T 2037/18 (Keine negative Darlegungslast im Einspruchsschriftsatz) 16-10-2019
Download und weitere Informationen:
WAGENKASTEN FÜR EIN SCHIENENFAHRZEUG MIT KUPPLUNGS-BEFESTIGUNGSEINRICHTUNG UND HERSTELLUNGSVERFAHREN DAFÜR
Zulässigkeit des Einspruchs - (ja)
Neuheit - öffentliche Zugänglichmachung
Neuheit - offenkundige Vorbenutzung
Neuheit - Darlegungslast für Geheimhaltungsverpflichtung
Beschwerdeentscheidung - Zurückverweisung an die erste Instanz (ja)
Vorlage an die Große Beschwerdekammer - (nein)
1. Nach den im Rahmen des EPÜ geltenden Regeln zur Darlegungs- und Beweislast hat jede Partei die ihr günstigen Tatsachen vorzutragen und zu beweisen, 'negativa non sunt probanda' (siehe Punkte 4 und 8).
2. Dementsprechend ist die Übergabe eines vorbenutzten Gegenstandes an einen Käufer durch den Einsprechenden vorzutragen und zu beweisen, die etwaige Bindung des Empfängers durch eine Geheimhaltungsvereinbarung (=Vertraulichkeitsabrede) vom Patentinhaber (siehe Punkt 8).
3. Der Vortrag des Patentinhabers kann zwar ggfs. zur Entstehung einer sekundären Darlegungs- und Beweislast des Einsprechenden führen, dies jedoch nur 'ex nunc' und damit ohne Auswirkung auf das Substantiierungserfordernis im Rahmen der Einspruchsschrift gemäß Regel 76 (2) c), 3. Punkt EPÜ (siehe Punkte 10 bis 13).
4. Es besteht keine aus der Rechtsprechung der Beschwerdekammern bekannte Vermutung, wonach zwischen Herstellern von Schienenfahrzeugen und Bahnbetreibergesellschaften bezüglich ausgelieferter und abgenommener Fahrzeuge in der Regel Vertraulichkeit vereinbart ist (siehe Punkt 17).
I. Mit der vorliegenden Beschwerde greift die Einsprechende (im weiteren: Beschwerdeführerin) die Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 12. Juni 2018 an, ihren am 16. September 2016 gegen das Patent
EP 2 619 063 der Beschwerdegegnerin eingereichten Einspruch als unzulässig zu verwerfen.
II. Im Einspruch hatte die Beschwerdeführerin vorgetragen, der von ihr hergestellte Zug 02 der TDR-Baureihe 460 sei - wie die Züge 01 und 03 bis 16 - durch seine Übergabe an die Betreibergesellschaft "Transregio Deutsche Regionalbahn GmbH" und die anschließende Abnahme am 12. Dezember 2008 offenkundig vorbenutzt und nehme (mit den aus den Anlagen D1/D2 ersichtlichen Merkmalen) den Gegenstand des Patents neuheitsschädlich vorweg. Bei der Abnahme seien sämtliche Gewerke des noch nicht lackierten Zuges eingehende untersucht worden, insbesondere auch der hier relevante Vorbau am Kurzkupplungsende und das Untergestell, an dem sämtliche Schweißnähte sichtbar waren. Der Zug gehöre daher zum Stand der Technik für die dem Einspruchspatent zugrunde liegende Erfindung.
III. Die Einspruchsabteilung hat diesen Vortrag als für eine Substantiierung des Einspruchs nicht ausreichend erachtet. Gemeinhin sei im Zeitraum rund um die Übergabe/Abnahme von Zügen, in dem noch einzelne Nachbesserungen vorzunehmen seien, in der Hersteller-Kunden-Beziehung jedenfalls eine implizit vorausgesetzte Vertraulichkeit anzunehmen. Es fehlten daher in der Einspruchsschrift genaueren Angaben, die geeignet gewesen wären, diese der Lebenserfahrung nach wahrscheinliche Annahme zu widerlegen, insbesondere Hinweise auf entsprechende Vertragsvereinbarungen.
IV. Die Beschwerdeführerin vertritt die Auffassung, die Einspruchsabteilung habe die Anforderungen an einen zulässigen Einspruch überspannt.
a) Sie sei bereits von einer falschen Grundannahme ausgegangen. Denn mit der Übergabe eines Zuges vom Hersteller an den Betreiber sei die Verfügungsgewalt auf diesen übergegangen; der Hersteller könne danach nicht mehr kontrollieren, wer von den im Zug verbauten technischen Maßnahmen Kenntnis erlange. Es entspreche daher der Lebenserfahrung, dass vor Übergabe der Fahrzeuge sämtliche technischen Neuerungen schutzrechtlich abgesichert seien.
b) Auf Kundenseite bestehe auch ein starkes Interesse, das betreffende Fahrzeug nach freiem Willen benutzen zu können. Daher sei es fernliegend, dass Kunden sich für einen möglichen Patentschutz des Herstellers an Neuerungen im Fahrzeug verantwortlich fühlen sollten; sie gingen vielmehr davon aus, dass der Hersteller diese schon im eigenen Interesse bis zur Übergabe schutzrechtlich wird abgesichert haben.
c) Derartige Neuerungen seien vielmehr auch die große Ausnahme, da die meisten Komponenten eines Zuges auf bewährter Technik aufbauten.
d) Der Ansatz der Einspruchsabteilung, von dem Einsprechenden sinngemäß eine Darlegung zu verlangen, dass der Ausnahmetatbestand, wonach für eine bestimmte Baugruppe bei Fahrzeugübergabe dem Empfänger eine Geheimhaltungsverpflichtung auferlegt wurde, nicht gegeben ist, laufe auf eine doppelte Verneinung hinaus.
e) Die Darlegungslast so weit zu ziehen, sei falsch. Die Einsprechende habe bei der Begründung ihres Einspruchs vielmehr von den typischen Randbedingungen ausgehen können, dass nach dem Empfängerhorizont ein Betreiber davon ausgehen wird, dass technische Innovationen die Ausnahme und zudem regelmäßig vor Übergabe schutzrechtlich abgesichert seien.
f) Es sei dann Sache der Patentinhaberin, darzulegen und nachzuweisen, dass die geltend gemachte Fahrzeugübergabe andere Randbedingungen hatte, als es sonst üblich ist.
g) Etwas anderes könne auch nicht aus dem Umstand geschlossen werden, dass nach der Übergabe ggfs. noch Mängel zu beseitigen sind (wie im streitgegenständlichen Fall im Abnahmeprotokoll D4 festgehalten).
h) Schließlich könne der auf technischen Zeichnungen regelmäßig vorhandene Geheimhaltungsvermerk, im vorliegenden Fall:
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
nicht zu einer anderen Beurteilung führen. Dieser sage nichts darüber aus, ob ein auf der Werkstattzeichnung dargestelltes Bauteil eine technische Neuerung aufweise oder auf einem bereits früher verwendeten technischen Prinzip beruhe. Er solle lediglich einen 1:1 Nachbau durch Wettbewerber verhindern, lasse aber keinen Rückschluss auf einen etwaigen patentfähigen Inhalt der Zeichnung zu.
i) Die Klausel betreffe das Urheberrecht und beziehe sich auch nur auf die Darstellung in den Zeichnungen und nicht automatisch zugleich auf die in den hergestellten Zügen dann umgesetzten technischen Merkmale. Diese seien ohne weitergehenden Hinweis der Herstellerin daher nicht bereits wegen der Klausel auf den Werkstattzeichnungen zum Gegenstand der Geheimhaltungsvereinbarung in Ziffer 14.1 des Kaufvertrags mit der Eigentümerin der Züge geworden. Selbst wenn man das anders sehen würde, hätten sie diesen Status aber wegen Ziffer 14.2 nicht erlangen können, da alle bereits bekannten oder später von der Herstellerin bekannt gemachten Informationen von der Geheimhaltungspflicht ausgenommen waren. Dies hätte dann auch die streitgegenständliche Gestaltung der Kupplungsvorrichtung betroffen, da ein Zug der TDR-Baureihe 460 unstreitig im Jahr 2008 auf der Messe Innotrans ausgestellt gewesen ist und dort von jedermann genau inspiziert werden konnte.
j) Da bei An- und Abkupplungen von Teilzügen und bei der Wartung, die in den zwei Jahren vor der Priorität des angegriffenen Patents natürlich durchgeführt werden musste, die die Erfindung angabegemäß vorweg nehmenden Bauteile sichtbar waren, sei auch nicht ersichtlich, warum die Einsprechende hierzu weitere Ausführungen hätte machen sollen.
V. Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben, die Zulässigkeit des Einspruchs festzustellen und die Sache zur weiteren Verhandlung an die Einspruchsabteilung zurück zu verweisen.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen. Sie regte ferner an, dass die Kammer eine Vorlage an die Große Beschwerdekammer prüfen solle.
VI. Die Beschwerdegegnerin folgt der Auffassung der Einspruchsabteilung und führt ergänzend aus:
a) Die Beschwerdeführerin habe sich in der Einspruchsbegründung nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob die behauptete Vorbenutzung der TDR-Baureihe 460 offenkundig war. Wegen der in der Branche üblichen Vereinbarung von Vertraulichkeit über technische Details zwischen Hersteller und abnehmendem Betreiber wäre dies aber erforderlich gewesen.
b) Anlass dazu habe konkret wegen der Geheimhaltungsvermerke auf den Werkstattzeichnungen und Stücklisten D1, D1A, D2 und D2A und einer Vertraulichkeitsklausel im Rahmenvertrag mit der Eigentümerin "Angel Trains Limited" D11 bestanden. Die Eigentümerin sei verpflichtet gewesen, diese Vertraulichkeitsverpflichtung an ihre Leasingnehmerin, die Betreiberin der Züge, weiterzugeben. Der Rahmenvertrag sei so zu lesen, dass geheim zu halten war, was dem Partner als geheimhaltungsbedürftig mitgeteilt wurde. Eine derartige Mitteilung sei vorliegend in den Geheimhaltungsvermerken auf den Werkstattzeichnungen zu sehen. Diese betreffe auch nicht nur das Urheberrecht.
c) Es sei nicht einzusehen, warum die Geheimhaltungsbedürftigkeit, die verhindern soll, dass Wettbewerber während der Entwicklung eines Schienenfahrzeugs Kenntnis von dem Inhalt der Entwicklung erlangen, mit der Auslieferung an einen Betreiber enden sollte.
d) Da die Beschwerdeführerin in der Einspruchsschrift keine näheren Gründe dargelegt habe, warum die technischen Details dennoch als der Öffentlichkeit bekannt anzusehen gewesen seien, fehle es an der Substantiierung dieses Punktes. Die bloße Überschrift und der Verweis auf Übergabe und Abnahme genügten vor dem Hintergrund nicht.
e) Die später erwähnte Möglichkeit, dass technische Informationen betreffend den Kupplungsvorbau von (zur Geheimhaltung verpflichteten) Mitarbeitern der Betreiberin an andere Fachleute weitergegeben worden sein könnten, genügt nicht, wenn keine konkrete derartige Offenbarung in der Einspruchsschrift hätte dargelegt wurde.
f) Gleiches gelte von der Wahrnehmbarkeit der relevanten technischen Merkmale im Fahrbetrieb. Auch diese sei seinerzeit nicht dargelegt worden. Überdies treffe der (somit allenfalls für die Begründetheit des Einspruchs relevante) Vortrag auch inhaltlich nicht zu.
g) Die Rechtsprechung der Kammern, insbesondere die Entscheidung T 522/94 (Ziffer 24 und 26 der Gründe) ordne das Fehlen einer Geheimhaltungsvereinbarung unter die wesentlichen Tatbestandsmerkmale einer offenkundigen Vorbenutzung ein, die vom Einsprechenden bereits in den Einspruchsschrift dargelegt werden müssten, damit der Gegenstand des Einspruchs vollständig und aus sich heraus verständlich sei.
VII. Die Kammer hat am 24. Juni 2019 eine Mitteilung erlassen und die Parteien auf ihre Sicht zu den vor dem Europäischen Patentamt geltenden Regeln zur Verteilung der Darlegungs- und Beweislast hingewiesen.
VIII. Am 16. Oktober 2019 wurde die Sache mit den Parteien mündlich verhandelt. Die Beschwerdegegnerin unterbreitete dabei Vorschläge für Fragen, die die Kammer von Amts wegen der Großen Beschwerdekammer vorlegen könnte. Am Ende der Verhandlung verkündete der Vorsitzende die unten wiedergegebene Entscheidung.
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung. Die Kammer erachtet eine Vorlage an die Große Beschwerdekammer nicht als geboten.
1. Es ist in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern anerkannt, dass das Substantiierungserfordernis gemäß Regel 76(2)c), 3. Punkt, EPÜ "sowie die Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel" erreichen will, dass der Standpunkt des Einsprechenden in der Einspruchsschrift so deutlich dargelegt wird, dass sowohl der Patentinhaber als auch die Einspruchsabteilung wissen, worum es bei dem Einspruch geht (T 228/85), und diesen auf seine Begründetheit hin prüfen können; ob die vorgebrachten Argumente schlüssig oder gar überzeugend sind, spielt dabei zunächst noch keine Rolle (T 234/86, Gründe Nr. 2.1. bis 2.4, T 426/08, Gründe Nr. 5.1.3, T 934/99, Gründe Nr. 6).
2. Eine offenkundige Vorbenutzung ist dann ausreichend substantiiert, wenn Zeitpunkt (wann?), Gegenstand (was?) und Umstände der Benutzungshandlung (wie, einschließlich wo und durch wen?) dargelegt und Beweismittel dazu angegeben sind. Ob die dargelegten Tatsachen dann tatsächlich bewiesen sind bzw. noch werden, ist eine Frage der Begründetheit. "Der Nachweis, dass die angebliche Vorbenutzung tatsächlich öffentlich war, ist daher für die Zulässigkeit des Einspruchs unerheblich, kann jedoch unter Umständen für die Beurteilung der materiellrechtlichen Begründetheit des Einspruchs von Bedeutung sein", vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern 2019, IV.C.2.2.8.d) mit weiteren Entscheidungszitaten. Das Nichtbestehen einer Geheimhaltungsvereinbarung muss daher im Einspruch noch nicht nachgewiesen sein.
3. Ob der Einspruch aber überhaupt schon Angaben zu etwaigen Geheimhaltungsvereinbarungen enthalten muss, beantwortet sich nach den einschlägigen Regeln zur Verteilung der Darlegungslast.
4. Die Darlegungs- und Beweislast ist in den meisten Rechtssystemen und auch im Verfahren vor dem EPA außerhalb des der Amtsermittlung zugänglichen Bereichs so verteilt, dass jede Partei die ihr günstigen Tatsachen vortragen und beweisen muss, also die Tatsachen, die ihre eigene Behauptung stützen (T 219/83, Gründe Nr. 13; T 270/90, Gründe Nr. 2.1).
5. Bezogen auf die Frage, was einer Anmeldung als neuheitsschädlich entgegengehalten werden kann, bestimmt Artikel 54(2) EPÜ: "Den Stand der Technik bildet alles, was der Öffentlichkeit vor dem Anmeldetag der Europäischen Patentanmeldung durch schriftliche oder mündliche Beschreibung oder in sonstiger Weise zugänglich gemacht wurde."
6. Es ist in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern anerkannt, dass eine Information dann der Öffentlichkeit zugänglich gemacht ist, wenn auch nur ein einziges Mitglied der Öffentlichkeit in der Lage ist, sich Zugang zu dieser Information zu verschaffen und sie zu verstehen und wenn dieses nicht durch eine Geheimhaltungsverpflichtung gebunden ist (siehe etwa T 1081/01, Gründe Nr. 5, mit weiteren Nachweisen). Der Verkauf eines gebrauchsfertigen Gegenstandes an einen Dritten ist der typische Fall der öffentlichen Zugänglichmachung (vgl. T 482/89, Gründe Nr. 3), denn der Dritte ist in der Regel daran interessiert, über den Gegenstand frei zu verfügen.
7. Beim Verkauf eines Gegenstandes an einen Kunden werden der Gegenstand und die an ihm erkennbaren technischen Merkmale daher öffentlich zugänglich, wenn er an den Käufer übergeben wird (positive Tatsache), es sei denn der Käufer wäre durch eine Geheimhaltungsverpflichtung gebunden (negative Tatsache). Bei Geltendmachung einer öffentlichen Vorbenutzung im Einspruch ist die erstgenannte Tatsache dem Einsprechenden günstig, während die zweitgenannte dem Patentinhaber günstig ist, da sie den Käufer aus dem Kreis der Öffentlichkeit ausnehmen würde.
8. Nach den oben dargelegten Darlegungs- und Beweislastregeln ist daher die Übergabe an einen Käufer durch den Einsprechenden vorzutragen und zu beweisen (T 326/93, Gründe Nr. 4.1), die etwaige Bindung des Empfängers durch eine Geheimhaltungsvereinbarung (=Vertraulichkeitsabrede) aber vom Patentinhaber (T 221/91, Gründe Nr. 2 am Ende; T 969/90, Gründe Nr. 3.3). Der auch in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern (vgl. R 15/11, Gründe Nr. 5; R 4/17, Gründe Nr. 4) anerkannte Grundsatz "negativa non sunt probanda" bringt eben diese Beweislastverteilung plastisch zum Ausdruck: eine Prozesspartei muss eine negative Tatsache nicht beweisen; vielmehr ist es an der Gegenseite, gegebenenfalls die ihr günstige positive Tatsache zu beweisen. Die Darlegungslast folgt dabei regelmäßig der Beweislast.
9. Daher musste im vorliegenden Fall die Einsprechende die Details der Offenbarung an eine dritte Person darlegen (hier an die Betreibergesellschaft "Transregio Deutsche Regionalbahn GmbH" der Desiro Mittelrheinbahn, die die Züge statt des Käufers, der Leasinggesellschaft "Angel Trains Ltd." direkt entgegen genommen hat), die Patentinhaberin dann den Umstand, dass eine Geheimhaltungsvereinbarung vorlag.
10. Die Darlegungs- und Beweislast kann zwar wechseln, wenn eine Partei entweder die von ihr vorgetragenen Tatsachen prima facie bewiesen hat (T 382/93, Gründe 5.6.3 und 5.6.4) oder wenn eine Partei Umstände vorgetragen und bewiesen hat, die für eine tatsächliche Vermutung sprechen (T 743/89, Gründe Nr. 3, teilweise auch als Beweis des ersten Anscheins bezeichnet) und es daher an der Gegenpartei ist, nun Tatsachen darzulegen und zu beweisen (T 109/91, Gründe Nr. 2.10), aus denen folgt, dass der Sachverhalt doch anders zu beurteilen ist, als er prima facie oder aufgrund der Vermutung erscheint.
11. Der Wechsel der Beweislast wird jedoch erst durch den prima facie geführten Beweis oder den Vortrag eines eine tatsächliche Vermutung tragenden typischen Geschehensablauf durch die primär beweisbelastete Partei ausgelöst (T 570/08, Gründe Nr. 1.1.4 am Ende). Erst als Konsequenz hieraus obliegt es der dann sekundär beweispflichtigen Gegenseite, den Gegenbeweis anzutreten bzw. die Vermutung zu erschüttern (T 1162/07, Gründe Nr. 3.3).
12. Daraus folgt, dass das Nichtbestehen einer Geheimhaltungsverpflichtung von der Einsprechenden nur dann zu beweisen ist, wenn die Patentinhaberin die Existenz einer solchen Verpflichtung prima facie bewiesen oder tatsächliche Umstände vorgetragen hat, die die jedenfalls implizite Vereinbarung von Vertraulichkeit vermuten lassen. Dies bedeutet zugleich, dass ein solcher Wechsel der Beweislast erstmals durch einen Vortrag der Patentinhaberseite in der Erwiderung auf den Einspruch ausgelöst werden kann. Da die Darlegungslast der Beweislast folgt, besteht auch erst dann die Notwendigkeit, zum Nichtbestehen einer Geheimhaltungsverpflichtung vorzutragen.
13. Zusammen gefasst bedeutet dies: Der Vortrag des Patentinhabers kann zwar ggfs. zur Entstehung einer sekundären Darlegungs- und Beweislast des Einsprechenden führen, dies jedoch nur 'ex nunc' und damit ohne Auswirkung auf das Substantiierungserfordernis im Rahmen der Einspruchsschrift gemäß Regel 76 (2) c), 3. Punkt EPÜ.
14. Gegen diese Einschätzung spricht nicht der Umstand, dass in manchen Entscheidungen (T 522/94, Gründe 24; T 897/01, Gründe 2.5.1; T 837/02, Gründe 2.9) das Nichtbestehen von Vertraulichkeitsabreden in einem Atemzug mit den zur Substantiierung einer offenkundigen Vorbenutzung im Einspruch notwendigen Tatsachen genannt wird. Keine dieser Entscheidungen, insbesondere auch nicht T 522/94, auf die die Patentinhaberin sich im vorliegenden Verfahren zu stützen suchte (siehe dort Gründe 24 und 26), hat die Frage eingehender untersucht; keine der Entscheidung hätte dazu auch Anlass gehabt, da dieser Punkt für sich alleine genommen in keinem der Fälle entscheidungserheblich war, da es jeweils bereits an anderen darzulegenden (positiven) Tatsachen zum Was, Wann und Wo der behaupteten Vorbenutzungen fehlte.
15. Es handelt sich also letztendlich um obiter dicta ohne nähere Begründung und nicht um abweichende Entscheidungen, die Anlass zu einer Vorlage an die Große Beschwerdekammer gemäß Artikel 112 (1) a) 1. Alternative EPÜ geben würden. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass, sollte die Frage erneut entscheidungserheblich werden, Kammern entweder dem hier vorgeschlagenen, ausführlich begründeten Weg folgen oder, wenn dieser sie nicht überzeugt, ihrerseits abweichende Erwägungen gemäß Artikel 20 (1) VOBK niederlegen bzw. die hier getroffene Entscheidung zum Anlass für eine eigene Vorlage an die Große Beschwerdekammer nehmen werden.
16. Eine Vorlage ist auch nicht gemäß Artikel 112 (1) a)
2. Alternative EPÜ geboten, da die Kammer bereits unter Anwendung der in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern entwickelten anerkannten Grundsätze des Beweisrechts in der Lage ist, den Fall zu entscheiden; darüber hinaus dürfte - wofür auch der Umstand spricht, dass die Frage in über 40 Jahren nie alleine entscheidungserheblich wurde - kein Fall von grundsätzlicher Bedeutung vorliegen.
17. Es kann dahin stehen, ob der Fall anders zu beurteilen wäre, wenn die Einsprechende selbst im Einspruch Umstände schildert, die eine der in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern anerkannten Vermutungen für die Existenz einer Vertraulichkeitsabrede begründen, etwa den Umstand, dass der Gegenstand der Erfindung ausschließlich dem Partner einer Entwicklungskooperation noch deutlich vor der Phase des Markteintritts offenbart wurde, vgl. T 541/92 oder im Bereich der Zulieferung von Einzelteilen größerer Vorrichtungen ausschließlich zwischen Auftragnehmer und Auftraggeber offenbart wurde, vgl. T 830/90 bzw. T 799/91. Denn eine vergleichbare Konstellation ist vorliegend nicht gegeben. Eine Recherche im Gesamtbestand der Beschwerdekammerrechtsprechung hat keinen Fall zutage gefördert, bei dem eine Kammer aus der Auslieferung eines Schienenfahrzeugs an eine Betreibergesellschaft auf die Existenz einer stillschweigende Geheimhaltungsvereinbarung geschlossen hätte. Der Verkauf an einen Endkunden, der in der Regel frei über den Gegenstand verfügen will, wird vielmehr aus den oben 6 genannten Gründen als der typische Fall einer Offenbarung an die Öffentlichkeit angesehen.
18. Der vorliegende Fall liegt auch anders als der in T 887/90 zu entscheidende; denn die einen Vertraulichkeitsvermerk enthaltenden Zeichnungen waren im dortigen Fall nur im Rahmen eines Angebots, das nie zu einer Warenlieferung führte, übersandt worden und sollten selbst den Gegenstand der offenkundigen Vorbenutzung bilden (T 887/90, Gründe 3). Hier dagegen wurde zum einen der Zug, auf den sich die Konstruktionszeichnung bezieht, ausgeliefert und abgenommen. Zum anderen stützt sich der Vortrag der offenkundigen Vorbenutzung auf die Details, die an dem ausgelieferten Zug für die Betreibergesellschaft (und die von ihr zum Betrieb und zur Wartung eingesetzten Personen) erkennbar waren; die Zeichnungen dienen nur dazu, die Ausgestaltung dieser Details im Verfahren darzustellen und zu beweisen.
19. Daher dürfte die Argumentation der Beschwerdegegnerin, die sich auf den Vertraulichkeitsvermerk auf den Zeichnungen stützt, auch letztlich nicht verfangen. Dieser Vermerk schützt die Zeichnungen und deren Inhalt, also die daraus ersichtlichen Maße und Details vor unbefugter Vervielfältigung und Verbreitung. Der Schluss, dass deswegen auch die Details der Bauteile, die nicht den Zeichnungen entnommen werden müssen, sondern (auch) an den Zügen selbst nach deren Auslieferung und Abnahme erkennbar sind, geheim gehalten werden müssten, lässt sich aus diesem Vermerk allein nicht ziehen und zwar weder aus dem urheberrechtlichen Teil noch aus der allgemeinen Angabe, dass die Geltendmachung von Ansprüchen für den Fall der Erteilung technischer Schutzrechte vorbehalten werden. Es erscheint der Kammer auch fraglich, ob Ziffer 14.1 c) des Rahmenabkommens D11 so weit ausgelegt werden kann, dass außer den konkret als vertraulich bezeichneten Zeichnungen selbst auch sämtliche dort gezeigten Bauteile der Züge, bei Übergabe eines kompletten Satzes Konstruktionspläne also letztlich jedes Detail des fertigen und ausgelieferten Zuges geheim zu halten ist. Dies dürfte für den normalen Betrieb kaum umsetzbar sein, so dass eher zu erwarten wäre, dass über das allgemeine Verbot hinaus, die Konstruktionszeichnungen zu vervielfältigen und weiter zu verbreiten, zur Umsetzung von Ziffer 14.1 c) des Rahmenabkommens D11 konkrete Hinweise gegeben werden müssten, welche einzelnen Details noch nicht durch technische Schutzrechte geschützt sind und daher geheim zu halten sind.
20. Letztlich werden die in Ziffer 18 und 19 geschilderten Umstände aber ohnehin erst auf der Ebene der Begründetheit Bedeutung erlangen; einen Grund für die Zurückweisung des Einspruchs als unzulässig könnten sie aus den oben 3 bis 13 genannten Gründen nicht liefern.
21. Da der Einspruch entgegen der Annahme der Einspruchsabteilung zulässig ist, ist das Einspruchsverfahren in der Sache durchzuführen und über die inhaltliche Begründetheit des Einspruchs zu entscheiden. Eine Zurückverweisung der Angelegenheit gemäß Artikel 111 EPÜ, Artikel 11 VOBK an die Einspruchsabteilung, die zwar bereits Hinweise in der Sache gegeben, dann aber wegen der vorrangigen Zulässigkeitsfrage über diese nicht entschieden hat, erscheint in dieser Situation geboten.
22. Eine Rückerstattung der Beschwerdegebühr war nicht (von Amts wegen) anzuordnen, da die Einspruchsabteilung nur einer im Ergebnis unzutreffenden Rechtsauffassung gefolgt ist, dabei aber keinen wesentlichen Verfahrensfehler begangen hat.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Zulässigkeit des Einspruchs wird festgestellt.
3. Die Angelegenheit wird zur weiteren Verhandlung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen.