6. Ausführbarkeit
6.8. Nachveröffentlichte Dokumente
Die ausreichende Offenbarung muss am wirksamen Datum des Patents gegeben sein, während nachveröffentlichte Dokumente (post-published documents) nur unter bestimmten Umständen als Nachweis dafür verwendet werden können, dass die Offenbarung ohne unzumutbaren Aufwand nacharbeitbar ist.
Die Frage der nachveröffentlichten Beweismittel gab in T 116/18 (ABl. 2022, A76) Anlass zur Befassung der Großen Beschwerdekammer (s. Entscheidung G 2/21, ABl. 2023, A85). Die Vorlage betraf im Wesentlichen die Frage der erfinderischen Tätigkeit (Art. 56 EPÜ); der Patentinhaber verwies auf ein nachveröffentlichtes Beweismittel, um darzulegen, dass die Aufgabe gelöst und die angebliche technische Wirkung tatsächlich erreicht werde. Die Kammer definiert dort den Begriff "nachveröffentlichtes Beweismaterial". Die Kammer in T 116/18 ermittelte drei große Rechtsprechungslinien: T 1329/04, T 609/02, T 488/16, T 415/11, T 1791/11 und T 895/13 vom 21. Mai 2015 date: 2015-05-21 (Ab-initio-Plausibilität – die Plausibilität wurde in diesen Entscheidungen letztlich verneint); T 919/15, T 578/06, T 2015/20, T 536/07, T 1437/07, T 266/10, T 863/12, T 184/16 (Ab-initio-Implausibilität – die Plausibilität wurde in diesen Entscheidungen letztlich bejaht); T 31/18, T 2371/13 (keine Rechtsprechungslinie zur Plausibilität).
Die Große Beschwerdekammer in G 2/21 (ABl. 2023, A85) verwies insbesondere in Nrn. 10 und 11 auf die ausdrückliche Feststellung der Kammer in T 116/18, dass der Einspruchsgrund nach Art. 100 b) EPÜ für die Entscheidung über die Beschwerde nicht relevant sei. Aus Sicht der Großen Kammer dürfen die Vorlagefragen daher nicht dahingehend umformuliert werden, dass ein Verweis auf die Frage der ausreichenden Offenbarung und auf Art. 83 EPÜ hinzugefügt wird. Die Große Beschwerdekammer war sich jedoch auch der Rechtsprechung insbesondere zu Ansprüchen auf eine zweite medizinische Verwendung bewusst, in denen das Konzept der "Plausibilität" angewendet wurde; die Große Beschwerdekammer führte die einschlägige Rechtsprechung (Nrn. 73 bis 77 der Gründe) an und stellte fest, dass der Umfang, in dem nachveröffentlichte Beweismittel angezogen werden können, im Fall der ausreichenden Offenbarung (Art. 83 EPÜ) wesentlich enger ist als in dem der erfinderischen Tätigkeit (Art. 56 EPÜ). Die Große Beschwerdekammer stellte fest, dass zur Erfüllung des Erfordernisses, dass die Offenbarung der Erfindung so deutlich und vollständig sein muss, dass eine Fachperson sie ausführen kann, der Nachweis einer beanspruchten therapeutischen Wirkung in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung erbracht werden muss, insbesondere dann, wenn die Erzielung dieser therapeutischen Wirkung ohne Versuchsdaten in der ursprünglich eingereichten Anmeldung für die Fachperson nicht glaubhaft wäre. Ein diesbezüglicher Mangel könne nicht durch nachträglich veröffentlichte Beweismittel behoben werden (Nr. 77 der Gründe).
Dass Versuchsdaten erst nach dem Anmeldetag der vorliegenden Anmeldung veröffentlicht wurden, beeinträchtigte sie nicht in ihrer Eigenschaft als Nachweis physikalischer Phänomene, die unabhängig von einem Veröffentlichungsdatum auftreten (T 416/14). Vergleiche G 2/21, Nr. 91 der Gründe, wonach von einem Patentanmelder oder -inhaber vorgelegte Beweismittel nicht allein aus dem Grund unberücksichtigt bleiben dürfen, dass diese Beweismittel, auf denen die Wirkung beruht, vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht öffentlich zugänglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden.
Obwohl die ausreichende Offenbarung grundsätzlich am Prioritätstag nachgewiesen werden muss, können nachveröffentlichte Dokumente als Nachweis dafür verwendet werden, dass sich die beanspruchte Idee praktisch umsetzen lässt. Dementsprechend entschied die Kammer, die betreffenden Dokumente trotz ihrer verspäteten Einreichung zuzulassen (T 1164/11 in Bezug auf eine Erfindung, die gegen allgemein anerkannte wissenschaftliche Grundsätze verstößt).
In T 2070/13 stellte die Kammer fest, dass D16 – eine Patentschrift – keinerlei Hinweise auf die Bestimmung der Antihaftfähigkeit enthielt; das Dokument wurde im Rahmen des streitigen Patents nachveröffentlicht, und seine Offenbarung hatte daher keine Bedeutung für dessen ausreichende Offenbarung.
Siehe auch T 2037/22 (Nachweis einer beanspruchten technischen Wirkung, die keine therapeutische Wirkung ist).
Siehe auch dieses Kapitel II.C.7.2. "Erforderlicher Umfang der Offenbarung bei einer medizinischen Verwendung – glaubhafte Wirkung". Die Rechtsprechung vor G 2/21 ist der RBK, 10. Aufl. 2022, zu entnehmen.
- T 0867/23
In T 0867/23 the board decided on the basis of the patent as granted (main request). Claim 1 was worded as a purpose-limited product claim in accordance with Art. 54(5) EPC. The treatment of "primary negative symptoms of schizophrenia" was a functional feature of claim 1.
The parties were in dispute regarding whether the application as filed made the claimed therapeutic effect plausible, and whether post-published evidence could be taken into account. The question was whether, on the basis of the evidence contained in the application as filed, cariprazine was demonstrated to have the claimed therapeutic effect on primary negative symptoms of schizophrenia.
In support of its reasoning, the board cited G 2/21 (point 77 of the Reasons), in which the Enlarged Board had explained that, in order to meet the requirement of sufficiency of disclosure, "[…] the proof of a claimed therapeutic effect has to be provided in the application as filed, in particular if, in the absence of experimental data in the application as filed, it would not be credible to the skilled person that the therapeutic effect is achieved. A lack in this respect cannot be remedied by post-published evidence..
In the board's view, this statement of the Enlarged Board did not set a new standard for reliance on post-published evidence in the context of sufficiency of disclosure, i.e. a standard which would depart from the previously cited case law summarised in G 2/21 (as noted in T 979/23). Following G 2/21, a reliance on post-published evidence was not ruled out generally in the context of sufficiency of disclosure for second medical use claims. The reliance on post-published evidence could also not be limited to situations in which it served no useful purpose, i.e. cases in which the effect was already convincingly proven in the application to such an extent that the use of post-published evidence, as a superfluous confirmation of the already proven effect, would be of no relevance. The board explained that, in other words, the scope of reliance on post-published evidence was not zero.
In the case in hand, the board considered that the application as filed contained experimental data reflecting an effect on primary negative symptoms of schizophrenia, and thus disclosed the suitability of cariprazine for the claimed therapeutic indication (see T 609/02). Under these circumstances, the board established that post-published evidence D13 could be taken into account to back up the findings in the application as filed.
The board found that D13 confirmed the findings of the patent, and showed improvements in negative symptoms while excluding indirect effects related to positive, depressive, or EPS (extrapyramidal) symptoms as causal factor. Accordingly, D13 supported the conclusion that cariprazine was effective on primary negative symptoms and refuted the appellants' objection that the improvement could relate to secondary negative symptoms. Therefore, the criteria of sufficiency of disclosure were satisfied.