T 0278/00 (Naphthyl-Verbindungen/ELI LILLY) 11-02-2003
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I. Die Begründung einer angefochtenen Entscheidung ist in der vorliegenden Fassung zu betrachten. Die Erfordernisse der Regel 68 (2) EPÜ können nicht so ausgelegt werden, daß im Falle einer unverständlichen und damit unzureichenden Entscheidungsbegründung die Kammer oder die Beschwerdeführerin Vermutungen anzustellen hat, was damit gemeint sein könnte.
II. Die Kammer muß anhand der Begründung der angefochtenen Entscheidung beurteilen können, ob die Schlußfolgerung der ersten Instanz gerechtfertigt war oder nicht. Dieses Erfordernis ist nicht erfüllt, wenn für die Kammer nicht ersichtlich ist, welche der verschiedenen widersprüchlichen Feststellungen, die in der angefochtenen Entscheidung getroffen wurden und diese begründen, richtig oder falsch ist.
III. Eine beschwerdefähige Entscheidung des Europäischen Patentamts, die sich auf eine derart unzulängliche Begründung stützt, ist nicht "begründet" im Sinne der Regel 68 (2) EPÜ, so daß ein wesentlicher Verfahrensmangel vorliegt.
Im Sinne der Regel 68 (2) EPÜ begründete Entscheidung (verneint) - unverständliche Feststellungen - fehlende Angabe des Stands der Technik bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit - Bezugnahme auf die mündliche Verhandlung in einem parallelen Fall
wesentlicher Verfahrensmangel (bejaht) - Rückzahlung der Beschwerdegebühr
I. Die am 9. Oktober 1999 eingelegte Beschwerde richtet sich gegen die am 6. August 1999 zur Post gegebene Entscheidung der Prüfungsabteilung, mit der die europäische Patentanmeldung Nr. 96 301 542.5 (europäische Veröffentlichungsnummer 731 093) zurückgewiesen wurde.
II. Der angefochtenen Entscheidung lagen die am 30. Juli 1998 bzw. am 7. November 1997 eingereichten Ansprüche 1 bis 20 gemäß dem damals anhängigen Antrag zugrunde. Anspruch 1 betraf Verbindungen einer dort angegebenen allgemeinen Formel. Die Prüfungsabteilung war der Auffassung, daß die Anmeldung nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe und nicht einheitlich sei und damit gegen die Artikel 56 und 82 EPÜ verstoße.
Diese Schlußfolgerung wurde von der Prüfungsabteilung in der angefochtenen Entscheidung in drei getrennten Abschnitten wie folgt begründet:
"3. Festzuhalten ist, daß der vorliegende Fall in einer mündlichen Verhandlung am 1.7.1999 behandelt werden sollte. Am Vortag fand im parallelen Verfahren EP 96 301 534.2 derselben Anmelderin eine mündliche Verhandlung statt, in der es um vergleichbare Einwände gegen einen ganz ähnlichen Erfindungsgegenstand ging und an der derselbe Vertreter teilnahm. Die Erörterungen in jenem Verfahren können nicht außer Acht gelassen werden, da der Einwand in beiden Fällen die mögliche Äquivalenz einer C=O-Gruppe und einer C=CH2- Gruppe an der Position R6 betraf. Dabei überzeugte die Anmelderin die Prüfungsabteilung, daß die beiden Molekülgruppen nicht als Äquivalente gelten können. Die beanspruchten Verbindungen, in denen die Bindungsgruppe R6 eine Vinylidengruppierung oder ein Derivat davon ist, wären somit nicht naheliegend, sofern sie wirksam bleiben. Zumindest der Gegenstand des Anspruchs 1, in dem R6 für CH=CH2 und C=CH-(C1-C5-Alkyl) steht, hätte als erfinderisch gelten können, wenn die Anmelderin die Prüfungsabteilung davon überzeugt hätte, daß die Aufgabe, weitere wirksame Verbindungen bereitzustellen, tatsächlich gelöst wurde. Einschlägige Argumente wurden aber nicht vorgebracht. Da C=O und die entsprechende C=CH-Gruppe nicht äquivalent sind (siehe oben), kann ohne überzeugende Argumente (oder zumindest Daten) der Anmelderin nicht davon ausgegangen werden, daß die oben definierte Aufgabe tatsächlich gelöst wurde.
Gelöst wurde lediglich die Aufgabe, Verbindungen der Formel I bereitzustellen, bei denen R6 eine sp2-trigonale Konfiguration aufweist. Die Lösung dieser Aufgabe muß aber als für den Fachmann naheliegend gelten, weil solche Derivate problemlos auf herkömmlichem Wege hergestellt werden können (siehe S. 8 der Beschreibung).
4. Die Verbindungen, bei denen die R6-Bindungsgruppe eine sp3- tetragonale Konfiguration hat, wären prima facie als äquivalent zu der C=O-Bindung einzustufen, weil diese Möglichkeiten im Stand der Technik bereits in Betracht gezogen wurden. Erfinderische Tätigkeit könnte ihnen also nur zugesprochen werden, wenn sie im Vergleich zu den strukturell nächstliegenden Verbindungen aus D1 eine überraschende Wirkung aufweisen würden.
5. Abschließend ist anzumerken, daß die vorliegende Anmeldung je nach Art der beanspruchten Verbindungen (mit "trigonaler" bzw. "tetragonaler" Bindung) zwei verschiedene technische Aufgaben zu lösen versucht:
- Im ersten Fall sollen Verbindungen mit der entsprechenden Wirksamkeit bereitgestellt werden.
- Im zweiten Fall sollen Verbindungen bereitgestellt werden, die beim Vergleich mit dem nächstliegenden Stand der Technik eine überraschende Wirkung aufweisen. Die vorliegende Anmeldung ist daher auch wegen mangelnder Einheitlichkeit zu beanstanden."
III. Zusammen mit der Beschwerdebegründung reichte die Anmelderin am 3. Dezember 1999 einen Haupt- sowie einen ersten und einen zweiten Hilfsantrag mit drei neuen alternativen Anspruchssätzen ein. Der erste davon war bis auf die Tatsache, daß die Verwendungsansprüche nun in der schweizerischen Anspruchsform abgefaßt waren, mit dem vor der Prüfungsabteilung anhängigen Anspruchssatz identisch.
Bezüglich der inhaltlichen Fragen brachte die Beschwerdeführerin vor, daß Versuchsdaten zu irgendeiner der beanspruchten Verbindungen weder in der vorliegenden Anmeldung enthalten, noch von ihr im Prüfungsverfahren vorgelegt worden seien. Sie räumte ein, daß "in der Tat noch keine der in der Patentschrift offenbarten Verbindungen hergestellt worden sei", und ersuchte die Kammer, bei ihrer Prüfung der Beschwerde davon auszugehen, daß auch bis zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung keine Daten vorliegen würden. Sie wies jede Verpflichtung von sich, die in der vorliegenden Anmeldung angegebene pharmazeutische Wirkung der beanspruchten Verbindungen nachweisen zu müssen.
IV. In einer Mitteilung nach Artikel 11 (2) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern, die der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügt war, bezweifelte die Kammer, daß die angefochtene Entscheidung als ausreichend begründet im Sinne der Regel 68 (2) erster Satz EPÜ gelten könne, da sie erhebliche Schwierigkeiten habe, in der Entscheidungsbegründung der ersten Instanz, auf die diese ihre Zurückweisung der Anmeldung gestützt hatte, einen Sinn zu erkennen.
V. In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer am 11. Februar 2003 argumentierte die Beschwerdeführerin, daß die angefochtene Entscheidung in der Tat unzureichend begründet sei, weil sie bei isolierter Betrachtung unklar sei. Der Billigkeit halber sei die Beschwerdegebühr daher zurückzuerstatten. Dessen ungeachtet könne sie der Kammer aber Hintergrund- und Zusatzinformationen zum vorliegenden Fall zur Verfügung stellen. Sie bot ferner an, ihre eigene Interpretation dessen vorzubringen, was mit der angefochtenen Entscheidung ihrer Ansicht nach ausgesagt werden solle, aber nicht werde. Dies würde vielleicht so weit zum Verständnis dessen beitragen, was die Prüfungsabteilung eigentlich gemeint habe, daß die Kammer die hier zur Debatte stehenden Fragen ungeachtet der unzulänglichen Begründung entscheiden könne.
VI. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, die Zurückverweisung der Sache an die Prüfungsabteilung und die Rückzahlung der Beschwerdegebühr.
VII. Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete die Kammer ihre Entscheidung.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Die Beschwerdeführerin beanstandete die angefochtene Entscheidung, weil diese entgegen den Erfordernissen des Artikels 68 (2) EPÜ nicht ausreichend begründet sei. Zwar ist die Grundaussage der angefochtenen Entscheidung, wonach die vorliegende Anmeldung nicht erfinderisch im Sinne von Artikel 56 EPÜ und nicht einheitlich im Sinne von Artikel 82 EPÜ sei, eindeutig; nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern muß die Entscheidung aber zudem nach Maßgabe von Regel 68 (2) EPÜ in einer logischen Gedankenführung die Argumente aufzeigen, die diese Grundaussage rechtfertigen. Ferner sind die aus den Tatsachen und Beweismitteln gezogenen Schlußfolgerungen klar darzulegen. Deshalb müssen in der Entscheidung alle relevanten Tatsachen und Beweismittel wie auch alle maßgeblichen Erwägungen bezüglich der rechtlichen und faktischen Umstände des Falls ausführlich gewürdigt werden.
Das Erfordernis der Entscheidungsbegründung zielt natürlich darauf ab, dem Anmelder - und im Falle eines Beschwerdeverfahrens auch der Beschwerdekammer - die Möglichkeit zur Nachprüfung zu geben, ob die Entscheidung als gerechtfertigt angesehen werden kann oder nicht. Wenn also wie im vorliegenden Fall über die erfinderische Tätigkeit zu entscheiden ist, muß die logische Gedankenführung angegeben werden, und zwar beginnend mit der Nennung und Beurteilung des Stands der Technik, auf den sich die endgültige Schlußfolgerung stützt, daß der beanspruchte Gegenstand nicht erfinderisch sei (vgl. T 103/86, Nr. 4 der Entscheidungsgründe, T 292/90, Nr. 2 der Entscheidungsgründe, beide im ABl. EPA nicht veröffentlicht).
3. Die Beschwerdeführerin hat einige Hintergrundinformationen zur vorliegenden Anmeldung angeboten, über die sie aus parallelen Fällen verfügte. Anhand dieser Informationen könne sie ihre eigene Interpretation dessen vorbringen, was ihrer Ansicht nach mit der angefochtenen Entscheidung ausgesagt werden solle, aber nicht werde.
Die Erfordernisse der Regel 68 (2) EPÜ können aber nicht so ausgelegt werden, daß im Falle einer unverständlichen und damit unzureichenden Entscheidungsbegründung die Kammer oder die Beschwerdeführerin Vermutungen anzustellen hat, was damit gemeint sein könnte. Eine unzulängliche Begründung kann nicht durch die spekulative Auslegung der Beschwerdeführerin oder durch Mutmaßungen der Beschwerdekammer wettgemacht werden. Daher ist die von der ersten Instanz erstellte Entscheidungsbegründung nach Auffassung der Kammer in der vorliegenden Fassung zu betrachten.
4. Im vorliegenden Fall umfaßt die angefochtene Entscheidung drei Abschnitte (siehe Nr. II), in denen die Feststellung mangelnder erfinderischer Tätigkeit und mangelnder Einheitlichkeit begründet wird.
4.1 Der erste Abschnitt (Nr. 3 der angefochtenen Entscheidung) endet im letzten Absatz mit der Aussage, daß die Verbindungen der Formel I, bei denen der Substituent R6 eine "sp2-trigonale Konfiguration" aufweist, als naheliegend gelten. In diesem Abschnitt wird weder der nächstliegende Stand der Technik genannt, der als Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit herangezogen wurde, noch irgendein anderer Stand der Technik, der die Prüfungsabteilung zu dem Schluß gelangen ließ, daß der Erfindungsgegenstand naheliegend sei. Nach Artikel 56 EPÜ ist aber bei der Entscheidung über die erfinderische Tätigkeit, also darüber, ob die Erfindung naheliegend ist, der Stand der Technik zu berücksichtigen. Die angefochtene Entscheidung enthält jedoch keinen diesbezüglichen Hinweis und gibt damit keinen Aufschluß über die faktischen und rechtlichen Erwägungen, auf denen die Schlußfolgerung der Kammer basierte.
Zudem enthält derselbe Abschnitt der angefochtenen Entscheidung einen allgemeinen Hinweis auf die Erörterungen der Prüfungsabteilung in einer nichtöffentlichen mündlichen Verhandlung in einer anderen, "parallelen" Sache, die sie - wie sie selbst einräumt - zu einer Änderung ihrer Auffassung zum vorliegenden Fall veranlaßt haben. In ihrer Entscheidung legt die erste Instanz aber weder die Tatsachen noch die Gründe dar, die sie letztlich zu dieser Meinungsänderung bewogen haben.
4.2 Im zweiten Abschnitt (Nr. 4 der angefochtenen Entscheidung) stellt die Prüfungsabteilung fest, daß die Verbindungen, bei denen der Substituent R6 eine "sp3- tetragonale Konfiguration" aufweist, ebenfalls naheliegend seien, da sie "prima facie als äquivalent zu der C=O-Bindung einzustufen [wären], weil diese Möglichkeiten im Stand der Technik bereits in Betracht gezogen wurden". Den darauffolgenden Satz dieses Abschnitts kann die Kammer bestenfalls so verstehen, daß dieser Teil der angefochtenen Entscheidung nicht die Sachlage des vorliegenden Falls betrifft, sondern von der Entgegenhaltung (1) als nächstliegendem Stand der Technik ausgeht. Doch selbst dann hat es die Prüfungsabteilung versäumt, das einschlägige Dokument des Stands der Technik zu nennen, in dem ihrer Meinung nach "diese Möglichkeiten ... bereits in Betracht gezogen wurden". Die Kammer sieht sich daher außerstande, ausgehend von der Begründung der angefochtenen Entscheidung zu beurteilen, ob die Schlußfolgerung der ersten Instanz, daß keine erfinderische Tätigkeit vorlag, gerechtfertigt war.
4.3 Im dritten Abschnitt (Nr. 5 der angefochtenen Entscheidung) geht es um die behauptete Nichteinheitlichkeit. Dort sind zwei verschiedene Aufgaben genannt, die die vorliegende Anmeldung je nach Art der beanspruchten Verbindungen angeblich zu lösen versuche. Daraus wird in der angefochtenen Entscheidung der Schluß gezogen, daß "die vorliegende Anmeldung ... daher auch wegen mangelnder Einheitlichkeit zu beanstanden" sei. Dieser in der Entscheidung erhobene Einwand entbehrt aber jeder rechtlichen Begründung dafür, wie die erste Instanz von ihrer Feststellung, daß der Anmeldung zwei verschiedene Aufgaben zugrunde lägen, zu ihrer Feststellung mangelnder Einheitlichkeit gelangte.
Zudem unterscheidet sich die in den Abschnitten zur erfinderischen Tätigkeit genannte Aufgabe von den beiden Aufgaben, die in diesem Abschnitt zur mangelnden Einheitlichkeit beschrieben sind. Den ersteren Abschnitten zufolge ist die durch die vorliegende Anmeldung gelöste Aufgabe in der bloßen Bereitstellung von Verbindungen der allgemeinen Formel I zu sehen, wohingegen laut dem letzteren Abschnitt die zu lösenden Aufgaben in der Bereitstellung von Verbindungen bestehen, die eine "entsprechende Wirksamkeit" hatten bzw. "beim Vergleich mit dem nächstliegenden Stand der Technik eine überraschende Wirkung aufweisen". Daher ist die Argumentation in diesem Entscheidungsteil zur mangelnden Einheitlichkeit unverständlich, weil es für die Kammer nicht ersichtlich ist, welche der verschiedenen widersprüchlichen Aufgaben, die in den einzelnen Abschnitten der angefochtenen Entscheidung genannt sind, die richtige ist und welche nicht. Die Kammer kann daher nicht prüfen, ob die Schlußfolgerungen der ersten Instanz berechtigt waren.
4.4 Aufgrund der angeführten Mängel der angefochtenen Entscheidung bleiben die Gründe für die Zurückweisung der Anmeldung undurchsichtig, da die Kammer im Unklaren darüber gelassen wird, wie die erste Instanz zu ihren negativen Schlußfolgerungen bezüglich des beanspruchten Gegenstands kam. Somit bliebe es der Kammer überlassen, selbst eine Begründung zu finden, die diese Entscheidung stützt. Genau dies soll aber durch die Vorschrift in Regel 68 (2) EPÜ vermieden werden, wonach eine Entscheidung zu begründen ist.
5. Aus diesen Gründen gelangt die Kammer zu dem Schluß, daß die angefochtene Entscheidung, die sich auf eine derart unzulängliche Begründung stützt, nicht "begründet" im Sinne der Regel 68 (2) EPÜ ist. Dieses Versäumnis ist ein wesentlicher Verfahrensmangel, der die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückweisung der Sache an die erste Instanz erforderlich macht. Daher ist der Beschwerde stattzugeben, und nach Auffassung der Kammer entspricht die Rückzahlung der Beschwerdegebühr wegen dieses wesentlichen Verfahrensmangels der Billigkeit (Regel 67 EPÜ).
6. ...
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückverwiesen.
3. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird angeordnet.