4.2.3 Zweite und dritte Stufe des Konvergenzansatzes: Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten – Artikel 13 (1) und (2) VOBK
Nach mittlerweile überwiegender Auffassung stellt auch eine unkomplizierte Änderung im Anspruchssatz, wie etwa die Streichung einer gesamten Anspruchskategorie, immer eine Änderung des Beschwerdevorbringens im Sinne von Art. 13 VOBK dar, unabhängig davon, ob sie den faktischen oder rechtlichen Rahmen des Verfahrens verschiebt und damit zu einem "fresh case" führt (siehe z. B. T 1800/21 mit Verweisen auf die Rechtsprechung; für neuere Entscheidungen, s. z. B. T 499/20, T 541/20, T 598/20, T 1058/20, T 321/21, T 953/21, T 42/22, T 1673/22). Jedoch scheint sich eine einheitliche Rechtsprechungslinie dahingehend zu entwickeln, dass in Fällen, in denen durch eine solche unkomplizierte Änderung eine Antragsfassung vorliegt, auf deren Basis das Patent erkennbar aufrechterhalten werden kann, diese Anträge zugelassen werden können, wenn die Änderung den faktischen oder rechtlichen Rahmen des Verfahrens nicht verschiebt, keine Neugewichtung des Verfahrensgegenstandes bedingt und weder dem Grundsatz der Verfahrensökonomie, noch den berechtigten Interessen einer Verfahrenspartei zuwiderläuft (ausführlich erläutert in T 1800/21 mit Verweisen auf die Rechtsprechung, im Anschluss an T 2295/19; zum Zulassungsermessen, siehe ausführlicher Kapitel V.A.4.5.4 j).
Nach Inkrafttreten der überarbeiteten Verfahrensordnung im Jahr 2020 wurde die Frage, ob die Streichung von Ansprüchen (insb. ganzer Anspruchskategorien) eine Änderung des Beschwerdevorbringens im Sinne von Art. 13 VOBK darstellt, zunächst unterschiedlich beantwortet:
In einer ersten Rechtsprechungslinie wurde die Streichung einer Anspruchskategorie, von abhängigen Ansprüchen oder von Alternativen in Ansprüchen nicht als Änderung des Beschwerdevorbringens angesehen, sofern sich durch die Streichung keine neue Sachlage ergab (siehe z. B. T 1480/16, T 2638/16, T 884/18, T 914/18, T 995/18, T 1151/18 und T 1857/19). Dieser Ansatz wurde in T 494/18 und T 2360/17 als "non-applicability approach" (Nichtanwendbarkeitsansatz) bezeichnet. Bei der Prüfung, ob eine Streichung zu einer Änderung führte, berücksichtigten die Kammern in Anwendung des "Nichtanwendbarkeitsansatzes" vielfach, ob die Streichung den faktischen und rechtlichen Rahmen des Sachverhalts oder den Gegenstand der Diskussion ändern (z. B. T 995/18, T 981/17, T 1569/17, T 1792/19, T 1857/19) oder zu einer völligen Neugewichtung des Verfahrensgegenstandes führen würde (z. B. T 2638/16, T 995/18) oder ob sie vielmehr lediglich eine Bereinigung des Verfahrens um einen Streitpunkt zur Folge hätte (vgl. z. B. T 995/18, T 2610/19). Beispiele für Fälle, in denen Streichungen bei Anwendung dieser Tests nicht als Änderung angesehen wurden, finden sich in T 1480/16, T 2638/16, T 995/18 und T 884/18.
Begründet wurde diese Auffassung u. a. damit, dass es nicht sachgerecht erscheine, allein die formale Tatsache der Streichung von Ansprüchen zum Anknüpfungspunkt der rechtlichen Würdigung zu machen und einzig auf dieser Grundlage eine unter Art. 13 (2) VOBK sanktionierbare Änderung des Beschwerdevorbringens anzunehmen, die grundsätzlich unberücksichtigt zu bleiben hätte. Denn nicht die gestrichenen Ansprüche seien Gegenstand des weiteren Verfahrens, sondern die im Antrag verbliebenen und damit zur Entscheidung der Kammer gestellten Schutzansprüche. Die Nichtberücksichtigung solcher Anträge erscheine insbesondere dann problematisch, wenn die verbliebenen Ansprüche schon Gegenstand des Beschwerdeverfahrens waren (Art. 12 (2) und (3) VOBK) und demgemäß bereits im Rahmen des Beschwerdevorbringens der Beteiligten erörtert worden waren (T 2201/19). Siehe auch T 1361/19, wo darauf hingewiesen wurde, dass im vorliegenden Fall alle Argumente und Ausführungen des Beschwerdeführers zum verbliebenen Teil unverändert blieben.
Im Gegensatz dazu sahen die Kammern in einer zweiten Rechtsprechungslinie die Streichung von Ansprüchen oder alternativen Ausführungsformen in Ansprüchen stets als Änderung an und übten somit ihr Ermessen nach Art. 13 VOBK aus (vgl. z. B. T 713/14, T 1224/15, T 2222/15, T 1597/16, T 1439/16, T 853/17, T 1569/17, T 2360/17, T 306/18, T 494/18, T 908/18, T 2091/18, T 2604/18, T 2920/18, T 2964/18, T 84/19, T 355/19, T 482/19, T 2295/19, T 541/20, T 1058/20, T 424/21 und T 1225/21), ließen die Anträge dann aber in den meisten Fällen zu, nicht jedoch z. B. in T 2222/15, T 1569/17, T 2360/17, T 482/19, T 84/19, T 2610/19, T 608/20, und T 1058/20.
Diese Rechtsprechung wird u. a. damit begründet, dass der Begriff "Änderung des Beschwerdevorbringens", der in Art. 13 VOBK nicht näher definiert wird, im Kontext mit anderen Bestimmungen systematisch auszulegen sei. Unter Rückgriff auf Art. 12 (2) und (3) VOBK könne gefolgert werden, dass ein Vorbringen der Beteiligten, welches nicht auf die in der Beschwerdebegründung oder Erwiderung enthaltenen Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente oder Beweismittel gerichtet ist, eine Änderung des Beschwerdevorbringens impliziert. Daher bewirkt nach dieser systematischen Interpretation die Einreichung eines geänderten Anspruchssatzes – auch wenn es sich bei der vorgenommenen Änderung nur um die Streichung von Ansprüchen handelt – eine Änderung der Antragslage im Beschwerdeverfahren (s. z. B. T 2295/19 mit Verweis auf T 247/20, T 2091/18 und J 14/19). Diese auf einer systematischen Auslegung von Art. 12 (2), (3) und 13 VOBK basierende Schlussfolgerung wurde z. B. auch in T 494/18, T 2964/18, T 2920/18, T 355/19, T 1058/20, T 2091/18 und T 2295/19 bestätigt.
In T 2091/18 merkte die Kammer an, die Frage, ob eine Änderung des Beschwerdevorbringens im Sinne von Art. 13 (2) VOBK vorliege, sei von Erwägungen bezüglich des weiteren Verfahrensablaufs zu trennen (bestätigt in T 355/19 und T 541/20). Im gleichen Sinne kritisierte die Kammer in T 494/18, dass der "Nichtanwendbarkeitsansatz" ein Kriterium der Verfahrensökonomie ("Änderung des faktischen oder rechtlichen Rahmens") vorwegnimmt. Siehe auch T 424/21.
In einer überwiegenden Mehrheit von Entscheidungen gehen die Kammern mittlerweile davon aus, dass eine Änderung im Sinne von Art. 13 VOBK vorliegt (siehe insbesondere T 1800/21 mit weiteren Nachweisen, sowie die oben im ersten Absatz zitierten neueren Entscheidungen). Gleichzeitig berücksichtigen die meisten dieser Entscheidungen die Gesichtspunkte, ob die Änderung zu einer geänderten Sachlage bzw. einer Neugewichtung des Verfahrensgegenstandes führt oder nicht, und ob ihre Zulassung demnach den Grundsätzen der Verfahrensökonomie und des fairen Verfahrens vereinbar ist, bei der Entscheidung über die Zulassung der Änderung des Beschwerdevorbringens zum Verfahren. Vor diesem Hintergrund ließ es die Kammer in T 2080/18 dahinstehen, ob der betreffende Hilfsantrag als Änderung des Beschwerdevorbringens anzusehen war (s. auch T 489/20). Ob die Prüfung der "außergewöhnlichen Umstände" im Sinne von Art. 13 (2) VOBK aber einen Spielraum für die Berücksichtigung solcher Erwägungen lässt, wird nicht einheitlich beantwortet. Es scheint sich aber eine einheitliche Rechtsprechungslinie zugunsten dieser Berücksichtigung herauszubilden (siehe T 1800/21 und unten Kapitel V.A.4.5.4 j).
- T 0449/23
In T 449/23, the board rejected the patent proprietor's argument that auxiliary requests 2 to 8 were part of the appeal proceedings from the outset within the meaning of Art. 12 RPBA. These requests had not even been mentioned in their statement of grounds of appeal or their reply (to the opponent's statement of grounds of appeal).
Regarding the interpretation of "any amendment to a party's appeal case" in Art. 13(2) RPBA, the board pointed out that the reference point for determining an "amendment" under Art. 13(2) RPBA was not the same as under Art. 12(4) RPBA.
Art. 12(4) RPBA defined an "amendment", by way of reference to Art. 12(2) RPBA, as any matter departing from the framework of the decision under appeal (i.e. the requests, facts, objections, arguments and evidence underlying the contested decision), unless this matter had been admissibly raised and maintained in the proceedings leading to the decision under appeal. The reference point in Art. 13(1) and (2) RPBA, on the other hand, was the party's complete case as determined by Art. 12(1) to (6) RPBA.
Hence, the amendment referred to in Art. 12(4) RPBA was an amendment of the party's case relative to its requests, facts, evidence, arguments and objections on which the decision under appeal was based. This was distinct from "amendments to a party's appeal case" in Art. 13(2) RPBA, carried out at a later stage of the appeal proceedings relative to earlier submissions in appeal. The admissibly raised criterion of Art. 12(4) RPBA was not relevant to the question whether a claim request represented an amendment to a party's appeal case under Art. 13(2) RPBA.
Consequently, the board rejected the argument of the patent proprietor according to which auxiliary requests 2 to 8 were "carry-over" requests and therefore merely the criteria set out in Art. 12(4) RPBA had to be applied to determine whether these requests represented an amendment to the appeal case within the meaning of Art. 13(2) RPBA. The board distinguished the case in hand, where the relevant requests were submitted one day before oral proceedings before the board, from the procedural situation underlying T 246/22, where the relevant requests had been submitted with the statement of grounds of appeal.
Regarding auxiliary request 6, which differed from the claims of the main request (claims as granted) solely by the deletion of independent claims 1 and 2, the board agreed with the reasoning set out in T 2091/18 and J 14/19 and held that any new and amended claim request was to be considered as an amendment to the party's appeal case. In the board's view, the filing of a new claim request always had to have a substantive purpose related to the potential outcome of the patent proprietor's appeal case. The board concluded that if there was such a substantive reason for filing the new set of claims, there was an amendment to the party's case. The board also observed that even when following the line of case law that considered a deletion of (an alternative in) an independent claim to be an amendment in the sense of Art. 13(2) RPBA only if it altered the factual and legal framework of the proceedings, it came to the same conclusion. In fact, even if the remaining subject-matter was encompassed by the claims of previously pending claim requests, the deletion created a new object which shifted the discussion in that the amendment "moved the target" out of the focus of the objections that had been debated on appeal so far.
Since no justification for the late filing of these requests had been submitted by the patent proprietor, nor did the board see any, the board found that there were no exceptional circumstances within the meaning of Art. 13(2) RPBA. Based on a systematic interpretation of Art. 13(1) and (2) RPBA, the board did not agree with the approach taken e.g. in T 2295/19, according to which exceptional circumstances were present if allowing the amendment was not detrimental to procedural economy.