4.2.2 Erste Stufe des Konvergenzansatzes: Änderungen des Vorbringens – Artikel 12 (4) VOBK
(i) Vorbringen, das in der Sache entschieden wurde
In mehreren Entscheidungen befanden die Kammern, dass Anträge und Einwände, über die von der Prüfungs- oder Einspruchsabteilung in der Sache entschieden wurde, der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegen im Sinne von Art. 12 (2) VOBK (s. z. B. T 1186/20 und T 1886/22 zu Hilfsanträgen, die zugelassen aber zurückgewiesen wurden, und T 920/20 zu Einwänden, die in der Entscheidung abgehandelt wurden). In ähnlicher Weise haben die Kammern in T 449/21 und T 2337/16 festgestellt, dass ein Dokument, auf das die Einspruchsabteilung zur Prüfung einer Sachfrage verwiesen hat, die Grundlage der angefochtenen Entscheidung im Sinne von Art. 12 (2) VOBK bildet.
In T 920/20 und T 449/21 wiesen die Kammern aber auch darauf hin, dass nur Vorbringen, das in der Beschwerdebegründung (oder Erwiderung) ausreichend aufgegriffen wurde, gemäß Art. 12 (2) und (4) VOBK von Anfang an Teil des Beschwerdeverfahrens ist.
Dass kein Ermessen nach Art. 12 (2) und (4) VOBK bestand, war allerdings in den Entscheidungen der Kammern nicht immer gleichbedeutend damit, dass eine eingeschränkte Überprüfung der Zulassungsentscheidung ausgeschlossen wäre. In T 1670/21 überprüfte die Kammer die Ermessensentscheidung der Einspruchsabteilung anhand der Kriterien aus G 7/93 (Nr. 2.6 der Gründe, ABl. 1994, 775), bevor sie feststellte, dass der Hauptantrag in der Beschwerde, der dem von der Einspruchsabteilung zugelassenen und gewährten Hilfsantrag 5 entsprach, Teil des Beschwerdeverfahrens sei. Auch in T 852/17, T 110/18 und T 2603/18 z. B. sahen die Kammern lediglich keine Rechtsgrundlage dafür, im Beschwerdeverfahren Anträge oder Beweismittel auszuschließen, die im erstinstanzlichen Verfahren korrekt zugelassen worden waren. Siehe allerdings auch die in T 1193/21 erwähnte Rechtsprechung.
Ausführlich zum Thema "Grundsätze zur Überprüfung erstinstanzlicher Ermessensentscheidungen", siehe Kapitel V.A.3.4.1 und zur damit zusammenhängenden Frage, ob in erster Instanz zugelassenes Vorbringen vom Beschwerdeverfahren ausgeschlossen werden kann, siehe Kapitel V.A.3.4.4.
(ii) Zugelassenes Vorbringen, das nicht in der Sache entschieden wurde
In T 1520/20 z. B. waren (nach Ansicht des Patentinhabers) verspätet eingereichte Druckschriften (D45 bis D48) von der Einspruchsabteilung zugelassen worden (wobei nur zwei davon dann auch inhaltlich herangezogen wurden). Die Kammer befand, dass diese Druckschriften der angefochtenen Entscheidung zugrunde lagen. Da insofern keine Änderung gemäß Art. 12 (2) und (4) VOBK gegeben sei, komme ihr nach diesen Bestimmungen kein Ermessen zu, diese Dokumente unberücksichtigt zu lassen.
Unabhängig vom Vorliegen eines Ermessens nach Art. 12 (2) und (4) VOBK führten die Kammern aber teilweise eine eingeschränkte Überprüfung der Zulassungsentscheidungen der ersten Instanz durch (s. z. B. T 2886/19, T 1520/20, T 1522/21 und T 605/22, in denen geprüft wurde, ob die Einspruchsabteilung ihr Zulassungsermessen nach den richtigen Gesichtspunkten und angemessen ausgeübt hatte; s. auch die Ausführungen dazu im vorherigen Punkt (i) und die dortigen Verweise). In T 1206/19 (betreffend die erstinstanzliche Zulassung einer Entgegenhaltung) sah die Kammer die Möglichkeit der "Rückgängigmachung" der Zulassung ("unadmit") auf Fälle beschränkt, in denen diese Entscheidung mit einem wesentlichen Verfahrensmangel behaftet war.
(iii) Nicht zugelassenes Vorbringen
Den Fall, dass Vorbringen in erster Instanz nicht zugelassen und dann in der Beschwerde erneut vorgebracht wird, regelt Art. 12 (6) Satz 1 VOBK. Siehe dazu Kapitel V.A.4.3.6.
(iv) Einspruchsentscheidung auf Grundlage eines höherrangigen Antrags ergangen
In T 1370/21 stellte die Kammer fest, dass die angefochtene Entscheidung die Zurückweisung des Einspruchs betraf, so dass sie nur auf Basis des Hauptantrags erging. Die Hilfsanträge waren nach Ansicht der Kammer nicht Gegenstand der Entscheidung im Sinne von Art. 12 (2) VOBK. Siehe auch die Entscheidungen T 1800/20 und T 364/20, in denen die Kammern zusätzlich darauf hinweisen, dass die Einspruchsabteilung nicht über die Zulassung des betreffenden Hilfsantrags entschieden hatte.
In T 1135/22 merkte die Kammer (mit Verweis auf T 42/20, T 221/20, T 1800/20, T 364/20) an, dass diese Behandlung sogenannter "carry-over requests" der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung entspricht. Zur Begründung wies sie darauf hin, dass der Passus von Art. 12 (4) Satz 1 VOBK "[...] sofern der Beteiligte nicht zeigt, dass dieser Teil […] in zulässiger Weise vorgebracht und aufrechterhalten wurde" belanglos wäre, wenn allein eine Erwähnung der betreffenden Hilfsanträge im Sachverhalt der angefochtenen Entscheidung die Voraussetzungen des Art. 12 (2) VOBK erfüllen würde. Weitere Beispiele sind T 639/20, T 615/22 und T 246/22.
(v) Streichung von Ansprüchen oder Anspruchsalternativen
In T 1516/20 war der beanspruchte Gegenstand des Hilfsantrags 6, eingereicht mit der Beschwerdebegründung, im Vergleich zu dem der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Hilfsantrag 6 weiter eingeschränkt worden durch die Streichung einer Variante. Die Kammer sah dies als Änderung an, ließ den Antrag jedoch im Rahmen ihres Ermessen gemäß Art. 12 (4) VOBK zu (s. Kapitel V.A.4.3.4).
Ähnlich T 1058/20, unter Verweis auf u. a. T 2920/18 und T 494/18. Siehe auch T 890/21, wo die Frage jedoch letztlich dahingestellt blieb.
Zur Frage, ob die Streichung von Ansprüchen oder Anspruchsalternativen immer eine Änderung des Beschwerdevorbringens darstellt oder nur dann, wenn die Streichung zu einem neuen Vorbringen ("fresh case") führt, siehe auch Kapitel V.A.4.2.3 d), das sich mit dieser Frage im Zusammenhang mit Art. 13 VOBK befasst.
(vi) Neu geordnete Anträge
In T 1520/20 stellte die Kammer hinsichtlich der Zulässigkeit von Hilfsantrag 4 (der dem von der Einspruchsabteilung zugelassenen und gewährten Hilfsantrag 1 entsprach) fest, dieser erfülle das Erfordernis von Art. 12 (2) VOBK und könne daher nicht als Änderung im Sinne von Art. 12 (4) VOBK betrachtet werden. Das Argument der Einsprechenden, die Einreichung höherrangiger Anträge (hier der neuen Hilfsanträge 1 bis 3), welche ihrerseits divergent und unzulässig seien, führe dazu, dass auch Hilfsantrag 4 nicht zulässig sei, hielt die Kammer für nicht überzeugend. Sie vertrat die Auffassung, dass die in der angeführten Entscheidung T 2112/16 gegebene Konstellation erheblich von der vorliegenden Konstellation abwich, in der der streitige Hilfsantrag bereits der erstinstanzlichen Entscheidung zugrunde lag.
Siehe aber auch die Entscheidung T 309/21 (zusammengefasst in Kapitel V.A.4.2.2 c) (vi)), die eine ähnliche Situation betraf mit dem Unterschied jedoch, dass der bereits in erster Instanz eingereichte Antrag der angefochtenen Entscheidung nicht zugrunde lag.
(vii) Erstmals gegen einen anderen Antrag erhobener Einwand
In der Sache T 28/20 ging ein in der Beschwerdebegründung gegen den Hilfsantrag 1 erhobener Einwand zur erfinderischen Tätigkeit von einem nächstliegenden Stand der Technik (D4) aus, der sich von dem im erstinstanzlichen Einspruchsverfahren gegen diesen Antrag herangezogenen nächstliegenden Stand der Technik (D9) unterschied. Die Kammer befand, dass dieser neue Einwand eine Änderung des Vorbringens des Beschwerdeführers im Sinne von Art. 12 (4) VOBK darstellte, da er nicht auf einen Einwand gerichtet war, der der angefochtenen Entscheidung zugrunde lag (Art. 12 (2) VOBK).
In T 19/20 vertrat die Kammer dagegen die Auffassung, dass sich das Vorbringen des Beschwerdeführers nach Art. 123 (3) EPÜ gegen den Hauptantrag (Hilfsantrag 2 im Einspruch) auf einen Einwand bezog, auf den sich die Entscheidung stützte, obwohl aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung und aus der angefochtenen Entscheidung hervorging, dass kein spezifischer Einwand nach Art. 123 (3) EPÜ gegen den damaligen Hilfsantrag 2 erhoben worden war. Die Kammer unterstrich, dass es zwischen den Beteiligten unstrittig war, dass es sich bei dem vorliegenden Einwand nach Art. 123 (3) EPÜ um genau denselben wie den gegen den Hauptantrag des Einspruchsverfahrens erhobenen Einwand handelte. In der Tat standen die Änderungen im Hilfsantrag 2 mit dem Einwand in keinem Zusammenhang.
(viii) Einwand auf der Grundlage eines Dokuments, das bereits Teil des Verfahrens ist, aber mit neuer Argumentation
In T 652/20 erhob der Beschwerdegegner (Einsprechende) in seiner Beschwerdebegründung erstmals den Einwand wegen mangelnder Neuheit gegenüber dem Beispiel 12 von E3 mit dem Argument, dass Chitin (und nicht nur Fibroin, wie zuvor behauptet) ein bestimmtes Merkmal des Gegenstands des erteilten Anspruchs 1 vorwegnehme. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass diese neue, sich auf Chitin stützende Argumentation eine Änderung des Vorbringens des Beschwerdeführers (Einsprechenden) darstellt.
(ix) Neue Darstellung bekannter Beweismittel
Unter den besonderen Umständen der Sache T 489/20 vertrat die Kammer die Auffassung, dass die tabellarische Darstellung in den Dokumenten D30 (in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereicht) und D31 (mit der Beschwerdebegründung eingereicht) lediglich Versuchsergebnisse verdeutlichte, die bereits im Patent selbst enthalten waren, und darüber hinaus lediglich Prozentsätze angab, die anhand dieser Ergebnisse berechnet wurden. Der Inhalt der Dokumente D30 und D31 stellte somit keine neuen Beweise dar, weshalb sich die Kammer nicht veranlasst sah, sie vom Beschwerdeverfahren auszuschließen.
(x) Neue Argumente vs. bloße Weiterentwicklung von Argumenten
In T 73/20 machte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) in der Beschwerdebegründung erstmalig geltend, dass im Stand der Technik ein auf allgemeinem Fachwissen beruhendes technisches Vorurteil gegen die Kombination von D1 und D2 vorliege. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass dieses Argument lediglich eine Weiterentwicklung der im Einspruchsverfahren vorgebrachten Argumente sei. Die Kammer wies jedoch darauf hin, dass in der angefochtenen Entscheidung an keiner Stelle damit argumentiert wurde, dass im Stand der Technik ein solches technisches Vorurteil vorliegt, sondern lediglich mit fehlender Motivation. Siehe auch T 919/22 (Verteidigung auf der Grundlage einer anderen Wirkung und einer anderen zu lösenden Aufgabe).
Zur Definition von Argumenten im Sinne von Art. 12 (2) VOBK siehe auch J 14/19 (zusammengefasst in Kapitel V.A.4.2.3 p) unten). Siehe auch T 250/19, die diesen Ansatz bestätigte, allerdings im Rahmen der Anwendung von Art. 12 (4) VOBK 2007.
- T 0989/23
In T 989/23 auxiliary request 17, filed with the statement of grounds of appeal, had first been filed in the opposition proceedings on the final date set under R. 116 EPC. The opposition division had decided that this auxiliary request was not open for examination as to its admissibility since it had been filed within the set time limit. Auxiliary request 17 was not considered by the opposition division since a higher-ranking auxiliary request was found allowable. The appellant-opponent requested that auxiliary request 17 not be admitted into the appeal proceedings, arguing that the division had misunderstood its discretionary powers.
In view of the line of case law holding that submissions admitted by the opposition division could not be excluded from consideration on appeal (e.g. T 487/16, T 1768/17, T 617/16, T 26/13, T 989/23, T 1568/12, T 2603/18, T 3201/19) the board first addressed the extent of its power of review. It explained that like an opposition division's decision to disregard late-filed submissions, a decision to admit such submissions into the opposition proceedings was a discretionary procedural decision which formed part of the opposition division's final decision on the merits of an opposition. A decision to admit late-filed submissions adversely affected the party contesting their admittance (in view of a possible adverse decision on appeal based on the admitted submissions, T 1549/07). Therefore, a board had the power to review an opposition division's procedural decision to take into consideration submissions filed late in opposition proceedings. Otherwise, the parties' right to a judicial review of an essential part of the opposition division's decision would be denied. Moreover, on appeal, a board would be compelled to accept a legal and factual framework, even if it is based on an erroneous exercise of discretion. As a consequence, requests, facts or evidence that had been admitted into opposition proceedings could be disregarded on appeal if the opposition division's decision suffered from an error in the use of discretion (T 1209/05, T 1652/08, T 1852/11, T 2197/11, T 572/14, T 341/15, T 326/22, T 776/17). The board thus had the power and duty to review the opposition division's decision to admit auxiliary request 17 into the opposition proceedings.
The board held that the filing of requests for amendment of the patent was governed by Art. 123(1) EPC, which gave the opposition division the discretionary power not to admit new requests for amendment (e.g. T 755/96, OJ 2000, 174; T 980/08, T 1178/08, T 966/17, R 6/19, T 256/19, R 11/20). The exercise of this discretion had to take account of the following: In inter-partes proceedings, each party had to be given equal opportunity to present their case and a fair chance to respond to new matter raised by the other party or parties or by the opposition division. Both the opposition division and the parties had to observe the principle of good faith (T 669/90, OJ 1992, 739; T 201/92). To expedite the proceedings and implement the principle of fairness towards the other party or parties, each party had to submit all facts, evidence, arguments and requests for amendments relevant to their case as early and completely as possible (T 326/87, OJ 1992, 522; T 430/89; T 951/91, OJ 1995, 202). This case law had been developed mainly in the context of Art. 114(2) EPC, pertaining to facts and evidence. Nevertheless, in view of the principles set out above, the rationale of this case law also applied to a patent proprietor's requests for amendment of the patent (e.g. T 582/08). Whether amended sets of claims should be considered in opposition proceedings or not did not merely depend on their filing within the time limit under R. 116 EPC, but also on the specific circumstances of the case (see also T 364/20). Consequently, the opposition division erred in denying that it had discretionary power to disregard auxiliary request 17. As a consequence, this procedural decision did not establish that auxiliary request 17 was "admissibly raised" in opposition proceedings.
The board agreed with the opponent that the filing of additional sets of amended claims (including auxiliary request 17) on 23 January 2023 was not a diligent and appropriate reaction to the opponent's submissions filed on 14 April 2022 and reiterated on 2 September 2022, or to the opposition division's communication of 30 May 2022. Since part of the defences submitted by the proprietor was not able to overcome the board’s conclusions on lack of inventive step and a later filed part raised new issues, the board did not admit auxiliary request 17 into the appeal proceedings.