3. Nächstliegender Stand der Technik
3.6. Implizierte Merkmale
Zur Berücksichtigung impliziter Merkmale bei der Bewertung des Neuheitskriteriums siehe Kapitel I.C.4.3 "Berücksichtigung von impliziten Merkmalen".
In T 2517/11 stellte die Kammer fest, dass die Tatsache, dass ein "verborgenes" technisches Merkmal – d. h. ein Merkmal, das in einem Dokument des Stands der Technik implizit enthalten, durch bloße Lektüre aber nicht feststellbar ist – eines aus dem Stand der Technik bekannten Verfahrens nur anhand einer mathematischen Beweisführung auffindbar ist, seiner Berücksichtigung als offenbartes technisches Merkmal nicht entgegensteht, denn die mathematische Beweisführung zeigt die Zugänglichkeit des "verborgenen" Merkmals. Das Vorbringen, es bestehe objektiv keinerlei Anlass zu einer solchen Beweisführung, ändert nichts an dieser Feststellung (unter Hinweis auf G 1/92, ABl. 1993, 277). Dieser Ansatz resultiert aus dem objektiven Charakter des von der Rechtsprechung der Beschwerdekammern entwickelten Aufgabe-Lösungs-Ansatzes, dem zufolge alle technischen Merkmale des nächstliegenden Stands der Technik zu berücksichtigen sind, ob sie nun direkt ermittelbar oder verborgen, aber zugänglich sind.
In T 1779/19 stellte die Kammer mit Verweis auf T 12/81, ABl. 1992, 296; T 666/89, ABl. 1993, 594; und insbesondere T 270/97 fest, dass das Haupterfordernis für eine implizite Offenbarung die Unvermeidlichkeit ist. Um ein bestimmtes Erzeugnis (aus einer chemischen Reaktion) implizit vorwegzunehmen, muss das Dokument des Standes der Technik eine unter bestimmten Bedingungen durchgeführte Reaktion offenbaren, die unweigerlich zu dem betreffenden Erzeugnis führt. Die Kammer bestritt im vorliegenden Fall nicht, dass Eisen-II-sulfat in Gegenwart von Luft zu Eisen-III-sulfat oxidiert wurde. Es gibt jedoch keine Grundlage für die Schlussfolgerung, wie weit diese Reaktion in D5 geht, da in D5 keine Reaktion, sondern eine Eisen-II-sulfat-Lösung angegeben ist, und D5 keine Informationen über die Herstellungsweise dieser Lösung, ihre Lagerungsdauer und Lagerungsbedingungen enthält. Das Vorhandensein von Eisen-III-sulfat ist somit sehr wahrscheinlich oder sogar sicher, aber es gibt keine Möglichkeit, daraus zu schließen, dass dieses Vorhandensein über Spuren hinausgeht.
In T 1501/19 entschied die Kammer, dass eine bestimmte hypothetische Ausführungsform (eine nicht beschriebene Verfahrensweise), auf die sich der Einsprechende bezogen hatte, der Lehre der Entgegenhaltung D1 nicht unmittelbar und eindeutig zu entnehmen sei. Sie könne daher auch nicht als Ausgangspunkt für die Beurteilung erfinderischer Tätigkeit bzw. der Formulierung der in diesem Rahmen zu stellenden objektiven technischen Aufgabe dienen.
In T 674/21 befand die Kammer, dass, auch wenn D17 möglicherweise weder explizit Abtönsysteme für den Innenbereich oder Abtönsysteme für den Außenbereich offenbart bzw. nicht zwischen diesen Systemen unterscheidet noch die Verwendung nicht-infrarot-absorbierender Pigmente in diesem Zusammenhang erwähnt, dies kein Grund dafür ist, D17 als geeignetes Dokument des nächstliegenden Stands der Technik auszuschließen. Ähnlich wie der beanspruchte Gegenstand offenbart D17 Farbmischsysteme für den Einzelhandel, und die Möglichkeit der Anwendung im Innen- und Außenbereich ist implizit in der Verwendung von den in D17 erwähnten Farbmischsystemen für Dekorfarben enthalten. Das relevante Anwendungsgebiet in D17 ist somit eng mit dem beanspruchten Gegenstand verbunden, und es gibt keinen Grund, es als geeigneten Ausgangspunkt abzulehnen.