3.7. Erfolgversprechendster Ausgangspunkt
3.7.1 Allgemeines
Gemäß ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist zudem, wenn der Stand der Technik in Frage kommt, das als nächstliegender anzusehen, von dem die Fachperson am leichtesten zum Erfindungsgegenstand gelangt, nämlich dasjenige, von dem ausgehend der Erfindungsgegenstand am ehesten nahegelegt wird (T 656/90, T 824/05, T 1755/07, T 698/10, T 1940/16). Wenn der beanspruchte Gegenstand selbst ausgehend von einem oder gegebenenfalls mehreren solcher "erfolgversprechenden" Ausgangspunkte als nicht naheliegend angesehen wird, kann erwartet werden, dass der beanspruchte Gegenstand auch dann auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, wenn die Beurteilung auf weiter entfernten Ausgangspunkten basiert (T 816/16, T 154/17). Es kann zwar Gründe geben, weswegen ein bestimmter Stand der Technik von vornherein keinen erfolgsversprechenden Ausgangspunkt für eine Entwicklung darstellt, die zur beanspruchten Erfindung führt – beispielsweise weil seine Lehre mit der Erfindung nicht vereinbar ist, davon wegführt oder unüberwindbare Schwierigkeiten aufwirft. Auf die Anzahl von Merkmalsübereinstimmungen abzustellen, genügt dafür aber nicht in jedem Fall (T 865/21). In T 698/10 stellte die Kammer fest, dass der Ausdruck "nächstliegender Stand der Technik" nicht bedeutet, dass er – absolut betrachtet – der beanspruchten Erfindung ausreichend nahekommt, sondern lediglich, dass er der beanspruchten Erfindung – relativ betrachtet – näherkommt als die sonstigen Offenbarungen im Stand der Technik, d. h. er wurde als erfolgversprechendster Ausgangspunkt ausgewählt – oder als erfolgversprechendstes Sprungbrett zur Erfindung.
In T 694/15 befand die Kammer, dass der Begriff "nächstliegender Stand der Technik" leicht irreführend sei und man vielleicht besser den Begriff "Ausgangspunkt (im Stand der Technik)" verwenden sollte. Es könne Prozessökonomisch sein, von einem Stand der Technik auszugehen, der in gewisser Weise nah an der Erfindung ist, in der Hoffnung, dass die Berücksichtigung dieses einzigen Ausgangspunkts ausreicht, um festzustellen, ob der beanspruchte Gegenstand naheliegend gewesen wäre. Falls dies jedoch nicht gelinge, müsse man andere mögliche Ausgangspunkte berücksichtigen, bevor man darauf schließt, dass der Gegenstand nicht naheliegend gewesen wäre. Entscheidend für die Feststellung des Naheliegens sei nicht die Nähe des Ausgangspunkts, sondern die Wahrscheinlichkeit des Wegs insgesamt – vor dem Hintergrund des Ausgangspunkts.
Bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit soll jedoch die Gefahr der rückschauenden Betrachtungsweise beachtet werden. Wenn eine Fachperson bestrebt ist, eine einfache Konstruktion zu erreichen, so ist es unwahrscheinlich, dass sie dabei von einem Stand der Technik ausgeht, der eine außergewöhnliche Ausführung mit einer komplizierten Einrichtung betrifft, um diese komplizierte Einrichtung wegzulassen (T 871/94). In T 2114/16 befand die Kammer, dass ein Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit, der auf der Auswahl eines eindeutig nachteiligen Ausgangspunkts aus dem Stand der Technik E22 basierte, unweigerlich durch eine rückschauende Betrachtungsweise belastet war, weil diese Auswahl nur durch eine vorherige Kenntnis der beanspruchten Erfindung begründet sein konnte. Gemäß dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz würde die Fachperson von der Lehre der beispielhaften Ausführungsformen aus E22 ausgehen (s. auch T 626/22).
In T 1599/14 befand die Kammer, dass nichts dagegen spricht, wenn der Beschwerdeführer (Einsprechende) als Ausgangspunkt für seine Argumentation einen Stand der Technik oder eine Ausführungsform wählt, die weniger erfolgversprechend sind als andere, dem beanspruchten Gegenstand a priori nähere Offenbarungen oder Ausführungsformen. Siehe auch T 405/14, in der die Kammer schloss, dass jeder Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit gesondert bewertet werden muss und dass ein als Ausgangspunkt ausgewähltes Dokument nicht allein deshalb ausgeschlossen werden kann, weil ein Stand der Technik verfügbar ist, der scheinbar mehr Erfolg verspricht.
In T 1841/11 erklärte die Kammer, dass selbst wenn ein Stand der Technik vorliegt, der sich auf denselben Zweck bezieht, nicht ausgeschlossen ist, dass ein Dokument zu einem ähnlichen Zweck als besserer – oder zumindest gleichermaßen plausibler – nächstliegender Stand der Technik betrachtet wird, sofern für die Fachperson auf Anhieb klar wäre, dass ihre Offenbarung direkt und allein mithilfe des allgemeinen Fachwissens für die Zwecke der beanspruchten Erfindung angepasst werden kann. S. auch T 1160/12, T 1518/17.
In T 816/16 befand die Kammer die Frage als irrelevant, ob eine bestimmte Offenbarung näher am beanspruchten Gegenstand oder weiter von ihm entfernt liegt. Beginnt man die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ausgehend vom "nächstliegenden Stand der Technik", so vermeidet man es, mehrere potenzielle Ausgangspunkte berücksichtigen zu müssen, weil angenommen werden kann, dass ein bestimmter beanspruchter Gegenstand, der gegenüber diesem "nächstliegenden Stand der Technik" erfinderisch ist, erst recht erfinderisch wäre, wenn die Beurteilung auf eine Offenbarung gestützt würde, die nicht den "nächstliegenden" Stand der Technik bildet. Ebenso befand die Kammer in T 1459/20, dass, da die Einwände im Hinblick auf die erfinderische Tätigkeit ausgehend vom nächstliegenden Stand der Technik nicht erfolgreich waren, die Diskussion weiter entfernt liegender Dokumente nur zu demselben Resultat führen können.
In T 1518/17 befand die Kammer wie folgt: Wenn zwei Dokumente als nächstliegender Stand der Technik infrage kommen, muss die erfinderische Tätigkeit in Bezug auf beide Dokumente nachgewiesen werden. Eine Feststellung des Naheliegens in Bezug auf ein Dokument führt zwangsläufig zu dem Schluss, dass die Erfordernisse des Art. 56 EPÜ nicht erfüllt sind, auch wenn dasselbe Vorgehen auf der Grundlage des anderen Dokuments zu einem anderen Schluss führen würde. Siehe auch T 23/17.
In T 787/17 stellte die Kammer fest, dass es einer besonderen Rechtfertigung, z. B. basierend auf Überlegungen der Fachperson, nicht bedarf. Insbesondere ist die Frage, ob ein solches Element einen Hinweis zur Lösung der objektiven technischen Aufgabe enthält, für ihre Wahl als Ausgangspunkt irrelevant. Dies geht schon daraus hervor, dass die objektive technische Aufgabe erst auf Grundlage des Ausgangspunktes definiert werden kann. Es bedarf auch keiner Rechtfertigung, warum die Fachperson innerhalb einer vorveröffentlichten Druckschrift, die eine große Zahl von Ausführungsbeispielen umfasst, gerade von einem bestimmten Ausführungsbeispiel ausgehen würde. Jedes der Ausführungsbeispiele stellt ein Element des Stands der Technik dar, das als solches der (fiktiven) Fachperson bekannt ist und deshalb auch als Ausgangspunkt dienen kann (s. auch T 2147/21).
In T 2562/17 stellte die Kammer fest, dass der "notorische" Stand der Technik im Stand der Technik so allgemein bekannt ist, dass kein schriftlicher Nachweis erforderlich ist, um ihn zu belegen. Siehe auch Kapitel IV.B.4.1.3 a) "Notorisch bekannte technische Merkmale".
- T 0095/23
Im Fall T 95/23 ging es um eine Durchgangsschleuse mit einem Eingang und einer Ausgangstüre, sowie einem Display und einer Aufnahmevorrichtung zur Erfassung biometrischer Merkmale einer Durchgang begehrenden Person, die frontal gegenüber dem Eingang in der Ausgangstüre integriert sind. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) hatte Argumentationslinien vorgebracht, die von D1 bis D6 als nächstliegendem Stand der Technik ausgingen. Die Kammer befand, dass ausgehend von D1, D3, D2 oder D5 der Gegenstand des Anspruchs 1 jeweils erfinderisch sei. In Bezug auf D4 führte sie aus, dass sich der beanspruchte Gegenstand von der aus D4 bekannten Vorrichtung dadurch unterscheide, dass die Kamera und ein Bildschirm in die Türe integriert seien.
Die Beschwerdeführerin hatte zur Frage des Naheliegens argumentiert, dass die Fachperson von einem allgemeinen generischen Ausführungsbeispiel ausgehen würde, das nicht unbedingt zwei separate Ausgänge hinter den Türen (von D4 Figur 1) haben müsse. In D4 werde die Erfindung sehr allgemein dargestellt und insbesondere beschrieben, dass die Ausgänge zu Zoll/Sicherheitskontrolle bzw. direkt zum Flugzeug verschiedene, rein optionale Varianten seien. Folglich könnten beide Türen auch zu ein und demselben Raum führen. Die Fachperson würde die allgemeine Lehre der Dokumente D1 und D2 aufnehmen und kleine Kameras und Displays in den Türen integrieren. Die Beschwerdegegnerin hatte argumentiert, dass dies nicht möglich sei, weil dann eine zu schleusende Person nicht wisse, durch welchen Durchgang sie zu gehen habe, während sich in D4 nach der Kontrolle nur die "richtige" Türe abhängig vom Ergebnis der Zugangskontrolle öffne.
Die Kammer war der Meinung, dass die Fachperson die Lehre der D1 und/oder D2 zwar in Betracht ziehen, aber aus folgenden Gründen nicht implementieren würde.
Bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit sollte vorzugsweise von einem konkreten Ausführungsbeispiel ausgegangen werden, da die Fachperson bei einem generischen und unspezifischen Ausführungsbeispiel noch zusätzlichen technischen Aufwand für eine spezifische Ausarbeitung dieses Ausführungsbeispiels aufwenden müsste. Bei dieser Ausarbeitung würde der Fachmann letztendlich doch wieder auf die konkrete Lehre der detaillierten Ausführungsbeispiele im selben Dokument zurückgreifen. Die Fachperson würde sich also in der Regel für ein detailliertes Ausführungsbeispiel als Ausgangspunkt für die Prüfung der erfinderischen Tätigkeit entscheiden (s. Orientierungssatz). Die Kammer analysierte das einzige in D4 in den Figuren gezeigte und in der Beschreibung behandelte spezifische Ausführungsbeispiel und kam zu dem Schluss, dass der Durchgang eher verlangsamt würde, wenn der biometrische Abgleich durch Kameras (und Bildschirme) in jeder der beiden Türen stattfände, da die zu kontrollierende Person nicht im Voraus wüsste, bei welcher der beiden Türen sie herausgelassen werde.
Ferner sei es nicht unbedingt ohne technische Schwierigkeiten möglich, eine Kamera und einen Bildschirm, wie sie in D1 (bzw. D2) gezeigt sind, in die schwenkbaren Türen (von D4 Fig. 1) zu integrieren. Die in D1 gezeigten Kameras seien in den Zeichnungen relativ voluminös dargestellt. Die Kamera könne zwar in ein Display integriert werden, zum relevanten Zeitpunkt der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit (Anmeldetag des Patents im Jahre 2009) seien jedoch Kameras und Displays noch deutlich voluminöser und schwerer gewesen als zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor der Kammer. Die Türen von D4 ließen die Fachperson darauf schließen, dass es sich um rahmenlose Türen handele. Eine Befestigung von Kameras und Displays in solchen rahmenlosen Glastüren sei technisch nicht einfach. Die Kameras und Displays in D1 hätten einen anderen technischen Kontext (massive Türen) und seien nicht unbedingt für die in D4 gezeigten Türen geeignet..
In Anbetracht der komplexen Umsetzung und insbesondere in Anbetracht der spezifischen Ausführungen in D4, die bei einer Integration von Kameras/Displays in die Türen den Durchgang eher schwieriger machen würden als vereinfachen, würde die Fachperson von solch einer Lösung absehen, insbesondere, da Komplikationen und Konfusion an einem Flughafen vermieden werden sollten. Der Gegenstand von Anspruch 1 sei erfinderisch gegenüber D4 in Kombination mit D1 oder D2. Gleiche Argumente gelten ausgehend von D6.