2.2. Zuständigkeit des EPA für die Feststellung der Prioritätsberechtigung
2.2.2 Unterscheidung zwischen Recht auf die Nachanmeldung und Prioritätsrecht
Der Großen Beschwerdekammer zufolge ist im Rahmen des EPÜ und der Verfahren vor dem EPA streng zwischen dem Recht auf die Nachanmeldung (d. h. dem Recht auf das europäische Patent) und dem Prioritätsrecht zu unterscheiden. Das Recht auf die Nachanmeldung unterliegt dem nationalen Vermögensrecht. Seine Übertragung wird durch (anhand der nationalen Kollisionsregeln zu bestimmende) nationale Rechtsvorschriften geregelt und für die Zwecke des Art. 60 (3) EPÜ von den nationalen Gerichten beurteilt. Das Recht, den Prioritätstag für die europäische Nachanmeldung zu beanspruchen, ist hingegen als ein nach dem autonomen Recht des EPÜ und der PVÜ geschaffenes Recht zu betrachten, dessen Übertragung entsprechend auch nach dem autonomen Recht des EPÜ zu beurteilen ist (G 1/22 und G 2/22, Nr. 129 der Gründe). Siehe auch T 205/14 in Kapitel II.D.2.1.
Im Verfahren vor dem EPA gilt der Anmelder als berechtigt, das Recht auf das europäische Patent geltend zu machen (Art. 60 (3) EPÜ). Das EPA ist nicht befugt, über einen Rechtsstreit zu entscheiden, in dem es darum geht, ob ein bestimmter Anmelder einen Rechtsanspruch auf Anmeldung und Erteilung eines europäischen Patents für den Gegenstand einer bestimmten Anmeldung hat. Wie Fragen im Zusammenhang mit dem Recht auf Erteilung eines europäischen Patents vor der Patenterteilung zu klären sind, regelt das Protokoll über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen über den Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents. Nach der Patenterteilung sind die nationalen Gerichte für Entscheidungen über Streitigkeiten über das Recht auf das europäische Patent für jeden der benannten Vertragsstaaten zuständig (G 1/22 und G 2/22, Nr. 79 der Gründe; s. auch Kapitel IV.A.4.).
Laut der Großen Beschwerdekammer in G 1/22 und G 2/22 ist Art. 60 (3) EPÜ weder unmittelbar noch analog auf Streitigkeiten über die Übertragung des Prioritätsrechts anwendbar. In einem kodifizierten System, das die Grundsätze der Art. 31 und 32 Wiener Übereinkommen übernommen hat, kann ein Richter über die wörtliche Bedeutung einer Rechtsvorschrift hinausgehende Regeln nur festlegen (per Analogie oder auf andere Weise), um Rechtslücken zu füllen. Die Große Beschwerdekammer kam zu dem Schluss, dass es im vorliegenden Fall keine Rechtslücke gibt, die durch eine analoge Anwendung von Art. 60 (3) EPÜ gefüllt werden könnte (G 1/22 und G 2/22, Nr. 89 der Gründe).