in ausreichender Menge. Der Schritt des Lösens eines teilchenförmigen mineralischen Materials in einer sauren wässrigen Lösung war zentraler Bestandteil der Erfindung.