1.9. Zwischenverallgemeinerungen
1.9.1 Grundsätze
Nach der ständigen Rechtsprechung (wie z. B. in T 219/09, T 1944/10 oder T 3069/19 zusammengefasst) ist es in der Regel nicht zulässig, bei der Änderung eines Anspruchs isolierte Merkmale aus einer Reihe von Merkmalen herauszugreifen, die ursprünglich nur in Kombination miteinander (z. B. in einer bestimmten Ausführungsform in der Beschreibung oder in Zeichnungen der ursprünglichen Anmeldung) offenbart waren (T 1067/97, T 714/00, T 25/03, T 2095/12, T 1365/16).
Ein geänderter Gegenstand, der eine Verallgemeinerung einer ursprünglich offenbarten besonderen Ausführungsform ist und zwischen dieser besonderen Ausführungsform und der ursprünglichen, allgemein gefassten Definition der Erfindung liegt, wird häufig als "Zwischenverallgemeinerung" (s. z. B. T 461/05, T 191/04; s. auch T 2311/10) bzw. manchmal auch als "Zwischeneinschränkung" (s. T 461/05, T 879/09, T 2537/10) bezeichnet. In anderen Entscheidungen wird eine "Zwischenverallgemeinerung" als nicht offenbarte – und somit nicht gewährbare – Kombination von ausgewählten Merkmalen verstanden, die irgendwo zwischen einer ursprünglichen breiten Offenbarung und einer beschränkteren spezifischen Offenbarung liegt (T 1408/04). Eine Zwischenverallgemeinerung unterscheidet sich von einer einfachen Verallgemeinerung (wie z. B. in T 910/03, T 404/03) dadurch, dass im ersteren Fall eine allgemein gefasste Definition der Erfindung in der ursprünglichen Offenbarung enthalten ist (T 461/05).
In T 1238/08 stellte die Kammer fest, dass es dem Zweck von Art. 123 (2) EPÜ zuwiderlaufen würde, nicht offenbarte Zwischenverallgemeinerungen allein deshalb zuzulassen, weil die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ohne geeignete Auffangpositionen formuliert wurde.
Eine Zwischenverallgemeinerung ist nur zu rechtfertigen, wenn keinerlei eindeutig erkennbare funktionale oder strukturelle Verbindung zwischen den Merkmalen der spezifischen Kombination besteht (s. z. B. T 1067/97, T 25/03, T 876/05, T 1587/12, T 1561/14, T 2003/14, T 879/18) oder das herausgegriffene Merkmal nicht untrennbar mit diesen Merkmalen verknüpft ist (s. z. B. T 714/00, T 2154/11, T 2287/11, T 775/17). Siehe auch z. B. T 1397/09, T 2172/11, T 2095/12, T 2489/13, T 2313/13, T 1469/15, T 152/16 und T 1365/16, die sich auf beide Kriterien beziehen, s. auch nachstehend die Zusammenfassungen zu T 1500/07 und T 500/11.
In T 962/98 stellte die Kammer fest, dass eine solche vorläufig vorgenommene Verallgemeinerung jedoch nur zulässig sei, wenn die Fachperson aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung zweifelsfrei erkennen könne, dass diese allgemeineren Merkmale nicht in engem Zusammenhang mit den übrigen Merkmalen des Ausführungsbeispiels stünden, sondern sich unmittelbar und eindeutig auf den allgemeineren Kontext bezögen (oft zitiert, s. z. B. T 1144/08, T 313/09, T 879/09, T 2185/10, T 500/11, T 2489/13, T 1002/14, T 978/15). Mit anderen Worten müsse die vorläufig vorgenommene Verallgemeinerung, um zulässig zu sein, das Ergebnis unmissverständlicher Angaben sein, die die Fachperson einer Überprüfung des Beispiels und dem Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung entnehmen würde.
In T 461/05 stellte die Kammer fest, dass der geänderte Anspruch 4 einen Gegenstand definierte, der weniger allgemein war als der durch Anspruch 1 in der ursprünglichen Fassung definierte Gegenstand, aber allgemeiner als die besondere Ausführungsform, die dem in der Beschreibung offenbarten Fall 2a entsprach, und als der Gegenstand des ursprünglich eingereichten Anspruchs 6. Bei der Änderung seien bestimmte Merkmale der Kombination von Merkmalen der besonderen Ausführungsform weggelassen worden. Art. 123 (2) EPÜ 1973 stehe einer derartigen Änderung nur dann entgegen, wenn die Änderung der Fachperson neue Informationen liefere, die nicht unmittelbar und eindeutig aus der Anmeldung in der ursprünglichen Fassung herleitbar seien. Eine Beschränkung eines Anspruchs durch Hinzufügung einer Anzahl von Merkmalen einer ursprünglich offenbarten besonderen Ausführungsform vermittle jedoch nicht per se derartige zusätzliche Informationen. Jedoch würde das Weglassen der übrigen Merkmale aus der Ausführungsform dann neue Information hinzufügen, wenn die weggelassenen Merkmale für die Ausführung der besonderen Ausführungsform der Erfindung notwendig wären. Im vorliegenden Fall sah die Kammer keinen Grund, warum die weggelassenen Merkmale für die Ausführung der Erfindung notwendig gewesen wären. Somit stand der geänderte Anspruch 4 mit Art. 123 (2) EPÜ im Einklang. Siehe auch T 273/10.
In T 1906/11 betonte die Kammer, dass die Einstufung einer Änderung als "Zwischenverallgemeinerung" oder z. B. als "Weglassen eines ursprünglich beanspruchten Merkmals" oder als "Mehrfachauswahl aus zwei Gruppen von alternativen Merkmalen" an sich keine Schlussfolgerungen über die Zulässigkeit dieser Änderung nach Art. 123 (2) EPÜ erlaubt. Gemäß der Entscheidung ist ausschließlich die Frage relevant, ob eine Fachperson, die mit der abgeänderten Fassung der Anmeldung oder des Patents konfrontiert wird, im Vergleich zu einer Fachperson, die nur die ursprünglich offenbarte Fassung zur Kenntnis nehmen würde, der abgeänderten Fassung etwaige zusätzliche technisch relevante Informationen entnimmt. Nur wenn solche zusätzlichen technisch relevanten Informationen erkannt werden können, kann auch ein Verstoß gegen die Bestimmungen des Art. 123 (2) EPÜ vorliegen (zitiert in T 802/13). Gemäß T 248/12 ist der Hinweis in T 1906/11 auf die "technische Relevanz" zusätzlicher Informationen nicht so zu verstehen, dass damit ein neuer Standard für die Beurteilung, ob Änderungen gegen Art. 123 (2) EPÜ verstoßen oder nicht, eingeführt wird, da dies nicht mit dem "Goldstandard" in G 2/10 (ABl. 2012, 376) vereinbar wäre. S. auch T 1791/12, wo die Kammer urteilte, dass in T 1906/11 keine abweichenden Auslegungen der in G 2/10 enthaltenen Grundsätze zur Bewertung von Änderungen erkennbar seien. In T 1471/10 entschied die Kammer, dass als letztgültiger Maßstab für die Beurteilung, ob die Erfordernisse von Art. 123 (2) EPÜ erfüllt sind, im Fall einer Zwischenverallgemeinerung der "Goldstandard" gilt (s. Kapitel II.E.1.3.1; s. auch T 2392/10, T 1791/12, T 1762/21). Diesem Ansatz folgte die Kammer in T 321/23, die feststellte, dass auch im Zusammenhang mit Zwischenverallgemeinerungen die einzelnen für unterschiedliche Änderungsarten entwickelten Tests Hilfestellung bieten, den "Goldstandard" aber nicht ersetzen könnten und nicht zu einem anderen Ergebnis führen sollten.
Nach T 2311/10 ist im Fall einer Zwischenverallgemeinerung der Dreipunkte- oder Wesentlichkeitstest wenig hilfreich, wenn nicht sogar irreführend. Siehe auch T 1840/11, T 2095/12 und T 2489/13. Zum Dreipunkte- oder Wesentlichkeitstest allgemein s. oben in diesem Kapitel II.E.1.4.4. Laut der Kammer in T 9/19 ist der Relevanz- oder Wesentlichkeitsgrad eines Merkmals nicht der relevante Test für die Beurteilung, ob eine Änderung eine unzulässige Erweiterung darstellt.
In T 1387/05 stellte die Kammer fest, dass die gleichen Grundsätze sowohl auf Art. 76 (1) EPÜ als auch auf Art. 123 (2) EPÜ 1973 anzuwenden sind. Daher sei es nach Art. 76 (1) EPÜ 1973 in der Regel nicht zulässig, aus mehreren ursprünglich in einer Stammanmeldung nur in Kombination miteinander offenbarten Merkmalen einzelne herauszugreifen und diese in einer Teilanmeldung isoliert von ihrem Kontext, also der in der Stammanmeldung offenbarten Kombination, zu beanspruchen. S. auch die Zusammenfassung zu den verbundenen Verfahren T 1500/07, T 1501/07 und T 1502/07 unten in Kapitel II.E.1.9.2.
- T 0298/22
In T 298/22 erläuterte die Kammer, dass für die Beurteilung, ob eine Änderung mit den Erfordernissen des Art. 123 (2) EPÜ in Einklang steht, der durch die ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern etablierte sogenannte "Goldstandard" gilt: Jede Änderung darf unabhängig vom Kontext der vorgenommenen Änderung nur im Rahmen dessen erfolgen, was die Fachperson der Gesamtheit der Unterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens – objektiv und bezogen auf den Anmeldetag – unmittelbar und eindeutig entnehmen kann (vgl. RBK, 10. Aufl. 2022, II.E.1.1).
Bei der Kombination der Merkmale (1.6) und (1.7b), stimmte die Kammer der Beschwerdeführerin dahingehend zu, dass das Merkmal (1.6) nur in Verbindung mit dem Ausführungsbeispiel der Figuren 1 bis 11 und somit nur im Zusammenhang mit Merkmal (1.7a) offenbart sei, aber nicht im Zusammenhang mit dem Ausführungsbeispiel der Figuren 12 bis 16 und somit im Zusammenhang mit Merkmal (1.7b). Die Kammer stellte fest, dass, bei der Prüfung nach Art. 123 (2) EPÜ, ob eine Merkmalskombination ursprünglich offenbart sei, der Goldstandard nicht erfordere, dass die Kombination der Merkmale durch den Fachverstand der Fachperson möglicherweise aus der Beschreibung ableitbar sei oder dass sich die Fachperson die beanspruchte Kombination aus möglichen Ausführungen der Offenbarung ableiten könne, sondern dass die Kombination unmittelbar und eindeutig offenbart gewesen sei. Im vorliegenden Fall lag weder eine unmittelbare noch eine eindeutige Offenbarung vor.
Hinsichtlich der Zwischenverallgemeinerung in Merkmal (1.6), erklärte die Kammer, dass in Beachtung des Goldstandards eine "Zwischenverallgemeinerung" (also eine Verallgemeinerung einer ursprünglich offenbarten besonderen Ausführungsform, wobei der Gegenstand der Verallgemeinerung zwischen dieser besonderen Ausführungsform und der ursprünglichen, allgemein gefassten Definition der Erfindung liegt) nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern nur zu rechtfertigen sei, wenn keinerlei eindeutig erkennbare funktionale oder strukturelle Verbindung zwischen den Merkmalen der spezifischen Kombination besteht oder das herausgegriffene Merkmal nicht untrennbar mit diesen Merkmalen verknüpft ist (vgl. RBK, 10. Aufl. 2022, II.E.1.9.1; T 714/00).
Die Beschwerdegegnerin ging auf die funktionale Verknüpfung des Merkmals (1.6) mit anderen Merkmalen des ersten Ausführungsbeispiels ein. Sie argumentierte, dass die anderen in den Figuren gezeigten und in der zugehörigen Beschreibung beschriebenen Merkmale nicht in funktionalem Zusammenhang mit Merkmal (1.6) stünden. Diesbezüglich war die Kammer der Meinung, dass Figur 1 und das entsprechende Ausführungsbeispiel auf den Seiten 8 und 9 der ursprünglich eingereichten Beschreibung viele nicht-optionale Merkmale offenbart hätten, die alle im Zusammenhang mit dem Merkmal (1.6) stünden, da diese Merkmale in Summe zu dem gemäß Merkmal (1.6) zu erreichenden Resultat führten. Folglich stünden die Merkmale des in Figur 1 gezeigten Ausführungsbeispiels mit Merkmal (1.6) in funktionalem Zusammenhang und könnten von Merkmal (1.6) gemäß den durch die Rechtsprechung gestellten Anforderungen nicht getrennt werden. Somit könne Merkmal (1.6) nicht isoliert in den breiteren Zusammenhang des Gegenstandes des (ursprünglichen) Anspruchs 1 gesetzt werden (unerlaubte Zwischenverallgemeinerung).
Die Kammer kam daher zu dem Schluss, dass Anspruch 1 des Hauptantrags und der Hilfsanträge 1 bis 4 nicht die Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ erfüllte.