G 0007/91 (Rücknahme der Beschwerde) 05-11-1992
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Zusammenfassung des Verfahrens
I. In der vor der Technischen Beschwerdekammer 3.3.1 anhängigen Sache T 357/89 war nach Einspruch durch Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung das europäische Patent in geändertem Umfang aufrechterhalten worden. Gegen diese Entscheidung legte die einzige Einsprechende Beschwerde ein mit dem Antrag, die Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen. Ihre Beschwerde stützte die Beschwerdeführerin auf gewisse in der Entscheidung der Einspruchsabteilung genannte Entgegenhaltungen und zusätzlich auf eine ältere europäische Patentanmeldung, die dem angegriffenen Patent gemäß Artikel 54 (3) EPÜ neuheitsschädlich entgegenstehe. Daraufhin legte die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) neue Patentansprüche vor. Anschließend nahm die Beschwerdeführerin ihre Beschwerde zurück.
II. In der Begründung ihrer Vorlage-Entscheidung vom 19. August 1991 hielt die Beschwerdekammer 3.3.1 eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer zu der Frage für erforderlich, ob sie das vor ihr anhängig gewesene Beschwerdeverfahren trotz der Rücknahme der Beschwerde fortsetzen dürfe. Einen Anlaß dafür stelle die von der Einsprechenden genannte ältere europäische Patentanmeldung dar, die von der Kammer als relevant erachtet werde. Das scheine auch die Auffassung der Patentinhaberin zu sein, da sie neue Patentansprüche vorgelegt habe. Die Kammer führte u. a. auch aus, daß es im Interesse der Öffentlichkeit wünschenswert wäre, wenn die Kammer das Beschwerdeverfahren fortsetzen könnte, um entweder das angegriffene Patent nur in beschränktem Umfang aufrechtzuerhalten oder - falls erforderlich - zu widerrufen.
III. Die Beschwerdekammer 3.3.1 hat deswegen und nach einer Analyse der rechtlichen Lage nach dem EPÜ, die als nicht eindeutig bezeichnet wurde, die Große Beschwerdekammer mit folgenden Rechtsfragen befaßt:
1. Kann eine Technische Beschwerdekammer ein Einspruchsbeschwerdeverfahren fortsetzen, nachdem der einzige Beschwerdeführer, der in erster Instanz Einsprechender war, seine Beschwerde zurückgenommen hat?
2. Wenn die Frage zu 1 bejaht wird:
a) Wie ist ein Beschwerdeverfahren nach Rücknahme der Beschwerde des einzigen Einsprechenden zu beenden?
b) Welche Grundsätze sind für eine Entscheidung, das Beschwerdeverfahren fortzusetzen, maßgebend?
c) Welche Verfahrensgrundsätze sind in dem fortzusetzenden Beschwerdeverfahren anzuwenden?
IV. Das Verfahren hinsichtlich dieser Rechtsfragen ist bei der Großen Beschwerdekammer unter dem Aktenzeichen G 7/91 anhängig.
V. In der vor der Technischen Beschwerdekammer 3.2.2 anhängingen Sache T 695/89 war der (einzige) Einspruch gegen das europäische Patent von der Einspruchsabteilung zurückgewiesen worden. Die Einsprechende legte Beschwerde ein und beantragte den Widerruf des Patents. Daraufhin legte die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) neue Patentansprüche vor. Anschließend nahm die Beschwerdeführerin (Einsprechende) die Beschwerde zurück.
VI. In der Begründung ihrer Vorlage-Entscheidung vom 9. September 1991 führte die Beschwerdekammer 3.2.2 u. a. aus, daß das EPÜ keine ausdrückliche Regelung über die Rücknahme der Beschwerde und die Folgen einer solchen Rücknahme enthalte. Es stelle sich somit die Frage, ob mit der Rücknahme der Beschwerde das Beschwerdeverfahren, unabhängig von seinem sachlichen Stand, automatisch beendet ist und somit die Entscheidung der Vorinstanz in Rechtskraft erwächst oder ob das Beschwerdeverfahren grundsätzlich auch nach dem Wegfall der Beschwerde des einzigen Beschwerdeführers noch fortgeführt werden kann und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen. Die Klärung dieser Frage sei übrigens von Bedeutung nicht nur für das inter partes-Verfahren, sondern auch für das ex parte- Verfahren. Die Kammer hat in diesem Zusammenhang besonders das Problem erwähnt, daß eine Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) angesichts eines neu in das Beschwerdeverfahren eingeführten Standes der Technik ihr Patent einschränken will und sich daran durch die Rücknahme der Beschwerde durch die Einsprechende (Beschwerdeführerin) gehindert sieht, was in dieser Sache der Fall sei; die Patentinhaberin habe aufgrund der in der Beschwerdebegründungsschrift der Einsprechenden geltend gemachten Mängel des Patents neue Ansprüche eingereicht, mit denen die Kammer das Patent, abgesehen von kleineren Änderungen, aufrechterhalten könnte. Wäre dies nicht möglich, dann verbliebe der Patentinhaberin unter Umständen nur der mühsame Weg über nationale Beschränkungsverfahren, die nicht in allen Vertragsstaaten vorgesehen seien.
VII. Die Beschwerdekammer 3.2.2 hat die Große Beschwerdekammer mit folgenden Rechtsfragen befaßt:
1. Wird durch die Rücknahme der Beschwerde eines einzigen Beschwerdeführers, sei es im einseitigen oder zweiseitigen Verfahren, das Beschwerdeverfahren beendet?
2. Wenn die Frage zu 1. verneint wird, ist dann das Beschwerdeverfahren in jedem Fall durch eine Entscheidung der Beschwerdekammer gemäß Regel 66 (2) zu beenden?
VIII. Das Verfahren hinsichtlich dieser Rechtsfragen ist bei der Großen Beschwerdekammer unter dem Aktenzeichen G 8/91 anhängig.
IX. Am 4. Mai 1992 beschloß die Große Beschwerdekammer, die ihr in den Sachen G 7/91 und G 8/91 vorgelegten Rechtsfragen gemäß Artikel 8 ihrer Verfahrensordnung gemeinsam zu behandeln, weil sie ähnliche Sachverhalte betreffen.
X. Den an den Verfahren vor den vorlegenden Kammern 3.3.1 (Sache T 357/89) und 3.2.2 (Sache T 695/89) beteiligten Parteien ist Gelegenheit gegeben worden, sich zu den vorgelegten Rechtsfragen zu äußern. Davon hat nur die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) in der Sache T 357/89 Gebrauch gemacht, die in einer Stellungnahme vom 30. Juni 1992 die Fortsetzung des Beschwerdeverfahrens in den Fällen einer Rücknahme der Beschwerde im Einspruchs- Beschwerdeverfahren entweder durch den Patentinhaber (wenn das Patent in geändertem Umfang aufrechterhalten worden ist) oder durch den Einsprechenden befürwortet hat; ex-parte-Verfahren dagegen sollten mit der Rücknahme der Beschwerde beendet werden.
1. Die der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Rechtsfragen sind prinzipiell wichtig und von erheblicher praktischer Bedeutung, was schon die Anzahl der Rücknahmen von Beschwerden während der letzten Jahre deutlich zeigt. Nach Angaben der Geschäftsstelle gab es 1990 und 1991 im Einspruchs-Beschwerdeverfahren insgesamt 95 Rücknahmen von Beschwerden der Einsprechenden und 39 Rücknahmen von Beschwerden der Patentinhaber. Im einseitigen Verfahren wurden während derselben Periode insgesamt 24 Beschwerden der Anmelder zurückgenommen.
2. In der Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist bisher eine Fortsetzung des Beschwerdeverfahrens nach Rücknahme der Beschwerde des einzigen Beschwerdeführers, sei es im einseitigen oder zweiseitigen (technischen oder juristischen) Verfahren, nicht in Betracht gezogen worden, zumindest soweit es die Sachfragen angeht. Normalerweise nehmen die Mitglieder der Kammer die Rücknahme der Beschwerde einfach zur Kenntnis, wonach den Parteien durch die Geschäftsstelle mitgeteilt wird, daß das Beschwerdeverfahren damit beendet ist. Es gibt für dieses Verfahren besondere Formulare (EPA Form 3312, 3347, 3348). Allerdings hat die Beschwerdekammer 3.3.1 in ihrer Vorlage-Entscheidung erwähnt, daß sie im Falle der Rücknahme der Beschwerde des einzigen Einsprechenden derzeit in der Weise verfährt, daß sie den Parteien ein Schreiben folgenden Inhalts übersende: "Nach Rücknahme der Beschwerde durch die Beschwerdeführerin (Einsprechende) und amtsseitiger Prüfung des Beschwerdevorbringens ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, daß der Aufrechterhaltung des Patents keine Patenthindernisse entgegenstehen. Eine Fortsetzung des Beschwerdeverfahrens erübrigt sich daher, so daß das Beschwerdeverfahren eingestellt wird." Die Formulierung dieses Schreibens vermittelt den Eindruck, daß die Kammer sich eigentlich nicht durch die Rücknahme der Beschwerde gebunden fühle, sondern prinzipiell in der Lage sei, das Beschwerdeverfahren unter Umständen fortzusetzen. Allerdings scheint es, als ob die Beschwerdekammer 3.3.1 in der Praxis niemals ein Beschwerdeverfahren nach Rücknahme der Beschwerde fortgesetzt hat.
3. Die oben erwähnte Rechtsprechung der Beschwerdekammern, nach der eine Fortsetzung des Beschwerdeverfahrens nach Rücknahme der Beschwerde nicht in Betracht gezogen wird, ist auf eine Reihe verschiedener Entscheidungen zurückzuführen. In einer Entscheidung der Juristischen Beschwerdekammer in der Sache J 19/82 (ABl. EPA 1984, 6) wurde in einem einseitigen Verfahren zunächst festgestellt, daß in der Regel eine bei einer Beschwerdekammer des EPA anhängige Beschwerde ohne Zustimmung der betreffenden Kammer zurückgenommen werden kann. Dies ergebe sich aus dem EPÜ, in dem ausdrücklich angegeben sei, in welchen Fällen die Zurücknahme eines Antrags nicht zulässig sei, z. B. das Verbot der Zurücknahme eines Prüfungsantrags gemäß Artikel 94 (2) EPÜ. Die Juristische Beschwerdekammer hat in diesem Zusammenhang auch auf Regel 60 (2) EPÜ hingewiesen, wo angegeben ist, welche Folgen bei Rücknahme eines Einspruchs eintreten können. Die Technische Beschwerdekammer 3.4.1 hat in ihrer Entscheidung in der Sache T 85/84 (unveröffentlicht) in einem zweiseitigen Verfahren festgestellt, daß die Rücknahme der Beschwerde des einzigen Einsprechenden zur Folge hat, daß die Entscheidung der Einspruchsabteilung in der Sache rechtskräftig geworden ist. Nur über die Verteilung der Kosten, (d. h. eine Verfahrensfrage) könne noch entschieden werden. Dieselbe Auffasssung spiegelt sich auch in anderen Entscheidungen der Beschwerdekammern wider (vgl. z. B. T 117/86, ABl. EPA 1989, 401 und T 323/89, Beilage zu Heft 6 des ABl. EPA 1991, 47).
4. Im Hinblick auf diese langjährige, auf eine ständige Rechtsprechung gestützte Praxis, das Beschwerdeverfahren nach Rücknahme der Beschwerde des einzigen Beschwerdeführers, soweit es die Sachfragen angeht, als beendet anzusehen, eine Praxis, gegen die nach dem Wissen der Großen Beschwerdekammer bisher weder von den Beteiligten noch von der Öffentlichkeit Einwände erhoben worden sind, ist klar, daß für eine Änderung dieser Praxis ganz überzeugende Gründe vorliegen müssen. Andernfalls könnte offensichtlich die Kontinuität und Vorhersehbarkeit der Aktivität der Beschwerdekammern in bezug auf das Beschwerdeverfahren in Frage gestellt werden.
5. Die bisherige Praxis entspricht dem allgemeinen Verfahrensprinzip des Verfügungsgrundsatzes (Dispositionsmaxime), nach dem eine Behörde oder ein Gericht ein Verfahren in der Regel nicht fortsetzen kann, wenn die Verfahrenshandlung, durch die das Verfahren entstanden ist (z. B. die Einlegung einer (Beschwerde), zurückgenommen worden ist, es sei denn, daß das Verfahrensrecht ausdrücklich eine Fortsetzung erlaubt. Beispiele solcher Ausnahmebestimmungen innerhalb des EPÜ sind in der unter Nr. 3 oben erwähnten Entscheidung der Juristischen Beschwerdekammer gegeben worden. Die Beschwerdekammer 3.3.2 hat in ihrer Vorlage-Entscheidung ein Beispiel für eine ähnliche Ausnahmebestimmung auf nationaler Ebene erwähnt, nämlich § 24, 1. Absatz, Satz 3 des schwedischen Patentgesetzes, der vorsieht, daß die Beschwerde des Einsprechenden auch nach ihrer Rücknahme berücksichtigt werden kann, wenn hierfür besondere Gründe vorliegen. Nach der Abschaffung des § 34 III 2 des früheren deutschen Patentgesetzes gibt es in den übrigen Vertragsstaaten des EPÜ, soweit es der Großen Beschwerdekammer bekannt ist, keine entsprechenden Ausnahmebestimmungen.
6. Die Beschwerdekammer 3.3.1 hat in ihrer Vorlage- Entscheidung die Frage berührt, ob die Ausnahmeregelung in Regel 60 (2) EPÜ bezüglich der Wirkung der Rücknahme des Einspruchs in Verbindung mit Regel 66 (1) EPÜ im Wege einer ausdehnenden Interpretation auch auf die Rücknahme der Beschwerde angewendet werden kann. Auch die vorlegende Kammer 3.2.2 hat in ihrer Entscheidung die Anwendung der Ausnahmeregelung in Regel 60 (2) EPÜ auf das Beschwerdeverfahren diskutiert. Beide Kammern haben aber Bedenken gegen eine solche Anwendung der Ausnahmeregelung in Regel 60 (2) geäußert.
7. Die Große Beschwerdekammer teilt diese Bedenken. Zwar schließt der allgemeine Hinweis in Regel 66 (1) EPÜ auf die Vorschriften für das Verfahren vor der Stelle, die die mit der Beschwerde angefochtene Entscheidung erlassen hat, Regel 60 (2) EPÜ formal nicht aus; das bedeutet aber nicht, daß eine entsprechende Anwendung der ausdrücklich nur für das Einspruchsverfahren vorgesehenen Möglichkeit, das Verfahren nach Rücknahme des Einspruchs von Amts wegen fortzusetzen, auch für das Beschwerdeverfahren zwingend erfolgen muß. Diese Frage muß im Hinblick auf die gesamte Systematik des EPÜ beurteilt werden. In dieser Hinsicht spricht zum einen der unterschiedliche rechtliche Charakter der beiden Verfahren gegen eine solche Anwendung der Regel 60 (2) in Verbindung mit Regel 66 (1) EPÜ. Das Einspruchsverfahren ist ein reines Verwaltungsverfahren im Gegensatz zum Beschwerdeverfahren, das als ein verwaltungsgerichtliches Verfahren anzusehen ist, wo eine Ausnahme von allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsätzen, wie z. B. dem Verfügungsgrundsatz, viel stärker begründet werden müßte als im Verwaltungsverfahren. Zum anderen ist die Ausnahmeregelung in Regel 60 (2) EPÜ besonders im Zusammenhang mit dem gemäß EPÜ der Patenterteilung nachgeschalteten Einspruchsverfahren ("post-grant opposition") zu betrachten. In einem solchen Verfahren gibt es einen sachlichen Anlaß, eine generelle Kontrollmöglichkeit zu behalten im Hinblick auf die von einem Einsprechenden vorgebrachten neuen Tatsachen und Beweismittel, die vor der Patenterteilung von der Prüfungsabteilung überhaupt nicht berücksichtigt werden konnten. Diese Besonderheit des nachgeschalteten Einspruchsverfahrens ist allerdings kein hinreichender Grund dafür, die Ausnahmeregelung in Regel 60 (2) EPÜ generell auch auf das Beschwerdeverfahren anzuwenden.
8. Die Beschwerdekammer 3.2.2 hat in ihrer Vorlage- Entscheidung die Anwendung des Amtsermittlungsgrundsatzes nach Artikel 114 (1) EPÜ als eine rechtliche Basis für die Fortsetzung des Beschwerdeverfahrens im Falle der Rücknahme der Beschwerde erwähnt, ebenso wie die Beschwerdegegnerin in der Sache T 357/89. Allerdings hat die vorlegende Kammer 3.2.2 selbst Zweifel daran geäußert, ob der Amtsermittlungsgrundsatz eine solche rechtliche Basis bietet, da dieser Grundsatz auf die Ermittlung des Sachverhalts beschränkt sei. Die Große Beschwerdekammer ist ebenfalls der Ansicht, daß Artikel 114 (1) EPÜ keine Befugnis zur Fortsetzung des Beschwerdeverfahrens nach Rücknahme der Beschwerde einräumt. Dies ergibt sich aus der rechtlichen Konstruktion des EPÜ. Wenn es so wäre, daß schon Artikel 114 (1) EPÜ auf Rücknahmesituationen dieser Art generell anzuwenden wäre, erschiene die oben erwähnte Ausnahmeregelung in Regel 60 (2) EPÜ in bezug auf die Rücknahme des Einspruchs sinnlos. Darüber hinaus ist festzustellen, daß die Rücknahme der Beschwerde nicht als ein Antrag im Sinne des Artikels 114 (1), zweiter Halbsatz, EPÜ, auf den das EPA bei der Ermittlung des Sachverhalts nicht beschränkt wäre, anzusehen ist, sondern eine Verfahrenshandlung darstellt, die keine Zustimmung der betreffenden Beschwerdekammer erfordert (vgl. Nr. 3 oben).
9. Die beiden vorlegenden Beschwerdekammern haben ebenso wie die Beschwerdegegnerin in der Sache T 357/89 als einen sachlichen Grund, der der Beendigung des Beschwerdeverfahrens durch die Rücknahme der Beschwerde entgegenstehen könnte, das Interesse der Öffentlichkeit genannt. Es sei unerträglich und mit den Zielen des Patenterteilungsverfahrens nicht zu vereinbaren, wenn eine Beschwerdekammer in einem Fall, in dem die Unhaltbarkeit der erstinstanzlichen Aufrechterhaltung des Patents erkannt worden sei, "sehenden Auges" erleben müsse, daß der "fehlerhafte" Beschluß infolge der Rücknahme Rechtskraft erlange. Dies widerspreche dem Schutz der Öffentlichkeit.
10. Hierzu ist folgendes zu bemerken:
10.1 Das Interesse der Öffentlichkeit ist im europäischen Patentsystem vornehmlich dadurch sichergestellt, daß innerhalb von neun Monaten nach der Bekanntmachung des Hinweises auf die Erteilung des europäischen Patents jedermann gegen das Patent Einspruch einlegen kann. Es muß deshalb im Prinzip angenommen werden, daß das Patent diejenigen nicht stört, die keine Einsprüche eingelegt haben. Es ist somit nicht im Einklang mit den Grundgedanken des europäischen Patentsystems, im Falle der Rücknahme der Beschwerde des einzigen Einsprechenden (oder des Patentinhabers, wenn das Patent im geänderten Umfang aufrechterhalten worden ist) das Beschwerdeverfahren fortzusetzen, nur um das Interesse derjenigen, die überhaupt keine Einsprüche eingelegt haben, wahrzunehmen. Unter allen Umständen muß in dieser Hinsicht die unter Nr. 7 oben erwähnte Möglichkeit, das Einspruchsverfahren nach Rücknahme des Einspruchs ausnahmsweise fortzusetzen, als ausreichend betrachtet werden. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Möglichkeit, Nichtigkeitsklage vor nationalen Gerichten zu erheben, hinzuweisen.
10.2 Daß eine Beschwerdekammer im Einzelfall "sehenden Auges" erleben muß, daß ein "fehlerhafter" Beschluß der ersten Instanz infolge der Rücknahme der Beschwerde Rechtskraft erlangt, ist kein Argument für ein Abweichen vom Verfügungsgrundsatz. Zum einen kommt es in diesem Zusammenhang wohl nicht häufig vor, daß es unmittelbar so klar erkennbar ist, daß die Entscheidung der ersten Instanz "fehlerhaft" ist. Zum anderen muß man sich, wie auch von der Beschwerdekammer 3.2.2 ausgeführt, bewußt sein, daß dann, wenn der durch die Entscheidung der ersten Instanz beschwerte Verfahrensbeteiligte von seinem Beschwerderecht keinen Gebrauch macht oder wenn er die Beschwerdefrist oder die Begründungsfrist versäumt, es ebenfalls bei dieser Entscheidung bleibt, einerlei ob sie richtig oder falsch war. Es ist grundsätzlich nicht die Aufgabe der Beschwerdekammern, eine allgemeine Überprüfung der Entscheidungen der ersten Instanz vorzunehmen, unabhängig davon, ob eine solche Überprüfung von den beteiligten Parteien beantragt worden ist oder nicht; Aufgabe der Beschwerdekammern ist es vielmehr, sich mit zulässigen und anhängigen Beschwerden zu befassen.
10.3 Die o. g. Schlußfolgerungen stehen in keinerlei Gegensatz zu dem Prinzip, daß, soweit dies in der Macht des Europäischen Patentamts steht, nur rechtsgültige europäische Patente erteilt und aufrechterhalten werden sollen, wie es die Große Beschwerdekammer in der Sache G 1/84 (vgl. ABl. EPA 1985, 299, Gründe Nr. 3) ausgedrückt hat. Die Bemühungen, dieses Ziel zu erreichen, müssen sich aber im Rahmen allgemein anerkannter Verfahrensgrundsätze halten, wenn nicht schwerwiegende Gründe für eine Ausnahmeregelung vorliegen, was hier nicht der Fall ist. Man soll sich auch darüber im klaren sein, daß jede solche Ausnahmeregelung erfahrungsgemäß oft zu verfahrensmäßigen Komplikationen führt und eine gewisse Gefahr der Willkür mit sich bringt.
11.1 Was schließlich das von der Beschwerdekammer 3.2.2 erwähnte Interesse des Patentinhabers (Beschwerdegegners) angeht, das Beschwerdeverfahren nach Rücknahme der Beschwerde des einzigen Ensprechenden fortzusetzen, um eine Beschränkung des Patents zu ermöglichen (siehe Nr. VI oben), ist zuerst daran zu erinnern, daß die Große Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung vom 29. November 1991 in der Sache G 2/91 (ABl. EPA 1992, 206) festgestellt hat, daß aus allgemein anerkannten Grundsätzen des Verfahrensrechts folgt, daß ein Beschwerdeführer über die Anhängigkeit der von ihm eingelegten Beschwerde allein verfügen kann und daß Verfahrensbeteiligte gemäß Artikel 107, Satz 2 EPÜ (wie z. B. der Patentinhaber/Beschwerdegegner im vorliegenden Fall) kein eigenes selbständiges Recht haben, das Verfahren fortzusetzen, wenn der Beschwerdeführer seine Beschwerde zurückgenommen hat (Gründe Nr. 6.1). Die in der o. g. Entscheidung offen gelassene Frage, ob jedoch die Möglichkeit einer Fortsetzung des Beschwerdeverfahrens von Amts wegen bestehe, muß auch für den hier gegebenen Fall verneint werden. Es ist mit einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren und der Stellung der Beschwerdekammern als verantwortlich für die Durchführung dieses Verfahrens kaum vereinbar, das Beschwerdeverfahren nach Rücknahme der Beschwerde fortzusetzen, nur um eine eventuelle Verbesserung der rechtlichen Lage des Beschwerdegegners, wenn er Patentinhaber ist, zu ermöglichen. Eine solche Ausnahme vom Verfügungsgrundsatz, die übrigens zu verschiedenen verfahrensrechtlichen Komplikationen führen würde (vgl. z. B. Frage 2, b) und c) in der Sache G 7/91), würde voraussetzen, daß die Beschwerdekammern im Prinzip gegenüber den Patentinhabern eine übergreifende und größere Verantwortlichkeit hätten als gegenüber den Einsprechenden. Hierfür gibt es aber im EPÜ keine Stütze. Eine solche Auffassung, wenn sie gebilligt würde, könnte dazu führen, daß das Vertrauen in die Objektivität und Unparteilichkeit der Beschwerdekammern, insbesondere in Grenzfällen, in Frage gestellt werden könnte, was selbstverständlich vermieden werden soll. In diesem Zusammenhang ist auch zu bemerken, daß ein Patentinhaber, der selbst davon überzeugt ist, daß eine Beschränkung des Patents notwendig oder wünschenswert wäre, in der Praxis nicht gehindert ist, eine solche Beschränkung durchzuführen. Das kann in gewissen Vertragsstaaten in einem einseitigen Verfahren erfolgen; zudem ist es im Rahmen eines Nichtigkeits- oder Verletzungsprozesses normalerweise auch möglich, auf den Patentschutz für nicht haltbare Gegenstände zu verzichten. Die Aufrechterhaltung eines Patents in einem etwas zu großen Umfang bedeutet deswegen keineswegs einen endgültigen Rechtsverlust für den Patentinhaber.
11.2 Hinzuzufügen wäre in diesem Zusammenhang, daß durch die Rücknahme der Beschwerde des einzigen Einsprechenden die gemäß Artikel 106 (1) EPÜ aufschiebende Wirkung der Beschwerde wegfällt und die Entscheidung der Einspruchsabteilung damit rechtskräftig wird, soweit es die Sachfrage angeht. Es besteht danach keine Befugnis der Beschwerdekammer, eine Prüfung des Patents im Sinne des Artikels 113 (2) EPÜ vorzunehmen. Die Vorschriften dieser Bestimmung in bezug auf die Billigung der Fassung des Patents durch den Patentinhaber finden deshalb keine Anwendung.
12. Zusammenfassend ist somit festzustellen, daß es keine triftigen Gründe dafür gibt, die bisherige Praxis der Beschwerdekammern aufzugeben oder zu modifizieren, nach der das Beschwerdeverfahren, soweit es die durch die angefochtene Entscheidung der ersten Instanz entschiedenen Sachfragen angeht, durch Rücknahme der Beschwerde des einzigen Beschwerdeführers, sei es im einseitigen oder zweiseitigen Verfahren, als beendet anzusehen ist. Eine Antwort auf die in beiden Sachen vorgelegten Fragen Nr. 2 erübrigt sich damit.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die der Großen Kammer vorgelegte Rechtsfrage in der Sache G 7/91 wird wie folgt beantwortet:
Eine Beschwerdekammer kann, soweit es die durch die angefochtene Entscheidung der ersten Instanz entschiedenen Sachfragen angeht, das Einspruchsbeschwerdeverfahren nicht fortsetzen, nachdem der einzige Beschwerdeführer, der in erster Instanz Einsprechender war, seine Beschwerde zurückgenommen hat.