2. Prioritätsrecht des Anmelders oder seines Rechtsnachfolgers
2.3. Anwendung des autonomen Rechts des EPÜ auf die Übertragung von Prioritätsrechten
Da die Entstehung, Existenz und Wirkung von Prioritätsrechten ausschließlich durch das EPÜ (und die PVÜ über deren Beziehung zum EPÜ) geregelt sind, sind Prioritätsrechte autonome Rechte nach dem EPÜ und sollten unabhängig vom nationalen Recht nur im Rahmen des EPÜ beurteilt werden. Folglich sollte auch die Berechtigung zur Inanspruchnahme der Priorität (und etwaige damit zusammenhängende Übertragungen von Prioritätsrechten) nach dem autonomen Recht des EPÜ beurteilt werden (G 1/22 und G 2/22, ABl. 2024, A50, Nrn. 83 bis 86 der Gründe). Durch die ausschließliche Anwendung des autonomen Rechts des EPÜ auf die Übertragung von Prioritätsrechten entfällt die Notwendigkeit von Kollisionsregeln und der Anwendung nationaler Gesetze, wodurch zwei Hauptargumente gegen die Zuständigkeit des EPA für die Feststellung ausgeräumt sind, ob eine Partei zur Inanspruchnahme einer Priorität nach Art. 87 (1) EPÜ berechtigt ist (G 1/22 und G 2/22, Nr. 130 der Gründe).
Die Große Beschwerdekammer befürwortete die Beurteilung der Prioritätsberechtigung nach dem autonomen Recht des EPÜ, aber nicht unbedingt alle in der bestehenden Rechtsprechung vor G 1/22 und G 2/22 diskutierten Regeln (G 1/22 und G 2/22, Nr. 86 der Gründe, s. auch Nrn. 68 und 69 der Gründe, die T 62/05, T 577/11, T 205/14, T 517/14, T 1201/14 und T 1946/21 zitieren, zusammengefasst in Kapitel II.D.2.7.). Der Großen Beschwerdekammer zufolge sollten die autonomen Erfordernisse für die wirksame Übertragung von Prioritätsrechten nicht strenger sein als die nationalen Vorschriften für die Übertragung von Prioritätsrechten oder anderen Vermögensrechten. Im Gegenteil: Das EPA sollte die niedrigsten der nach nationalem Recht geltenden Maßstäbe übernehmen und unter fast allen Umständen die formlose oder stillschweigende Übertragung von Prioritätsrechten akzeptieren. So sollte das autonome Recht des EPÜ beispielsweise nicht vorschreiben, dass die Übertragung von Prioritätsrechten schriftlich erfolgen und/oder im Namen der daran beteiligten Parteien unterzeichnet werden muss (s. T 62/05, vgl. T 205/14 und T 517/14), weil damit eine im Vergleich zu den nationalen Rechtssystemen hohe Hürde eingeführt würde (G 1/22 und G 2/22, Nrn. 69 und 100 der Gründe; s. auch Kapitel II.D.2.7.3 c)).
Selbst das Erfordernis, dass die Übertragung des Prioritätsrechts vor der Einreichung der europäischen Nachanmeldung abgeschlossen sein muss, kann nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer infrage gestellt werden (vgl. T 577/11 und T 1946/21 wie in Kapitel II.D.2.7.4 zusammengefasst). Wenn es Rechtssysteme gibt, die eine Ex-post-Übertragung ("nunc pro tunc") von Prioritätsrechten erlauben (s. die Erörterung solcher Übertragungen nach US-Recht in T 1201/14), sollte das EPA keine höheren Maßstäbe anlegen. Die Zulässigkeit einer rückwirkenden Übertragung von Prioritätsrechten dürfte jedoch nur von begrenzter praktischer Relevanz sein, wenn eine Vermutung gilt, dass die Prioritätsberechtigung an dem Tag besteht, an dem die Priorität für die europäische Nachanmeldung beansprucht wird (G 1/22 und G 2/22, Nr. 100 der Gründe; s. Kapitel II.D.2.4.; s. auch T 2360/19 vom 5. März 2024 date: 2024-03-05 in Kapitel II.D.2.6.).
Der Großen Beschwerdekammer zufolge kann nicht ausgeschlossen werden, dass im Zusammenhang mit der Widerlegung der Vermutung der Prioritätsberechtigung auch nationales Recht berücksichtigt werden muss (G 1/22 und G 2/22, Nrn. 111 und 133 der Gründe; s. Kapitel II.D.2.4.1.).