4.2.3 Zweite und dritte Stufe des Konvergenzansatzes: Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten – Artikel 13 (1) und (2) VOBK
In T 2988/18 stellte die Kammer fest, dass die VOBK keine Definition des Begriffs "Argument" enthält. In G 4/92 (ABl. 1994, 149) stellte die Große Beschwerdekammer Argumente Gründen oder Beweismitteln gegenüber und erklärte, Argumente seien "eine Untermauerung der bereits vorgebrachten Tatsachen und Rechtsgründe". Nach Ansicht der Kammer lasse dies die Frage offen, ob das vom Beschwerdeführer vorgebrachte Argument, welches sich auf die Auslegung von Art. 123 (2) EPÜ in G 1/93 (ABl. 1994, 541) durch die Große Beschwerdekammer bezog, auch in den Anwendungsbereich von Art. 13 (2) VOBK falle. Die Kammer erläuterte, dass Argumente, die die Auslegung des Rechts betreffen, generell in jedem Verfahrensstadium zugelassen würden (mit Verweis auf deutsche und englische Rechtsquellen). Dies sei in den Erläuterungen zur VOBK (in der Fassung, die am 1. Januar 2020 in Kraft getreten ist) bestätigt worden, wonach Ausführungen eines Beteiligten, die die Auslegung des Rechts betreffen, nicht als Änderung zu behandeln sind (Zusatzpublikation 2, ABl. 2020, 29). Die Kammer schloss sich dieser Ansicht an. Sie stellte weiter fest, dass das Argument des Beschwerdeführers im Wesentlichen lautete, dass der in Leitsatz 2 von G 1/93 angeführte Grundsatz für den vorliegenden Fall gelte. Eben dies sei gemeint in der angeführten Textstelle der Erläuterungen zur VOBK , denn bei einem Argument zur Auslegung des Rechts gehe es natürlich darum, wie diese Auslegung auf die Fakten des zu entscheidenden Falls angewendet wird. Ein Beispiel, bei dem sich das Vorbringen des Beschwerdeführers auf die Auslegung von Art. 56 EPÜ und insbesondere auf die Rechtsprechung zur Anwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes bezog, findet sich in T 325/16.
In T 482/18 stimmte die Kammer der in T 1914/12 vertretenen Auffassung zu, wonach die Beschwerdekammern bei der Zulassung spät vorgebrachter Argumente, die sich auf bereits im Verfahren befindliche Tatsachen stützen, keinen Ermessensspielraum haben, insoweit zu als Art. 114 (2) EPÜ 1973 (identisch mit Art. 114 (2) EPÜ) keine Grundlage darstelle, um Argumente zurückzuweisen. Die Kammer fasste aber den Begriff "Argument" eng und setzte ihn mit Rechtsausführungen gleich.
In J 14/19 befand die Kammer, auf Grundlage von Art. 114(2) EPÜ könne verspätetes Vorbringen, das ein Tatsachenelement enthält, unberücksichtigt bleiben. Die Kammer erläuterte, dass der Begriff der "Argumente" in Art. 12 (2) VOBK so auszulegen sei, dass das Auslegungsergebnis im Einklang mit Art. 114 (2) EPÜ stehe. Ausführungen eines Beteiligten, die ausschließlich die Auslegung des EPÜ beträfen, enthielten kein Tatsachenelement. Derartige reine Rechtsausführungen fielen nach Ansicht der Kammer daher nicht unter den Begriff der "Argumente" in Art. 12 (2) VOBK. Dieser Begriff beziehe sich vielmehr auf Ausführungen, die sowohl Rechts- als auch Tatsachenelemente enthielten. Dies sei insbesondere bei Fragen der Patentierbarkeit regelmäßig der Fall. Reine Rechtsausführungen bewirkten demnach, so die Kammer, auch keine Änderung im Sinne des Art. 12 (4) VOBK. Im Ergebnis werde dies auch in den erläuternden Bemerkungen zu Art. 12 (4) VOBK bestätigt (CA/3/19, Nr. 54 und Abschnitt VI, Erläuterungen zu Art. 12 (4) VOBK). Dies gelte entsprechend für Art. 13 (1) und (2) VOBK.
In T 1303/18 ließ die Kammer die (erstmals nach Einreichung der Beschwerdebegründung und der Erwiderungen vorgebrachte) Verteidigung des Beschwerdeführers unter Berufung auf den Anspruch auf Teilpriorität nicht zum Verfahren zu gemäß Art. 13 (1) VOBK und Art. 12 (2), (4) VOBK 2007. Sie vertrat die Auffassung, dass die neue Verteidigung, mit der ein Anspruch auf Teilpriorität geltend gemacht wurde, nicht nur ein neues Argument zur Rechtsauslegung darstellte, sondern auch eine neue Tatsachenbehauptung enthielt. Sie hätte nämlich eine neue sachliche Beurteilung des Gegenstands von Anspruch 1 in der erteilten Fassung und in der Prioritätsanmeldung D49 erfordert.
In T 116/18 date: 2023-07-28 (28. Juli 2023) beschloss die Kammer in der mündlichen Verhandlung, das Vorbringen des Beschwerdegegners (Patentinhabers) nicht zuzulassen, wonach der T 873/21 zugrundeliegende Sachverhalt dem im vorliegenden Fall zu prüfenden Sachverhalt entspreche, sodass auf der Grundlage dieser Entscheidung die in D21 nachgewiesene Wirkung herangezogen werden könne. Nach Ansicht der Kammer ist zwischen einer Rechtsauslegung, die sich auf eine frühere Entscheidung der Beschwerdekammern stützt, einerseits, und einer Bezugnahme auf die konkrete tatsächliche und rechtliche Würdigung dieser früheren Entscheidung und der Behauptung, dieser Sachverhalt sei derselbe wie in dem bei der Kammer anhängigen Fall, andererseits, zu unterscheiden. Was die Rechtsauslegung betrifft, haben die Kammern die einschlägige Rechtsprechung von Amts wegen zu prüfen. Im Falle eines Widerspruchs zwischen der Auslegung des EPÜ, der eine Kammer im anhängigen Fall zu folgen beabsichtigt, und der in der früheren Entscheidung angenommenen Auslegung muss die Kammer den Grund für die Abweichung erläutern. Bezüglich der zweiten Art von Vorbringen betonte die Kammer, dass ein solches Vorbringen sowohl eine Tatsachenfeststellung als auch eine rechtliche Würdigung enthält. Bei der Befassung mit einem solchen Vorbringen muss die Kammer den der früheren Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt prüfen und beurteilen, ob er dem der anhängigen Rechtssache zugrunde liegenden Sachverhalt ähnelt. Aus diesen Gründen enthält ein solches Vorbringen eine neue Tatsachenbehauptung und stellte somit eine Änderung des Beschwerdevorbringens des Beschwerdegegners dar.