D. Erfinderische Tätigkeit
6. Rückschauende Betrachtungsweise
In vielen Entscheidungen der Beschwerdekammern wird bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit vor einer rückschauenden Betrachtungsweise (auch Ex-post-facto-Analyse genannt) gewarnt (s. auch EPÜ Richtlinien G‑VII, 8 – Stand April 2025). Dieses ist insbesondere bei Erfindungen, die auf den ersten Blick als naheliegend erscheinen, bzw. bei angeblicher "Einfachheit eines Lösungsvorschlags" und bei Kombinationserfindungen zu beachten. Durch die korrekte Anwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes wird eine rückschauende Betrachtungsweise vermieden, die unzulässigerweise von der Kenntnis der Erfindung Gebrauch macht (T 24/81, ABl. 1983, 133; T 564/89; T 645/92; T 795/93).
Bei der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit ist eine Interpretation der Entgegenhaltungen zu vermeiden, die durch die erfindungsgemäße Aufgabenstellung beeinflusst wird, wenn diese Aufgabenstellung weder erwähnt noch nahegelegt wurde, denn eine solche Auslegung kann nur das Ergebnis einer Ex-post-facto-Analyse sein (T 5/81, ABl. 1982, 249; T 63/97, T 170/97, T 414/98, T 2622/19, T 2004/21).
In T 970/00 befand die Kammer, dass jede nachträgliche Analyse und insbesondere jede Schlussfolgerung, die über das hinausgeht, was die Fachperson – ohne im Nachhinein Kenntnis der Erfindung zu haben – objektiv aus dem Stand der Technik hergeleitet hätte, zwangsläufig im Widerspruch zur richtigen Anwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes steht. Jeder Versuch, die Offenbarung des nächstliegenden Stands der Technik so auszulegen, dass die eigentliche technische Lehre der Offenbarung aufgrund der nachträglichen Kenntnis der Erfindung so verfälscht oder entstellt wird, dass sie bestimmten im betreffenden Anspruch genannten Merkmalen künstlich gerecht wird, muss fehlschlagen, und zwar vor allem, weil dies mit dem Risiko verbunden wäre, dass der technische Beitrag der Erfindung unrechtmäßig und tendenziös verborgen und die anschließende objektive Bestimmung der technischen Aufgabe beeinträchtigt würde, die durch die beanspruchte Erfindung gelöst wird (s. auch T 266/07, T 1486/10).
Die Kammer in T 2201/10 gelangte zu der Auffassung, dass die Prüfungsabteilung bei ihrer Analyse des vorliegenden Sachverhalts eine rückschauende Betrachtungsweise angewandt habe. Selbst wenn man nämlich davon ausgehe, dass sich die vorgeschlagene Lösung aus dem allgemeinen Fachwissen ergebe, widerspreche sie doch im Kern der Lehre des nächstliegenden Stands der Technik und wäre daher realistischerweise nicht herangezogen worden. Nach dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz sind Dokumente, die nicht zum selben technischen Gebiet wie die Erfindung gehören, außer Acht zu lassen. Auch verbietet der Aufgabe-Lösungs-Ansatz eine Analyse, wonach die Fachperson den nächstliegenden Stand der Technik entgegen seiner Funktion modifiziert hätte. Mit anderen Worten: Schon die Feststellung, dass sich eine Erfindung, so wie sie in den Ansprüchen gekennzeichnet ist, im Kern von der Offenbarung eines Stands der Technik in Anbetracht des dort verfolgten Ziels entfernt, reicht für die Schlussfolgerung aus, dass die beanspruchte Erfindung gegenüber der Lehre dieses Stands der Technik erfinderisch ist (s. auch T 2057/12).
In T 855/15 befand die Kammer, dass bei der Beurteilung des Naheliegens die Überlegung, was die Fachperson tun würde und insbesondere ob sie ein bestimmtes Dokument "auswählen würde, um zur beanspruchten Erfindung zu gelangen", einer rückschauenden Betrachtungsweise gleichkommt, weil davon ausgegangen werden müsste, dass die Fachperson die Erfindung kennt, bevor argumentiert werden könnte, was sie tun würde, um "zu der Erfindung zu gelangen". Die Kammer in T 2057/12 stimmte der Kammer in T 855/15 insoweit zu, als der nächstliegende Stand der Technik zum selben oder zu einem angrenzenden technischen Gebiet der Fachperson oder zu seinem allgemeinen Fachwissen gehört. Es müsse begründet oder nachgewiesen werden, warum die Fachperson auf einem spezifischen technischen Gebiet tatsächlich erwogen hätte, ein Dokument aus einem weitab liegenden Gebiet der Technik als nächstliegenden Stand der Technik auszuwählen, bzw. ob sie tatsächlich überlegt hätte, eine auf seinem technischen Gebiet zum Stand der Technik gehörende Offenbarung so anzupassen, dass sie auf einem weitab liegenden Gebiet der Technik umgesetzt werden konnte.
In T 1087/15 betonte die Kammer, dass unabhängig davon, wie "nahe" das Dokument des Stands der Technik der beanspruchten Erfindung kommt, die Kenntnis der beanspruchten Erfindung für die Formulierung der objektiven technischen Aufgabe absolut unabdingbar ist; die den beanspruchten Gegenstand vom Ausgangsdokument unterscheidenden Merkmale müssen identifiziert werden, ihre technische Wirkung muss bestimmt und somit die zu lösende Aufgabe formuliert werden. Sofern diese Kenntnis als "rückschauend" einzustufen ist, ist genau diese Art der rückschauenden Betrachtung Voraussetzung dafür, dass die technische Aufgabe auf einer objektiven Grundlage formuliert wird. Solange es keinen (vorrangig technischen) Grund gibt, warum der Inhalt des als nächstliegender Stand der Technik ausgewählten Dokuments als solcher für eine Verwendung zusammen mit dem beanspruchten Gegenstand nicht geeignet oder nicht kompatibel wäre, ist jegliche Analyse, wie "nahe" das Ausgangsdokument des Stands der Technik der beanspruchten Erfindung kommt, nichts, was dieses Dokument als nächstliegenden Stand der Technik ausschließen würde.
In T 1349/19 stellte die Kammer fest, dass die Argumente des Beschwerdeführers (des Einsprechenden) eine komplizierte Abfolge von Schritten beinhalten, die von den in Anspruch 1 definierten Zusammensetzungen ausgehend rückwärts verlaufen, um die beträchtliche Lücke zu der in D19 beschriebenen Zusammensetzung (dem nächstliegenden Stand der Technik) zu überbrücken. Da diese Schritte nicht im Stand der Technik vorgeschlagen werden, können sie nur nachträglich unternommen werden. S. auch T 1750/19, in der die Kammer feststellte, dass die Kombination unvereinbarer Dokumente des Stands der Technik nur rückschauend möglich gewesen ist, und Entscheidung T 2643/16 vom 16. Februar 2023 date: 2023-02-16, in der festgestellt wurde, dass eine notwendige zweistufige Kombination von Dokumenten des Stands der Technik auf einer rückschauenden Betrachtungsweise beruht, wobei zahlreiche weitere Fälle von rückschauender Betrachtungsweise in Bezug auf alternative Kombinationen von Dokumenten des Stands der Technik festgestellt wurden.
In T 1126/19 offenbarte das Dokument des nächstliegenden Stands der Technik D1 eine Liste von etwa 60 pharmazeutisch akzeptablen Salzen von Rucaparib, die in der Therapie verwendet werden können, darunter Camsylat, obwohl dies nicht zu den bevorzugten Optionen gehörte. Die Erfindung basierte auf der Erkenntnis, dass kristallines Rucaparib-Camsylat besonders für die Herstellung fester Darreichungsformen geeignet ist. Die Kammer befand, dass statt der spezifischen Option des Camsylatsalzes die gesamte Liste in D1 als Ausgangspunkt dienen sollte. Wie in T 970/00 erläutert, ist die Offenbarung des nächstliegenden Stands der Technik auf Grundlage seiner technischen Informationen zu ermitteln, ohne dass diese durch die Kenntnis der Erfindung verzerrt oder falsch dargestellt werden. Die Isolierung einer der nicht bevorzugten Optionen (Camsylat) würde die Lehre von D1 verzerren und dieser Option ein unangemessenes Gewicht verleihen.
In T 2196/21 definierte die Kammer die objektive technische Aufgabe folgendermaßen: "Wie kann eine zuverlässige Überprüfung der Warnmeldungen von D9 am Empfangsgerät mit effizienter Bandbreitennutzung ermöglicht werden?". Sie stellte fest, dass D9 von der Erfindung wegführt und die Fachperson somit, um zur beanspruchten Erfindung zu gelangen, die explizite Lehre dieses Dokuments verwerfen und sich unzulässigerweise einer rückschauenden Betrachtungsweise bedienen müsste. Somit erfordert der Gegenstand von Anspruch 1 eine erfinderische Tätigkeit, die von D9 ausgeht.
In T 1888/21 war die Kammer nicht der Ansicht, dass eine Analyse der erfinderischen Tätigkeit zur Vermeidung einer rückschauenden Betrachtungsweise notwendigerweise von der allgemeinen Lehre eines Dokuments ausgehen sollte, wie z. B. in den Ansprüchen angegeben. Dies ist fallabhängig. Eine bevorzugte Ausführungsform, wie z. B. ein spezifisches Beispiel eines Patentdokuments, das eindeutig eine Kombination konkreter und erfolgversprechender Maßnahmen zur Erreichung der im zu prüfenden Patent festgelegten Ziele beschreibt, stellt einen realistischen Ansatz der Fachperson dar.