2.4. Widerlegbare Vermutung der Prioritätsberechtigung
2.4.1 Einleitung
In G 1/22 und G 2/22 kam die Große Beschwerdekammer zu dem Schluss, dass es eine widerlegbare Vermutung nach dem autonomen Recht des EPÜ gibt, dass ein Anmelder, der eine Priorität unter Beachtung des Art. 88 (1) EPÜ und der entsprechenden Regeln der Ausführungsordnung beansprucht, zur Inanspruchnahme der Priorität berechtigt ist. Diese Vermutung ist angesichts des Zwecks von Prioritätsrechten, des Fehlens von Formerfordernissen für deren Übertragung und des angenommenen gemeinsamen Interesses des Prioritätsanmelders und des Nachanmelders begründet (G 1/22 und G 2/22, Nrn. 101 ff. der Gründe und Nr. I der Entscheidungsformel). Die Erwägungen, die zu dieser Vermutung der Prioritätsberechtigung führen, gelten für jeden Fall, in dem der Nachanmelder nicht mit dem Prioritätsanmelder identisch ist, aber vom Prioritätsanmelder die im Hinblick auf Art. 88 (1) EPÜ erforderliche Unterstützung erhält (G 1/22 und G 2/22, Nr. 107 der Gründe). Siehe auch T 2719/19 vom 20. November 2023 date: 2023-11-20, T 2360/19, T 2516/19, T 2689/19, T 521/18 vom 7. März 2024 date: 2024-03-07, T 2224/21, T 2643/16 vom 3. Juni 2024 date: 2024-06-03, T 1975/19, T 419/16 vom 24. Juni 2024 date: 2024-06-24 in Kapitel II.D.2.5.3., II.D.2.5.4. und II.D.2.6.1.
Laut der Großen Beschwerdekammer muss diese Vermutung widerlegbar sein, weil der Prioritätsanmelder in seltenen Ausnahmefällen berechtigte Gründe haben kann, dem Nachanmelder die Inanspruchnahme der Priorität zu untersagen (G 1/22 und G 2/22, Nrn. 106 bis 108 der Gründe und Nr. II der Entscheidungsformel).
Die widerlegbare Vermutung gilt auch in Fällen, in denen die europäische Patentanmeldung auf einer PCT-Anmeldung beruht und/oder der bzw. die Prioritätsanmelder und der bzw. die Nachanmelder nicht identisch sind. Siehe Kapitel II.D.2.5.1. und II.D.2.6.1.
Wie die Prioritätsberechtigung selbst (s. Kapitel II.D.2.3.) unterliegen die Vermutung ihrer Existenz und die Widerlegung dieser Vermutung ausschließlich dem autonomen Recht des EPÜ. Es besteht kein Spielraum für die Anwendung nationaler Rechtsvorschriften auf Rechtsvermutungen und ihre Widerlegung. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass im Zusammenhang mit der Widerlegung der Vermutung auch nationales Recht berücksichtigt werden muss. So könnte beispielsweise die Existenz von juristischen Personen, die an der Übertragung von Prioritätsrechten beteiligt sind, relevant sein und muss gegebenenfalls nach nationalem Recht überprüft werden (G 1/22 und G 2/22, Nrn. 111 und 133 der Gründe; zur Anwendung von nationalem Recht zur Beurteilung, ob eine juristische Person existiert, siehe G 1/13, ABl. 2015, A42, zusammengefasst in Kapitel V.A.2.4.3 d)). Zu Entscheidungen vor G 1/22 und G 2/22, bei denen nationales Recht berücksichtigt wurde, siehe Kapitel II.D.2.7.2.
Sind die Erfordernisse des Art. 88 (1) EPÜ nicht erfüllt, so kann der Nachanmelder die Priorität schon allein aus diesem Grund nicht in Anspruch nehmen. Die Erfüllung dieser verfahrensrechtlichen Voraussetzungen wird nicht von der Vermutung erfasst. Dies findet sich in der Entscheidungsformel von G 1/22 und G 2/22 wieder, in der die Einhaltung des Art. 88 (1) EPÜ und der entsprechenden Regeln der Ausführungsordnung als Voraussetzung für die widerlegbare Vermutung der Prioritätsberechtigung festgelegt wird (G 1/22 und G 2/22, Nr. 132 der Gründe und Nr. I der Entscheidungsformel).