7.2.3 Nachweis der therapeutischen Wirkung
Ohne die Lösungen in sich in Frage zu stellen, zu denen die zahlreichen, insbesondere in G 2/21 selbst angeführten Entscheidungen der früheren Rechtsprechung geführt haben, wich die Große Beschwerdekammer in G 2/21 jedoch vom Konzept der "Plausibilität" ab. Sie stellte fest, dass der Begriff "Plausibilität", der in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern zu finden ist und auf den sich die vorlegende Kammer beruft (T 116/18 vom 11. Oktober 2021 date: 2021-10-11), kein eigener Rechtsbegriff und kein spezifisches Patentrechtserfordernis nach dem EPÜ ist, insbesondere nicht nach Art. 56 und 83 EPÜ. Er beschreibt vielmehr ein generisches Schlagwort, das in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern, von einigen nationalen Gerichten und von Nutzern des europäischen Patentsystems verwendet wird (Nr. 92 der Gründe).
In der Rechtsprechung vor G 2/21 wurde häufig auf den Begriff "Plausibilität" Bezug genommen und in der Regel festgestellt, dass – damit eine therapeutische Anwendung als hinreichend offenbart akzeptiert wird – die Anmeldung oder das Patent und/oder das allgemeine Fachwissen Informationen liefern müssen, die der Fachperson technisch plausibel darlegen, dass die beanspruchten Verbindungen für die beanspruchte therapeutische Verwendung geeignet sind (T 1599/06 mit Verweis auf T 609/02).
Die Kammer in T 1437/07 (Botulinumtoxin) stellte in Bezug auf eine Neuheitsfrage fest, dass eine Offenbarung in einem Dokument aus dem Stand der Technik nur dann neuheitsschädlich ist, wenn die darin enthaltene Lehre nacharbeitbar ist. Sie vertrat die Auffassung, dass dieses Erfordernis einer ausreichenden Offenbarung dem in Art. 83 EPÜ verankerten Grundsatz entspricht. Die Anforderungen für eine ausreichende Offenbarung seien somit für ein Dokument aus dem Stand der Technik und ein Patent identisch. In diesem Zusammenhang kam die Kammer unter Bezugnahme auf die in T 609/02 (Nr. 9 der Gründe) formulierten Grundsätze zu dem Schluss, dass der Hauptanspruch gegenüber dem älteren Anspruch R21 nicht neu ist. Die Kammer in T 1437/07 befasste sich dann mit einem Einwand im Zusammenhang mit Art. 83 EPÜ für einen Hilfsantrag und erinnerte daran, dass das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung in Bezug auf Ansprüche auf eine zweite medizinische Verwendung als erfüllt gilt, wenn die Fachperson aufgrund der Offenbarung in der Patentschrift oder des allgemeinen Fachwissens in der Lage ist, die anzuwendende Verbindung herzustellen und anzuwenden, und wenn die beabsichtigte therapeutische Wirkung nachweislich erzielt werden kann. Für die Kammer gab es ohne überzeugende Beweise dafür, dass die Wirkung nicht erzielt werden kann, keinen Grund, die tatsächliche Erzielbarkeit der Wirkung zu bezweifeln, nur weil ein Patent eine Wirkung offenbart, die in der Realität nicht erzielt wurde (Nr. 38.1 der Gründe).
Die Kammer in T 899/14 entschied, dass es entgegen der Auffassung des Patentinhabers nicht ausreicht, nur eine zu befolgende Verabreichungsweise zu beschreiben, ohne Beweis von der therapeutischen Wirksamkeit der vorgeschlagenen Behandlung. Der Beschwerdeführer (Patentinhaber) argumentierte nicht, dass es sich um ein allgemeines Fachwissen handle, sondern stützte sich auf die Beispiele. So stellte sich die Frage, ob die in den Beispielen enthaltenen Informationen die angebliche Wirksamkeit glaubwürdig machen oder zumindest ihre anfängliche Plausibilität begründen könnten. Die Kammer stellte ferner fest, dass die Ergebnisse klinischer Tests oder von Tierversuchen zwar nicht immer notwendig seien, um eine ausreichende Offenbarung zu belegen, eine bloße verbale Erklärung in der Anmeldung aber nicht ausreiche, um auch nur die anfängliche Plausibilität eines angeblichen therapeutischen Nutzens festzustellen.
Nach einem Hinweis auf die Grundsätze (Nr. 4.2 der Gründe) befand die Kammer in der Sache T 1959/15, in der der erteilte Anspruch 1 ein als zweckgebundener Erzeugnisanspruch gemäß Art. 54 (5) EPÜ formulierter Anspruch auf eine zweite medizinische Verwendung war, dass im konkreten Fall das Patent neben einer Aufforderung zur Durchführung eines Forschungsprogramms, die einen unzumutbaren Aufwand darstelle, nur für zwei beispielhafte Verbindungen mit der gewünschten Fähigkeit eine Wirkung (auf die Kardiomyopathie) aufweise, wobei diese beiden Verbindungen strukturell sehr ähnlich seien. Es sei daher nicht plausibel, dass sämtliche möglichen (strukturell unterschiedlichen) Verbindungen mit dieser Fähigkeit dieselbe Wirkung haben würden.