7.2.3 Nachweis der therapeutischen Wirkung
Auch wenn sich die Große Beschwerdekammer in G 2/21 (ABl. 2023, A85) hauptsächlich mit der erfinderischen Tätigkeit befasst, wird das Recht darin ausführlich dargelegt. So heißt es insbesondere, dass der Begriff "Plausibilität", der in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern zu finden ist, kein eigener Rechtsbegriff und kein spezifisches Patentrechtserfordernis nach dem EPÜ ist (Nr. 92 der Gründe). Zudem dürfen Beweismittel, die von einem Patentanmelder oder -inhaber zum Nachweis einer technischen Wirkung vorlegt werden und auf die er sich für die Anerkennung erfinderischer Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands beruft, nicht allein deshalb unberücksichtigt bleiben, dass diese Beweismittel, auf denen die Wirkung beruht, vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht öffentlich zugänglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden (Nrn. 56 und 91 der Gründe, die insbesondere die erfinderische Tätigkeit betreffen; s. auch die allgemeinere Schlussfolgerung in Nr. 90) – siehe auch dieses Kapitel II.C.6.8. Diese Entscheidung stellt die bisherige Rechtsprechung nicht grundsätzlich in Frage (s. auch Nrn. 75 und 76 sowie Nr. 72 der Gründe) und überlässt die Beurteilung im Einzelfall weitgehend den Kammern, wobei jedoch ein Rahmen vorgegeben wird; vgl. auch Nr. 43 der Gründe in Bezug auf nachveröffentlichte Beweise, die prima facie nicht relevant sind, Feststellungen der Großen Kammer zur erfinderischen Tätigkeit.
Die Rechtsprechung seit G 2/21 bezieht sich grundsätzlich nicht mehr auf das Konzept der Plausibilität, sondern verweist auf G 2/21, wo die Maßstäbe für die Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung nachveröffentlichter Beweismittel einer therapeutischen Wirkung festgelegt sind.
Aus der späteren Rechtsprechung, die in Fragen der Prüfung der ausreichenden Offenbarung auf G 2/21 Bezug nehmen, sind folgende Beispiele zu nennen (Schlüsselpunkte in Klammern): T 209/22 (Glaubhaftigkeit durch ein nachveröffentlichtes Dokument weiter untermauert); T 1057/22 (nachveröffentlichtes Beweismittel D27 ergänzte lediglich die in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung enthaltenen Informationen – D27 war nicht notwendig, um die beanspruchten therapeutischen Wirkungen als glaubwürdig zu betrachten, sondern unterstützte diese Schlussfolgerung lediglich); T 2735/19 (Glaubwürdigkeit anerkannt, nachveröffentlichtes Beweismittel D11 berücksichtigt und glaubhafte therapeutische Verwendung bestätigt); T 1796/22 (D1 enthielt experimentelle Nachweise, die die Berücksichtigung des nachveröffentlichten Dokuments D41, das die Wirkung bestätigte, zuließen).
Die Kammer in T 2037/22 (Nachweis einer beanspruchten technischen Wirkung, die keine therapeutische Wirkung ist) unterstrich, dass G 2/21 ausschließlich die Rechtsprechung zu beanspruchten therapeutischen Wirkungen betraf.
Erinnerung an die Formulierungen der Rechtsprechung vor G 2/21 – Bezugnahme auf die Plausibilität – Konsequenzen der Plausibilität für die Berücksichtigung nachveröffentlichter Dokumente (post-published documents).
In T 184/16 erinnert die Kammer daran, dass nur dann nachträglich veröffentlichte Beweisstücke berücksichtigt werden können, um eine bestimmte Wirkung aufzuzeigen, wenn es bereits am Anmeldetag plausibel war, dass die besagte Wirkung erzielt wird (s. T 488/16, T 1329/04 und T 433/05). Beispiele für Fälle, in denen die Plausibilität anerkannt wurde und nachträglich veröffentlichte Beweisstücke berücksichtigt wurden, sind Fälle, in denen es prima facie keine ernsthaften Zweifel an der Plausibilität gab (T 108/09, T 1760/11 vom 13. November 2012 date: 2012-11-13, T 919/15; in T 1329/04 bestanden dagegen prima facie ernsthafte Zweifel). Im vorliegenden Fall enthielt die Anmeldung in der eingereichten Fassung keine Versuchsergebnisse zur strittigen Plausibilität, d. h. zur Plausibilität, dass es sich bei den beanspruchten Verbindungen um SGLT2-Inhibitoren handelt. Es war daher notwendig festzustellen, ob die Plausibilität vor dem Hintergrund des allgemeinen Fachwissens und des Stands der Technik anerkannt werden konnte. Die Kammer hielt es für plausibel, dass die therapeutische Wirkung tatsächlich erzielt wird. Das nachträglich veröffentlichte Beweisstück D4 (vom Beschwerdegegner/Patentinhaber eingereichte Vergleichsbeispiele) kann zur Stützung der Offenbarung in der Patentanmeldung berücksichtigt werden. Die Tatsache, dass eine SGLT1-Inhibierung ebenfalls zu dieser Wirkung beitragen könnte, dies in D4 aber nicht getestet wurde, sei nicht relevant. Da der Beschwerdeführer (Einsprechende) zudem die Beweislast für seine Behauptung trage, könne die Kammer mangels solcher Beweise nicht schließen, dass Verbindungen mit großen Substituenten nicht geeignet seien, die in Anspruch 12 definierte therapeutische Wirkung zu erzielen. Das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung galt als erfüllt.
In T 391/18 richtete sich Anspruch 1 des Hauptantrags auf eine Kombination von Wirkstoffen (TMC278 und ein NRTI (Nukleosid- oder Nukleotid-Reverse-Transkriptase-Inhibitor) zur Behandlung der HIV-Infektion bei einmal täglicher Verabreichung. Das Patent enthielt keine Nachweise für Kombinationen von TMC278 mit NRTIs. Die anfängliche Plausibilität konnte – in Anbetracht des allgemeinen Fachwissens – nicht gleichgesetzt werden mit der Erfüllung des Erfordernisses des Art. 83 EPÜ, erlaubte der Kammer jedoch, nachveröffentlichte Beweismittel zu berücksichtigen. Das nachveröffentlichte Dokument D26 (Bericht mit klinischen Tests für die Zulassung) erwies sich dann als nicht ausreichend, um glaubhaft zu machen, dass jede mögliche bei einmal täglicher Verabreichung therapeutisch wirksame Kombination von TMC278 mit NRTIs zur Behandlung von HIV bei einmal täglicher Verabreichung geeignet wäre. Um aus allen unter Anspruch 1 fallenden Möglichkeiten geeignete Kombinationen und ihre entsprechenden Dosen zu ermitteln, wäre ein unzumutbarer Forschungsaufwand erforderlich. Auf dem Gebiet der pharmazeutischen Kombinationen müssen die Wechselwirkungen jeder Arzneimittelkombination geprüft werden, um festzustellen, ob und in welcher Dosis die Kombination therapeutisch wirksam ist. Eine solche Bewertung beinhaltet klinische Studien, die nicht als Routinetests angesehen werden können. Selbst wenn, wie der Beschwerdegegner (Patentinhaber) argumentierte, die Anzahl der NRTIs, die für die einmal tägliche Verabreichung geeignet sind, nicht besonders hoch wäre, würde der Forschungsbedarf weit über das hinausgehen, was als Routinetests angesehen werden kann. Daher bestanden ernsthafte Zweifel, die durch nachprüfbare Fakten untermauert wurden. Der Anspruch 1 des Hilfsantrags 24, der auf die in D26 getestete Kombination beschränkt war, entsprach jedoch Art. 83 EPÜ.
Im Ex-parte-Fall T 2015/20 hielt die Prüfungsabteilung es nicht für plausibel, dass Aclidiniumbromid zur Behandlung von Asthma geeignet sei. Die Anmeldung enthalte nur Versuchsergebnisse zur Behandlung von COPD (chronisch obstruktive Lungenerkrankung), obgleich es Teil des allgemeinen Fachwissens sei, wie in D5 dargelegt, dass COPD und Asthma unterschiedliche Erkrankungen mit unterschiedlichen Mechanismen seien. Die Kammer stellte fest, dass die Angaben in D5 keine Zweifel an der Aussage in der Anmeldung über die Wirksamkeit der Behandlung aufwürfen. Das nachveröffentlichte Dokument D6 warne lediglich, dass die Verwendung von "Duakllir Genuair" bei Asthma nicht offiziell zugelassen sei, was an sich keinen Grund für ernsthafte Zweifel an der beanspruchten Eignung von Aclidinium zur Behandlung von Asthma darstelle. Somit lägen keine ernsthaften Zweifel vor, die den Einwand unzureichender Offenbarung stützen könnten. Weder T 609/02 noch die spätere Rechtsprechung signalisierten eine Abweichung von der ständigen Rechtsprechung, insbesondere hinsichtlich der Voraussetzung für einen Einwand unzureichender Offenbarung, dass ernsthafte Zweifel bestehen müssten. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass im vorliegenden Fall die angegebene Eignung von Aclidinium zur Behandlung von Asthma keiner im Stand der Technik vorherrschenden Meinung entgegensteht. In diesem Zusammenhang erachtete die Kammer die Aussage in der Anmeldung, dass die Behandlung von Atemwegserkrankungen, insbesondere Asthma und COPD, mit Aclidinium bei Verabreichung durch Inhalation in einer Nenndosis von etwa 400 µg am wirksamsten sei, als bedeutsame technische Lehre, die alles andere als eine Aufforderung zur Durchführung eines Forschungsprogramms war und der es prima facie nicht an Plausibilität mangelte. Diese Lehre war als solche falsifizierbar in dem Sinne, dass sie angefochten werden konnte, und wurde daher als Information in Form eines spezifischen technischen Beitrags angesehen, der über eine unzureichende verbale Erklärung hinausgeht. Nachdem die Kammer zu dem Schluss gelangt war, dass keine ernsthaften Zweifel an der angegebenen Eignung bestanden, befand sie, dass der Anmeldung die ausreichende Offenbarung nicht abgesprochen werden konnte. Die Kammer wandte sich der Prüfung der eigentlichen erfinderischen Tätigkeit zu und befasste sich auch hier mit der Frage der Plausibilität.
In der Entscheidung T 966/18, die eine detaillierte technische Begründung enthielt, hielt die Kammer die medizinische Verwendung des Anspruchs 1 aufgrund mehrerer angeführter Dokumente, die das allgemeine Wissen der Fachperson illustrierten, zusammen mit der relevanten Offenbarung des Patents für plausibel. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass die Fachperson durch das nachgewiesene allgemeine Fachwissen auf einen Zusammenhang zwischen der Reduzierung der α-Synuclein-Aggregation und der Behandlung der Lewy-Körper-Krankheit hingewiesen wurde. Nachveröffentlichte Beweismittel wurden ebenfalls berücksichtigt und bestätigten diese Schlussfolgerung.
Zu nachveröffentlichten Dokumenten s. auch dieses Kapitel II.C.6.8.
- T 0867/23
In T 0867/23 the board decided on the basis of the patent as granted (main request). Claim 1 was worded as a purpose-limited product claim in accordance with Art. 54(5) EPC. The treatment of "primary negative symptoms of schizophrenia" was a functional feature of claim 1.
The parties were in dispute regarding whether the application as filed made the claimed therapeutic effect plausible, and whether post-published evidence could be taken into account. The question was whether, on the basis of the evidence contained in the application as filed, cariprazine was demonstrated to have the claimed therapeutic effect on primary negative symptoms of schizophrenia.
In support of its reasoning, the board cited G 2/21 (point 77 of the Reasons), in which the Enlarged Board had explained that, in order to meet the requirement of sufficiency of disclosure, "[…] the proof of a claimed therapeutic effect has to be provided in the application as filed, in particular if, in the absence of experimental data in the application as filed, it would not be credible to the skilled person that the therapeutic effect is achieved. A lack in this respect cannot be remedied by post-published evidence..
In the board's view, this statement of the Enlarged Board did not set a new standard for reliance on post-published evidence in the context of sufficiency of disclosure, i.e. a standard which would depart from the previously cited case law summarised in G 2/21 (as noted in T 979/23). Following G 2/21, a reliance on post-published evidence was not ruled out generally in the context of sufficiency of disclosure for second medical use claims. The reliance on post-published evidence could also not be limited to situations in which it served no useful purpose, i.e. cases in which the effect was already convincingly proven in the application to such an extent that the use of post-published evidence, as a superfluous confirmation of the already proven effect, would be of no relevance. The board explained that, in other words, the scope of reliance on post-published evidence was not zero.
In the case in hand, the board considered that the application as filed contained experimental data reflecting an effect on primary negative symptoms of schizophrenia, and thus disclosed the suitability of cariprazine for the claimed therapeutic indication (see T 609/02). Under these circumstances, the board established that post-published evidence D13 could be taken into account to back up the findings in the application as filed.
The board found that D13 confirmed the findings of the patent, and showed improvements in negative symptoms while excluding indirect effects related to positive, depressive, or EPS (extrapyramidal) symptoms as causal factor. Accordingly, D13 supported the conclusion that cariprazine was effective on primary negative symptoms and refuted the appellants' objection that the improvement could relate to secondary negative symptoms. Therefore, the criteria of sufficiency of disclosure were satisfied.