5. Beweislast und Absicherungen
5.1. Beweislast bei strittiger Zustellung
Bestehen Zweifel hinsichtlich der Zustellung des Schriftstücks, so hat das EPA den Zugang des Schriftstücks und den Tag des Zugangs nachzuweisen (R. 126 (2) EPÜ für durch Postdienste zugestellte Schriftstücke und R. 127 (2) EPÜ für durch Einrichtungen zur elektronischen Übermittlung zugestellte Schriftstücke).
In T 2054/15 erklärte die Kammer mit Verweis auf J 3/14 und J 14/14, dass der Anmelder, der sich auf R. 126 (2) EPÜ beruft, die Tatsachen darlegen muss, die dies rechtfertigen. Die dem EPA obliegende Beweislast kann nicht so verstanden werden, dass die Partei nicht verpflichtet ist, zur Klärung der Umstände in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich beizutragen (z. B. T 247/98, s. Kapitel III.G.5.1 zur Verteilung der Beweislast). Das EPA haftet sowohl für Risiken, die in seiner eigenen Sphäre liegen, als auch für die sog. Transportrisiken, der Empfänger jedoch für solche, die in seinem eigenen Organisations- und Machtbereich liegen (z. B. T 1535/10). Wurde ein Einschreiben an die Adresse des Vertreters zugestellt, obliegt es diesem, nachzuweisen, dass das Schreiben nicht von einer zur Entgegennahme berechtigten Person entgegengenommen wurde oder dass es ihn aus einem anderen Grund tatsächlich nicht erreicht hat.
In T 1535/10 entschied die Kammer, dass die Zurechnung von Hindernissen und Verzögerungen beim Zugang von Entscheidungen, die nach R. 126 (1) EPÜ zuzustellen sind, nach Risikosphären erfolgt: Das EPA hat sowohl die Risiken, die sich in der eigenen Sphäre ergeben, als auch die sog. Transportrisiken zu tragen. Die Kammer unterscheidet davon jedoch die Risiken, die im Organisations- und Machtbereich des Empfängers liegen, z. B. das Risiko, dass Angestellte oder sonst Empfangsbeauftragte den bei der Geschäftsadresse abgegebenen Brief nicht oder nur verzögert weiterleiten. Für die Annahme, dass ein Brief in den Organisations- und Machtbereich des Empfängers gelangt ist, genügt es, dass der Brief dort eingeht und der Empfänger die Möglichkeit der Kenntnisnahme hat, ohne dass es auf den (endgültigen) Besitzerwerb des Briefes und die Kenntnisnahme dessen Inhalts durch den Empfänger ankommt (s. auch T 580/06).
Im Einklang mit der überwiegenden Rechtsprechung der Beschwerdekammern entschied die Juristische Beschwerdekammer in J 14/14, dem Wortlaut von R. 126 (2) EPÜ sei zu entnehmen, dass im Falle eines Zweifels über den Zugang eines Schriftstücks beim Empfänger das EPA Tatsache und Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen hat (s. auch J 3/14). Im vorliegenden Fall lag dem EPA als einziger Nachweis für die Zustellung der betreffenden Mitteilung ein Schreiben der Deutschen Post vor, in dem ein Einschreiben an den Vertreter des Beschwerdeführers genannt war und erklärt wurde, dass dieses an einen Zustellungsbevollmächtigten zugestellt wurde. Dies wurde als unzureichend zur Erfüllung der Erfordernisse der R. 126 (2) EPÜ erachtet, weil kein Nachweis dafür vorlag, dass der Vertreter des Beschwerdeführers oder eine andere namentlich genannte Person eine Empfangsbestätigung für das Schreiben unterzeichnet hatte und keine Mitteilung des ausländischen Postdienstes vorgelegt wurde (s. auch J 9/05 und J 18/05, in denen ein ähnlich lautendes Bestätigungsschreiben der Deutschen Post als unzureichender Nachweis für den Erhalt einer Mitteilung des EPA erachtet worden war, weil der Beschwerdeführer eine beträchtliche Zahl von Gegenbeweisen eingereicht und konkrete Gründe angeführt hatte, aus denen das Schreiben möglicherweise nicht bei der Kanzlei des Vertreters eingegangen war). Siehe auch T 691/16.
In T 1529/20 stimmte die Kammer dem Beschwerdeführer zu, dass ein Beteiligter, der vorbringt, dass etwas nicht geschehen sei, d. h. dass er eine Mitteilung nicht erhalten habe, Schwierigkeiten hätte, das Ausbleiben eines Ereignisses zu beweisen (negativa non sunt probanda, s. auch T 2037/18, R 15/11, R 4/17). Die Vorlage stichhaltiger Beweise dafür, dass ein Schreiben nicht erhalten wurde, ist kaum jemals möglich (s. auch J 9/05). Das Argument des Beschwerdegegners, der Beschwerdeführer sei verpflichtet gewesen, eingehende Postsendungen zu registrieren, jedoch keinen Auszug aus einem solchen Register vorgelegt habe, ist nicht stichhaltig, da es in den Akten keinen Hinweis darauf gibt, dass das EPA seiner Beweispflicht hinsichtlich der Zustellung nachgekommen ist. Unter diesen Umständen musste der Beschwerdeführer nicht die Risiken tragen, die normalerweise in seinen Verantwortungsbereich fallen (T 1535/10), sodass im Zweifel zu seinen Gunsten zu entscheiden war (J 9/05).
In der Sache T 258/19 wurde ein Brief vom Postamt als "Non reclamé" an das EPA zurückgeschickt. In der Akte befand sich jedoch auch eine Empfangsbestätigung, die offenbar vom Vertreter der Beschwerdeführer unterzeichnet worden war. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass angesichts der Rücksendung des Briefes durch das Postamt die Behauptung der Beschwerdeführer, die Unterzeichnung und Rücksendung der Empfangsbestätigung sei ein Missverständnis gewesen, nicht unwahrscheinlich sei. Außerdem trug das EPA die Beweislast dafür, dass das Dokument eingegangen war. Dies bedeutete, dass im Zweifelsfall, wie im vorliegenden Fall, zugunsten des Beschwerdeführers zu entscheiden ist.
In T 529/09 unterschied die Kammer den ihr vorliegenden Fall insofern von J 9/05 und J 18/05, als der Beschwerdeführer keine weiteren Argumente oder Beweismittel dafür eingereicht hatte, dass die Bestätigung der Deutschen Post den tatsächlichen Zugang des Einschreibens nicht bewies. Sie hielt daher die aktenkundigen Beweise für hinreichend zuverlässig und umfassend, um die ordnungsgemäße Zustellung des Schreibens nachzuweisen (s. auch T 1304/07 und T 1934/16).
In T 247/98 stellte die Kammer fest, dass bei der Bestimmung der Bedeutung des Tatbestandmerkmals "im Zweifel" in der deutschen Fassung der R. 126 (2) EPÜ die französische und die englische Fassung dieser Regel zu beachten sind, die einen Streitfall voraussetzen ("en cas de contestation" bzw. "in the event of any dispute"). Ein Zweifel im Sinne dieser Vorschrift wird daher erst begründet, wenn geltend gemacht wird, ein Schriftstück sei tatsächlich später als zehn Tage nach dem Datum der Abgabe zur Post zugegangen. Das bloße Fehlen von Rückschein und Empfangsbescheinigung in der Akte begründet allein noch keinen Zweifel im Sinne dieser Regel.
In T 2210/10 erklärte die Kammer, dass R. 126 (2) EPÜ nicht so ausgelegt werden könne, dass das EPA verpflichtet ist, Nachforschungen anzustellen, sobald eine Partei entgegen den aktenkundigen Beweisen der Ansicht ist, dass die Sendung nicht ordnungsgemäß zugestellt wurde. Vom EPA könne nicht erwartet werden, dass es erschöpfende Nachforschungen anstellt, um den Zeitpunkt der Zustellung selbst zu ermitteln, wenn keine ernsthaften Zweifel bestehen.
In T 691/16 merkte die Kammer bezüglich der Abweichungen der Unterschrift auf dem Zustellungsbescheid an, dass die Zustellung nicht notwendigerweise an den Empfänger selbst, sondern auch an im Haus lebende oder sonst bevollmächtigte Personen erfolgen kann. Das ist die Regel bei Unternehmen. Auch insoweit bestehen keine vernünftigen Zweifel an der von dem Beitretenden behaupteten Empfang der Klageschrift.
Wenn das EPA nicht nachweisen kann, dass ein Dokument zugestellt wurde, wird das betreffende Dokument mit einem neuen Datum neu ausgestellt, sodass die Anwendung der Zustellungsfiktion auf diesem späteren Datum beruht (s. Mitteilung des EPA vom 6. März 2023 über die geänderten R. 126, 127 und 131 EPÜ (ABl. 2023, A29)).