3.7. Erfolgversprechendster Ausgangspunkt
3.7.2 Das erfolgversprechendste Sprungbrett
Das Konzept "das erfolgversprechendste Sprungbrett zur Erfindung" findet sich zur Beschreibung des objektiv nächstliegenden Stands der Technik in der Rechtsprechung bereits in der Entscheidung T 254/86 (ABl. 1989, 115); s. auch T 282/90, T 70/95, T 644/97, T 1939/12, T 369/12, T 1888/21.
In T 824/05 lagen der Kammer zwei Dokumente vor, die sich beide gleichermaßen als Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit eigneten, wobei aus dem Ausgangsdokument D11 folgte, dass der beanspruchte Gegenstand naheliegend war, und aus dem anderen Ausgangsdokument D1 der entgegengesetzte Schluss gezogen werden musste. Die Kammer befand, dass in diesem Fall D1 nicht als nächstliegender Stand der Technik betrachtet werden konnte, weil dieses Dokument nicht das "erfolgversprechendste Sprungbrett" zur Erfindung darstellte.
In T 1742/12 befand die Kammer wie folgt: Wenn ein Stand der Technik als "nächstliegender" Stand der Technik oder als "erfolgversprechendstes Sprungbrett" identifiziert werden und gezeigt werden kann, dass die beanspruchte Erfindung ausgehend von diesem Stand der Technik nicht naheliegend ist, dann ist die beanspruchte Erfindung ausgehend von einem anderen Stand der Technik erst recht nicht naheliegend, weshalb auf eine ausführliche Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ausgehend vom übrigen Stand der Technik verzichtet werden kann. Die Wahl des nächstliegenden Stands der Technik ist jedoch möglicherweise nicht immer eindeutig, und es kann sein, dass in solchen Fällen der Aufgabe-Lösungs-Ansatz ausgehend von einem anderen Stand der Technik wiederholt werden muss (s. T 710/97).
In T 64/16 äußerte die Kammer die Ansicht, dass es nach dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz nicht erforderlich ist, das "erfolgversprechendste" Sprungbrett auszuwählen und andere Dokumente auszuschließen. In der Praxis ist es sinnvoll, diese Untersuchung auf Dokumente aus dem Stand der Technik zu beschränken, die zumindest "erfolgversprechend" sind, weil potenziell ein realistischer Weg von diesem Dokument hin zur Erfindung führt. In vielen Fällen muss nur ein "nächstliegender" Stand der Technik berücksichtigt werden, weil alle anderen verfügbaren Dokumente objektiv gesehen weiter von der Erfindung entfernt sind (s. auch T 570/91, T 1742/12).
In T 1571/19 erachtete die Kammer das vielversprechendste Sprungbrett als "zu kurz", um ausgehend von D5 D3 zu berücksichtigen. Die bei D5 ansetzende Fachperson hätte die Lehre von D3 kaum in Betracht gezogen, und selbst wenn, hätte sie nicht versucht, die Brauchbarkeit dieser Zusammensetzung für die beanspruchten therapeutischen Anwendungen zu testen.
In T 207/20 befand die Kammer, dass der nächstliegende Stand der Technik jeglichen bisherigen Stand der Technik repräsentieren soll, der realistischerweise zu etwas entwickelt werden kann, das in den Schutzbereich fällt – im vorliegenden Fall ein Vergleichsbeispiel. Es muss nicht besonders bevorzugt oder vorteilhaft sein, sondern lediglich eines, das aus technischer Sicht nicht unrealistisch ist, d. h. eines, das nicht weitab vom technischen Kontext der Erfindung liegt.