G 0001/91 (Einheitlichkeit) 09-12-1991
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Zusammenfassung des Verfahrens
I. Gegen das europäische Patent 0 023 585 (Anmeldenummer 80 103 866.2) wurde Einspruch wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit eingelegt. In der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung wurde die Notwendigkeit der Bildung neuer Patentansprüche erörtert und dabei beiläufig bemerkt, daß "die Frage der Einheitlichkeit im Einspruchsverfahren nicht zur Diskussion" stehe. Durch Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung vom 1. Februar 1989 wurde festgestellt, daß das europäische Patent mit geänderten Unterlagen und daran angepaßter Beschreibung aufrechterhalten werden könne.
II. Gegen diese Entscheidung hat die Einsprechende in zulässiger Weise Beschwerde eingelegt, ohne auf die Frage der Einheitlichkeit einzugehen. In einem späteren Schreiben vom 14. Januar 1991 rügt sie jedoch ausschließlich die Einheitlichkeit mit der Schlußfolgerung, daß im Einspruchsverfahren Änderungen des angegriffenen Patents nicht erlaubt seien, sofern in Folge dieser Änderungen Uneinheitlichkeit eintreten würde. Die Beschwerdekammer teilte daraufhin den Beteiligten mit, daß sie beabsichtige, die Große Beschwerdekammer mit der von der Einsprechenden aufgeworfenen Rechtsfrage zu befassen. Die Patentinhaberin bezeichnete die Ausführungen der Einsprechenden als unzutreffend und eine Vorlage an die Große Beschwerdekammer als unangebracht, dies auch deswegen, weil die Einheitlichkeit gegeben sei.
III. Mit Zwischenentscheidung T 220/89 vom 28. Februar 1991 (ABl. EPA 1992, 295) befaßte die Technische Beschwerdekammer 3.4.2 die Große Beschwerdekammer mit folgender Rechtsfrage:
Führt die Anwendung von Regel 61a EPÜ (vgl. insbesondere Regel 27, 29 und 30 EPÜ) im Falle einer geänderten Fassung des europäischen Patents zu dem Schluß, daß die gemäß Artikel 82 EPÜ erforderliche Einheitlichkeit der Erfindung unter die in Artikel 102 (3) EPÜ genannten "Erfordernisse dieses Übereinkommens" fällt, denen das in geändertem Umfang aufrechterhaltene Patent genügen muß, auch wenn sich Artikel 82 EPÜ auf eine europäische Patentanmeldung bezieht und Artikel 100 EPÜ die Einheitlichkeit der Erfindung nicht als Einspruchsgrund vorsieht?
Die Frage, ob die Einheitlichkeit der Erfindung i.S.v. Artikel 82 EPÜ zu den bei Änderung des Patents nach Artikel 102 Absatz 3 EPÜ zu prüfenden Erfordernissen des Übereinkommens gehöre, stelle sich insbesondere aus folgenden Gründen:
1. Nach Regel 61a EPÜ seien die "Vorschriften von Kapitel II des Dritten Teils der Ausführungsordnung", also die Regeln 26 bis 36 EPÜ, auf die im Einspruchsverfahren eingereichten neuen Unterlagen anzuwenden. In diesen Regeln werde von der Erfindung im Singular gesprochen. Daraus könne geschlossen werden, daß von einer einzigen Erfindung ausgegangen werde.
2. Insbesondere aber beziehe sich Regel 61a auch auf Regel 30 EPÜ. Im Einspruchsverfahren neu eingereichte Unterlagen müßten daher dem Erfordernis der Einheitlichkeit entsprechen.
3. In der Praxis der Beschwerdekammern sei festzustellen, daß im Einspruchsverfahren neu eingereichte Unterlagen auf "Klarheit" im Sinne von Artikel 84 EPÜ geprüft werden. Daraus ergebe sich die Frage, warum Artikel 82 und Artikel 84 EPÜ im Einspruchsverfahren in unterschiedlicher Weise zu berücksichtigen sind. Man könne die beiden Artikel nämlich auch so verstehen, daß sie beide auf den vorausgehenden Artikel 78 EPÜ bezogen sind und somit nur für die europäische Patentanmeldung vor Patenterteilung und nicht für das europäische Patent im Einspruch gelten.
In der Vorlage-Entscheidung T 220/89 wird zusammenfassend festgestellt, daß die Interpretation von Artikel 102 (3) EPÜ hinsichtlich Artikel 82 EPÜ unter Anwendung von Regel 61a EPÜ eine Erklärung brauche.
1. Zur Zulässigkeit der Vorlage
Die Vorlage der Rechtsfrage ist nach Artikel 112 EPÜ zulässig. Es gibt Entscheidungen, die die Frage der Einheitlichkeit als im Einspruchsverfahren unerheblich (T 162/85; T 437/88; T 49/89) oder als erfüllt und deswegen irrelevant ansehen (T 539/88). Die Beantwortung der gestellten Rechtsfrage ist nicht selbstverständlich, wie auch Section 26 des britischen Patentgesetzes zeigt; dort ist ausdrücklich gesagt, daß ein Patent wegen fehlender Einheitlichkeit nicht angegriffen werden darf. Die rechtliche Bedeutung der Einheitlichkeit der Erfindung im Einspruchsverfahren nach dem Europäischen Patentübereinkommen ist daher eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung; ihre Beantwortung erscheint auch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung notwendig.
2. Die Auslegung von Artikel 102 Absatz 3 EPÜ aus dessen Wortlaut
2.1. Für die Beantwortung der gestellten Rechtsfrage kommt es in erster Linie nicht auf Regel 61a, sondern auf Artikel 102 Absatz 3 EPÜ an. Dort ist gesagt, daß bei Aufrechterhaltung in geändertem Umfang "das europäische Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen dieses Übereinkommens genügen" müssen. Dies läßt sich zunächst so verstehen, daß schlechthin alle Erfordernisse des Übereinkommens erfüllt sein müssen. Dafür könnte auch sprechen, daß in Artikel 102 Absatz 3 EPÜ genau derselbe Wortlaut wiederkehrt, der bereits in Artikel 94 (1) EPÜ in bezug auf die europäische Patentanmeldung gewählt ist.
2.2. Der Wortlaut der zitierten Vorschriften erlaubt allerdings schon die Schlußfolgerung, daß die Erfordernisse, denen ein geändertes Patent entsprechen muß, nicht zwangsläufig dieselben sind, die von einer Patentanmeldung verlangt werden. Dies rechtfertigt es aber nur, von dem Begriff "Erfordernisse" in Artikel 102 Absatz 3 EPÜ jene auszuschließen, deren Übertragung von der Patentanmeldung auf das Patent unsinnig wäre. Dies kann man von dem Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung nicht sagen.
3. Der mögliche Beitrag der Regel 61a EPÜ zur Auslegung des Begriffs "Erfordernisse" in Artikel 102 Absatz 3 EPÜ
3.1. Anwendungsvorschriften - auch später geschaffene, wie Regel 61a EPÜ - können durchaus zur Auslegung von Vertragsnormen herangezogen werden (vgl. Art. 31 (3), Buchst. b) des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge, ABl. EPA 1984, 196).
Aus Regel 61a EPÜ läßt sich aber nicht die Schlußfolgerung ableiten, daß von einem geänderten europäischen Patent "Einheitlichkeit" i.S.v. Artikel 82 EPÜ zu fordern sei.
3.2. Regel 61a EPÜ bezieht sich global auf die "Vorschriften von Kapitel II des Dritten Teils der Ausführungsordnung". Diese sind "auf die im Einspruchsverfahren eingereichten Unterlagen entsprechend anzuwenden." Unter "Vorschriften" der hier gemeinten Art können aber nur Erfordernisse gemeint sein, die von den neuen Unterlagen des geänderten Patents sinnvollerweise noch zu fordern sind. Die Verwendung des Singulars "Erfindung" in den betreffenden Regeln 27 (Inhalt der Beschreibung) und 29 (Form und Inhalt der Patentansprüche) läßt eine Schlußfolgerung, daß Einheitlichkeit gefordert würde, nicht zu. Hier handelt es sich um die in Gesetzestexten häufig verwendete Formulierung "Singular statt Plural". Der Singular (hier: "Erfindung") bezieht sich dabei auch auf einen etwaigen Plural (hier: "Gruppe von Erfindungen" i.S.v. Art. 82 EPÜ). Die genannten Regeln gelten also auch, wenn in einer Patentanmeldung - infolge Einheitlichkeit - mehrere Erfindungen beansprucht und beschrieben sind.
3.3. Dem Wortsinn nach bezieht sich Regel 61a EPÜ nur auf "Vorschriften" für "Unterlagen" und kann sich somit nicht auf Regel 30 EPÜ beziehen. In dieser Regel geht es nicht um Form und Inhalt von Unterlagen. Regel 30 EPÜ ist vielmehr eine Rechtsnorm zur Interpretation von Artikel 82 EPÜ. Dies gilt besonders deutlich von der früheren Fassung der Regel 30 ("Artikel 82 ist so auszulegen, daß ..."), aber ebenfalls von der neuen (ab 1. Juni 1991 geltenden) Regel 30 EPÜ.
3.4. Regel 61a EPÜ enthält somit eine Pauschalverweisung auf ein Kapitel der Ausführungsordnung. Dabei ist aber klar, daß einige Regeln überhaupt nicht gemeint sein können (wie die Regeln 26, 31, 33, aber auch 30), andere aber anzuwenden sind (wie die Regeln 27, 29, 32 und 34). Der Interimsausschuß der Europäischen Patentorganisation, der die Einfügung der Regel 61a EPÜ vorbereitete, hat bezüglich der globalen Verweisung festgestellt, "daß einige Bestimmungen dieses Kapitels auf die während des Einspruchsverfahrens vorgelegten Schriftstücke offensichtlich nicht anwendbar sind"; er halte es "jedoch angesichts der Vielschichtigkeit des Stoffes für besser, einen allgemein gefaßten Text zu wählen" (Dok. CI/Final 11/77 vom 14. Oktober 1977).
3.5. Mit der nachträglich in die Ausführungsordnung eingefügten Regel 61a EPÜ wird also klargestellt, daß die in den Regeln 26 bis 36 EPÜ für Patentanmeldungen aufgestellten Erfordernisse auch auf die im Einspruchsverfahren eingereichten Unterlagen "entsprechend" ("mutatis mutandis") anzuwenden sind. Irgendeine Schlußfolgerung für die Beantwortung der hinsichtlich der Einheitlichkeit gestellten Rechtsfrage kann aber aus Regel 61a EPÜ nicht gewonnen werden.
4. Die "ratio legis" der Einheitlichkeit einerseits und des Einspruchsverfahrens andererseits
4.1. Die Einheitlichkeit der Erfindung nach Artikel 82 EPÜ ist zwar ein Erfordernis substantieller Art, aber dennoch eine bloße Ordnungsvorschrift. Sie dient mehreren Ordnungszwecken, vor allem der Abgrenzung der jeweiligen Zuständigkeit jener Stellen, die sich mit der Recherche, der Prüfung, dem Einspruch und dem weiteren Verfahren befassen. Bekanntlich wird hier die internationale Patentklassifikation als Ordnungssystem verwendet. Nach ihr ist die Dokumentation des Standes der Technik geordnet. Nach der Klassifikation orientiert sich aber auch der Wettbewerber, der die patentamtlichen Veröffentlichungen verfolgt. Schließlich ist auch der finanzielle Aspekt vor und nach Patenterteilung von Bedeutung, also das Aufkommen an Verfahrensgebühren und Jahresgebühren sowohl für Patentanmeldungen wie für die späteren Patente.
4.2. Den Ordnungszwecken der Einheitlichkeit ist aber bis zur Patenterteilung im wesentlichen gedient. Die "ratio legis" des Einspruchsverfahrens ist es, den Wettbewerbern eine Möglichkeit zu geben, sich ungerechtfertigten Schutzrechten entgegenzustellen. Diese Interessenlage des Wettbewerbers macht es nicht erforderlich, ihm auch die Möglichkeit zu geben, ein Patent wegen Uneinheitlichkeit anzugreifen. Uneinheitlichkeit nämlich schließt Patentschutz nicht aus, sondern kann nur zur Folge haben, daß durch Teilung zwei oder mehrere Patente entstehen. Sinn und Zweck sowohl der Einheitlichkeit wie des Einspruchs lassen es daher weder als notwendig noch als zweckmäßig erscheinen, daß einer etwaigen Uneinheitlichkeit im Einspruch noch Bedeutung zugemessen wird. Das Erfordernis der Einheitlichkeit hat mit dem Abschluß des Prüfungsverfahrens durch Patenterteilung seine Ordnungsfunktion erfüllt.
5. Rechtssystematische Überlegungen
5.1. Solange im patentrechtlichen Verfahren die Einheitlichkeit ein zu erfüllendes Erfordernis ist, muß auch die Möglichkeit geboten sein, die geforderte Einheitlichkeit nicht nur durch Teil-Verzicht, sondern auch durch Teilung herzustellen. Wo Teilung nicht mehr möglich ist, kann daher fehlende Einheitlichkeit keine rechtliche Bedeutung haben. Im System des europäischen Patentrechts ist nach Patenterteilung eine Teilung nicht mehr vorgesehen. Bei allen Zweifeln, die Artikel 102 Absatz 3 und Regel 61a EPÜ hinsichtlich der Bedeutung der Einheitlichkeit im Einspruch offen lassen mögen, zeigt doch das Fehlen des Rechtsinstituts der Teilung, daß Einheitlichkeit für den Einspruch und im Einspruchsverfahren keine Bedeutung mehr haben kann.
5.2. Daher brauchen auch keine Überlegungen angestellt zu werden, mit welcher Rechtfertigung die Praxis des EPA der Klarheit i.S.v. Artikel 84 Satz 2 EPÜ im Einspruch eine gewisse Geltung läßt, während der Einheitlichkeit nach Artikel 82 EPÜ keine Geltung mehr zukommt. Beide Vorschriften stehen in einer Reihe von Vorschriften, nämlich in der Reihe der Artikel 81 (Erfindernennung) bis 85 (Zusammenfassung), die sehr unterschiedliche oder auch überhaupt keine Bedeutung mehr für das einmal erteilte Patent haben. Es liegt daher kein Widerspruch darin, daß bei Änderungen des Patents im Einspruchsverfahren die Einheitlichkeit keine Bedeutung mehr hat, daß aber von den im Einspruchsverfahren geänderten Texten Klarheit gefordert wird. Daher kann hier auch dahingestellt bleiben, was unter Klarheit i.S.v. Artikel 84 Satz 2 EPÜ nun genau zu verstehen ist.
6. Die Aussage der "Travaux préparatoires" ("Vorbereitenden Arbeiten")
6.1. Obwohl schon eine Auslegung des Übereinkommens nach seinen Texten und seiner Systematik eine sichere Beantwortung der gestellten Rechtsfrage ermöglichen, soll doch auf eine ergänzende Befragung der "Vorbereitenden Arbeiten" nicht verzichtet werden.
6.2. In den vorbereitenden Entwürfen zum Europäischen Patentübereinkommen gibt es den Einspruch nach Patenterteilung ("post-grant opposition") erst seit dem "Ersten Vorentwurf" von 1970. Die nähere Ausgestaltung erfolgte im Jahre 1971 (vgl. Dok. BR/87/71 vom 28. Februar 1971, Nr. 6-9 und Dok. BR/135/71 vom 17. November 1971, Nr. 133-140, sowie die Berichte zum "Zweiten Vorentwurf" von 1971, Nr. 59 ff., insbes. Nr. 67-69). Diesen Dokumenten zufolge sollte sich die Prüfung des Einspruchs - entsprechend dem heutigen Artikel 102 Absätze 1 und 2 EPÜ - zunächst auf die Einspruchsgründe - entsprechend Artikel 100 EPÜ - beziehen. Erst wenn diese eine Änderung des Patents gebieten, sind die neuen Unterlagen über die Einspruchsgründe hinaus auch noch daraufhin zu prüfen, ob sie "den Erfordernissen des Übereinkommens" entsprechen. Nach dem Bericht über die 6. Sitzung der Arbeitsgruppe I (Dok. BR/87/71, Nr. 12) sollte dabei verhindert werden, daß das EPA "sämtliche Formmängel sowie die Uneinheitlichkeit der geschützten Erfindung beanstanden kann". Hinzugefügt ist, daß deswegen eine Vorschrift über die Teilung "nicht nötig" war. In dem früheren System des Einspruchs vor Patenterteilung ("pre-grant opposition") war nämlich eine Teilung der Patentanmeldung auch im Einspruch aufgrund besonderer Vorschrift noch möglich. Im Bericht über den "Zweiten Vorentwurf" von 1971 (Nr. 69) ist gesagt, daß ein europäisches Patent im Einspruch weder als uneinheitlich beanstandet, noch geteilt werden darf. Als Grund dafür wurde auf die Notwendigkeit der Herausgabe von mehr als einer neuen europäischen Patentschrift und deren Übersetzung nach Artikel 65 EPÜ hingewiesen.
6.3. Aus den "Vorbereitenden Arbeiten" ergibt sich somit nicht nur, daß fehlende Einheitlichkeit gewollt als Einspruchsgrund ausgeschlossen wurde, sondern auch, daß eine im Einspruchsverfahren durch Änderung des Patents entstehende Uneinheitlichkeit hinzunehmen ist.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden,
daß die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage wie folgt zu beantworten ist:
Die Einheitlichkeit der Erfindung (Artikel 82 EPÜ) gehört nicht zu den Erfordernissen, denen ein europäisches Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, bei Aufrechterhaltung in geändertem Umfang nach Artikel 102 Absatz 3 EPÜ zu genügen hat. Dementsprechend ist es im Einspruchsverfahren unbeachtlich, wenn das europäische Patent in der erteilten Fassung oder nach Änderung dem Erfordernis der Einheitlichkeit nicht entspricht.