8.3. Wissensstand der Fachperson
8.3.1 Allgemeines
Für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ist das Wissen der Fachperson vor dem Prioritäts- bzw. Anmeldetag maßgebend (s. T 268/89, ABl. 1994, 50 und T 365/89). Sind bei ein und derselben Erfindung sowohl die ausreichende Offenbarung als auch die erfinderische Tätigkeit zu beurteilen, so ist in beiden Fällen der gleiche Wissensstand zugrunde zu legen (T 60/89, ABl. 1992, 268; T 373/94; T 99/14; T 1861/16; s. auch Kapitel II.C.4.1 "Die Offenbarung ist an eine Fachperson adressiert"). In T 694/92 (ABl. 1997, 408) wurde hinzugefügt, dass für die Zwecke der Art. 56 und Art. 83 EPÜ 1973 derselbe Wissensstand maßgeblich, die jeweilige Ausgangssituation aber eine andere ist: Für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ist entscheidend, dass die Fachperson nur den Stand der Technik kennt, für die Beurteilung der ausreichenden Offenbarung dagegen, dass sie den Stand der Technik und die offenbarte Erfindung kennt.
In T 2039/18 befand die Kammer, dass die Fähigkeit der Fachperson, eine Erfindung auf Grundlage der Informationen im Streitpatent und im allgemeinen Fachwissen auszuführen, völlig unabhängig davon ist, ob ihr Gegenstand für dieselbe Fachperson im Hinblick auf den Stand der Technik naheliegend ist. Bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit reicht es demnach nicht, dass die Fachperson über entsprechende Fähigkeiten verfügt, es muss vielmehr auch eine Veranlassung für die Maßnahme bestehen. Diese darf nicht aufgrund einer retrospektiven Betrachtung konstruiert werden (s. Kapitel I.D.6. "Rückschauende Betrachtungsweise"). Die Kammer hielt daher in diesem Zusammenhang eine Gleichsetzung der Anforderungen von Art. 83 und Art. 56 EPÜ für nicht gerechtfertigt.