1.9. Zwischenverallgemeinerungen
1.9.2 Beispiele für das Erfordernis "kein klar erkennbarer funktioneller oder struktureller Zusammenhang"
In T 25/03 erklärte die Kammer, dass das Herausgreifen isolierter Merkmale aus einer Reihe von ursprünglich in Kombination offenbarten Merkmalen nur dann zu rechtfertigen sei, wenn kein klar erkennbarer funktioneller oder struktureller Zusammenhang zwischen diesen Merkmalen bestehe (s. z. B. T 1067/97). Die Kammer kam zu folgendem Schluss: Da der strittige Anspruch 1 sich daraus ergebe, dass aus der besonderen Kombination (in diesem Fall einer Folge von Schritten), die in der Ausführungsform nach Abbildung 4 als wesentlich für die Erzielung des gewünschten Ergebnisses offenbart wurde, einzelne Schritte herausgegriffen wurden, der Beschwerdeführer sich jedoch nicht auf andere Teile der eingereichten Fassung der Anmeldung bezog, auf welche die vorgeschlagene Änderung hätte gestützt werden können, und auch die Kammer keine hierfür in Betracht kommenden Teile erkennen konnte, erfülle Anspruch 1 in der gemäß dem ersten Hilfsantrag geänderten Fassung nicht die Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ 1973. Ein Gegenbeispiel, in dem die Fachperson nach Ansicht der Kammer zu dem Schluss käme, dass die weggelassenen Merkmale nicht wesentlich für die festgestellten technischen Wirkungen sind, ist T 1601/16 (allerdings ohne Bezug auf das in T 1067/97 genannte Kriterium).
In T 582/91 war der Beschwerdegegner (Einsprechende) der Ansicht, dass bei Beschränkung eines erteilten Anspruchs durch die Einführung von Merkmalen aus abhängigen Ansprüchen alle Merkmale der betreffenden abhängigen Ansprüche in den neuen unabhängigen Anspruch aufgenommen werden müssen. Im Gegensatz dazu argumentierte die Kammer, dass ein einzelnes Merkmal eines abhängigen Anspruchs mit einem vorausgehenden unabhängigen Anspruch leicht kombiniert werden könne, solange für die Fachperson ersichtlich sei, dass eindeutig keine enge funktionale oder strukturelle Beziehung zwischen dem einen Merkmal des abhängigen Anspruchs und dessen übrigen Merkmalen oder zwischen dem einen Merkmal und der Lehre anderer abhängiger Ansprüche, auf die in diesem abhängigen Anspruch verwiesen wird, bestehe (s. auch T 3240/19). Ist dies der Fall, gäbe es keine Einwände nach Art. 123 (2) EPÜ 1973 (s. auch T 938/95).
In den verbundenen Rechtssachen T 1500/07, T 1501/07 und T 1502/07 wandte die Kammer die ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern zu Art. 123 (2) EPÜ auf den Fall des Art. 76 (1) EPÜ 1973 an und betonte Folgendes: Bei einem neu beanspruchten Gegenstand, der darauf beruht, dass ursprünglich in Kombination miteinander (z. B. in einer besonderen Ausführungsform in der Beschreibung) offenbarte Merkmale einzeln herausgegriffen werden, ist das Kriterium, dass dieser Gegenstand von der Fachperson unmittelbar und eindeutig aus der ursprünglichen Offenbarung herleitbar sein muss, dann erfüllt, wenn zwischen den Merkmalen kein klar erkennbarer funktioneller oder struktureller Zusammenhang besteht, d. h., wenn sie nicht untrennbar miteinander verknüpft sind. Entscheidend ist zu bestimmen, welche spezifischen Merkmalskombinationen ursprünglich in der Stammanmeldung offenbart waren und ob die Fachperson aus dem gesamten Offenbarungsgehalt – im Kontext betrachtet und unter Heranziehung seines Fachwissens – sofort und unmissverständlich erkennen kann, dass bestimmte Merkmale, und zwar welche, für das ordnungsgemäße Funktionieren dieser spezifischen Ausführungsformen unerheblich und ohne Folgen für die verbleibenden Merkmale verzichtbar sind. Im vorliegenden Fall waren diese Kriterien nicht erfüllt, weil die hier beanspruchten Merkmale nicht besonders herausgestellt und funktionell wie strukturell mit den übrigen Merkmalen verbunden waren.
Ein weiteres Beispiel für einen klar erkennbaren funktionellen oder strukturellen Zusammenhang zwischen dem oder den isolierten Merkmal(en) und den übrigen Merkmalen einer Gruppe von ursprünglich in Kombination miteinander offenbarten Merkmalen findet sich in T 833/16. In diesem Fall ging es um die beiden Eigenschaften einer Art von magnetischem Signal, das von der in der Anmeldung offenbarten Spule erzeugt wurde. Es war weder explizit noch implizit offenbart, dass das weggelassene Merkmal bloß optional oder bevorzugt war.
In T 886/15 prüfte die Kammer, ob die in bestimmten Abbildungen offenbarten Ausführungsformen für sich genommen eine ausreichende Grundlage für die hinzugefügten Merkmale in Anspruch 1 des Hauptantrags bilden konnten. Die Kammer erinnerte daran, dass die Auswahl bestimmter Merkmale aus einer Gruppe von Merkmalen, die ursprünglich in Kombination miteinander offenbart waren, nach Art. 123 (2) EPÜ zulässig ist, wenn die ausgewählten und weggelassenen Merkmale weder strukturell noch funktionell miteinander verbunden sind. Die Kammer befand, dass im vorliegenden Fall die Zeichnung und der entsprechende Abschnitt der Beschreibung keinen Hinweis auf die aus dem strittigen Merkmal resultierende Wirkung enthielten und daher unmöglich zu erkennen war, ob die oben genannten Bedingungen für die Auswahl eines Merkmals aus seinem Kontext erfüllt waren. Laut Kammer war eine weitere Folge, dass für die Fachperson nicht erkennbar war, welcher Zweck von den ausgewählten Merkmalen im Kontext der Erfindung erfüllt werden sollte. Sie konnten daher nicht als bewusstes Ergebnis der technischen Überlegungen betrachtet werden, die zur Lösung der technischen Aufgabe angestellt wurden (s. auch T 398/00, s. weiter unten in Kapitel II.E.1.13.2 "Schematische Zeichnungen"). In T 2027/18 dagegen erklärte die Kammer, dass der Ansatz von T 398/00 und T 886/15 de facto einen Unterschied macht zwischen in den Zeichnungen enthaltenen Merkmalen, die mit der Lösung der technischen Aufgabe zusammenhängen, und Merkmalen, die dies nicht tun. Sie hielt eine solche Unterscheidung im Zusammenhang mit Art. 123 (2) EPÜ für problematisch, da sie einen Grad an Rechtsunsicherheit mit sich bringt, denn im Laufe des Verfahrens ändert sich die technische Aufgabe oft grundlegend, z. B. wenn ein neuer Stand der Technik zu berücksichtigen ist (s. G 2/98, Nr. 8.3 der Gründe, T 2311/10, T 910/03).
In T 1762/21 erläuterte die Kammer, dass die Fachperson mit einem über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehenden Gegenstand konfrontiert ist, wenn ein geänderter Anspruch nur noch einige Merkmale einer ursprünglich offenbarten Kombination enthält, die Fachperson aber die aus dem Anspruch gestrichenen Merkmale als untrennbar mit den beanspruchten verbunden ansehen würde. Dies ist dann der Fall, wenn die Fachperson die weggefallenen Merkmale als notwendig erachtet hätte, um die mit den zusätzlichen Merkmalen verbundene Wirkung zu erzielen. In dieser Situation lehrt der geänderte Patentanspruch, dass die Wirkung auch nur mit den beanspruchten Merkmalen erzielt werden kann. Dies steht im Widerspruch zur ursprünglichen Offenbarung, wonach die gesamte Merkmalskombination erforderlich ist.