5. Deutlichkeit und Vollständigkeit der Offenbarung
5.3. Beispiele
Ob die Offenbarung des Streitpatents hinreichend deutlich und vollständig im Sinne der Art. 100 b) und 83 EPÜ ist, muss unter Würdigung der in den Beispielen sowie in den anderen Teilen der Beschreibung enthaltenen Informationen und nach Maßgabe des am Prioritätstag allgemein üblichen Wissensstands der Fachperson entschieden werden (T 322/93 und T 524/01).
Wird die beanspruchte Erfindung in der Anmeldung so deutlich und vollständig offenbart, dass eine Fachperson sie ausführen kann, so bedeutet das notwendigerweise, dass darin wenigstens ein Weg zur Ausführung der offenbarten Erfindung gemäß R. 42 (1) e) EPÜ offenbart wird, wobei die notwendigen Informationen der Beschreibung unter Einbeziehung des darin genannten Stands der Technik zu entnehmen sind (s. z. B. T 389/87, T 561/96 und T 990/07). In T 990/07 merkte die Kammer an, dass das Fehlen von Beispielen nicht gegen R. 27 (1) e) EPÜ 1973 (R. 42 (1) e) EPÜ) verstößt, wenn sie entbehrlich sind. Die genannte Vorschrift verlangt die Aufnahme von Beispielen nur dort, "wo es angebracht ist". Die Rechtsprechung der Beschwerdekammern unterscheidet klar zwischen den Begriffen "Weg zur Ausführung der beanspruchten Erfindung" und "Beispiele" in R. 27 (1) e) EPÜ 1973. Nach dieser Rechtsprechung ist die genaue Angabe eines Wegs zur Ausführung der beanspruchten Erfindung vor dem Hintergrund des Art. 83 EPÜ zu sehen. Hierbei handelt es sich zweifellos um ein zwingendes Erfordernis, dem die Beschreibung als Ganzes genügen muss. Hingegen sind Beispiele nur dann unverzichtbar, wenn die Beschreibung diesem Erfordernis ansonsten nicht genügt. Somit dienen die in R. 27 (1) e) EPÜ 1973 erwähnten Beispiele offenbar vor allem dem Zweck, eine ansonsten unvollständige Lehre zu ergänzen (s. auch T 1918/07, T 1169/08, T 721/16, wonach die Angabe von Beispielen nicht zwingend erforderlich ist, um das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung zu erfüllen).
In T 671/05 urteilte die Kammer, dass die für eine ausreichende Offenbarung erforderliche Menge an technischen Einzelheiten von einer Bewertung des Sachverhalts des jeweiligen Einzelfalls, wie dem Fachgebiet und den faktisch offenbarten technischen Details, abhängt.
Was den weiteren Einwand einer fehlenden konkreten Ausführungsform betrifft, ist nach der Rechtsprechung die genaue Angabe eines Weges zur Ausführung der beanspruchten Erfindung vor dem Hintergrund des Art. 83 EPÜ zu sehen. Hierbei handelt es sich um ein zwingendes Erfordernis, dem die Beschreibung als Ganzes genügen muss. Hingegen sind Beispiele nur dann unverzichtbar, wenn die Beschreibung diesem Erfordernis ansonsten nicht genügt (T 2794/17).
Die Kammer in T 698/18 befand, dass die Anmeldung keine anspruchsgemäß definierte Ausführungsform enthielt, was für sich genommen jedoch nicht die Zurückweisung der Anmeldung rechtfertigen konnte, da der Zweck der Beispiele in R. 27 (1) e) EPÜ 1973 hauptsächlich darin zu bestehen scheint, eine andernfalls unvollständige Lehre zu vervollständigen. Die Anmeldung kann unter Berufung auf diese Bestimmung nicht zurückgewiesen werden, wenn die Beschreibung trotz fehlender Beispiele für die praktische Umsetzung der Erfindung einen Weg zu deren Ausführung offenbart (T 990/07, Leitsatz und Nr. 3). Gegenstand der Diskussion war, ob die Anmeldung trotz fehlender konkreter Ausführungsbeispiele tatsächlich so hinreichend offenbart war, dass die Fachperson die beanspruchte Erfindung ausführen kann.
In T 226/85 (ABl. 1988, 336), T 409/91 (ABl. 1994, 653) und T 694/92 (ABl. 1997, 408) wurden im Patent bzw. in der Patentanmeldung nur ein Weg oder einige wenige Wege zur Ausführung der Erfindung angegeben. In jeder dieser Entscheidungen stellten die Kammern fest, dass die konkreten Beispiele nicht so offenbart waren, dass die beanspruchte Erfindung ausgeführt werden konnte. Nach Auffassung der Kammer in T 617/07 kann diesen Entscheidungen jedoch nicht entnommen werden, dass eine ausreichende Offenbarung grundsätzlich immer zu verneinen ist, wenn nur ein einziges Beispiel für die Ausführung der Erfindung gegeben wird. Vielmehr wird in allen drei Entscheidungen hervorgehoben, dass ein Einwand unzureichender Offenbarung (i) ernsthafte, durch nachprüfbare Tatsachen erhärtete Zweifel voraussetzt und (ii) von der jeweiligen Beweislage dazu abhängt, ob die beanspruchte Erfindung anhand der Offenbarung eines Ausführungsbeispiels als nacharbeitbar anzusehen ist oder nicht.
Dieser Ansatz wird in der jüngeren Entscheidung T 360/18 bestätigt, wo es heißt: Wie in T 617/07 dargelegt, ist eine ausreichende Offenbarung grundsätzlich nicht immer zu verneinen, wenn nur ein einziges Beispiel für die Ausführung der Erfindung gegeben wird. Vielmehr setzt ein Einwand unzureichender Offenbarung (i) ernsthafte, durch nachprüfbare Tatsachen erhärtete Zweifel voraus und (ii) hängt von der jeweiligen Beweislage ab. Im vorliegenden Fall lagen der Kammer keine nachprüfbaren Tatsachen vor, die die Aussagen des Beschwerdegegners (Einsprechenden) stützen, dass die beanspruchte Erfindung nicht ausgeführt werden kann. Ferner hat der Beschwerdegegner keine Nachweise dafür erbracht, dass die Behauptung des Beschwerdeführers, dass alle beanspruchten Ausführungsformen stabil seien, unzutreffend ist. Der Schlussfolgerung der Einspruchsabteilung, dass die im Patent angegebenen Ergebnisse als widersprüchlich zu erachten seien, und deswegen die Fachperson anhand eines Forschungsprogramms sich selbst erarbeiten müsse, welche Fibrinogen-Formulierungen, selektiert aus einer Unzahl von möglichen Kombinationen aus zweiwertigen Metallionen und Komplexbildnern, die gewünschte Stabilität aufwiesen, konnte nicht gefolgt werden, da kein Widerspruch aus den im Patent vorhandenen Daten zu erkennen war. Des Weiteren offenbarte das Patent auch Hinweise auf bevorzugte Ausführungsformen, die bei etwaigen Fehlschlägen in Betracht zu ziehen waren.
In T 721/16 wurde das Patent von der Einspruchsabteilung widerrufen. Der Einwand unzureichender Offenbarung bezog sich auf die Messung von Parametern, die die Polyvinylpyrrolidon-Pulverzusammensetzungen definierten. Die Kammer stellte fest, dass die Schwierigkeit der exakten Nacharbeitung der Beispiele aus dem Streitpatent im vorliegenden Fall nicht ausschlaggebend für die Feststellung einer unzureichenden Offenbarung sei und dieser Punkt unbeantwortet bleiben könne. Es gelte, die ausreichende Offenbarung der Kombination der technischen Merkmale der Erfindung, wie sie durch die in den Ansprüchen verwendeten Begriffe definiert würden, zu bewerten (s. R. 43 (1) EPÜ) und nicht der speziellen beispielhaften Ausführungsformen, die im vorliegenden Fall nicht Gegenstand eines Anspruchs seien.
In T 1884/19 bemängelte der Beschwerdeführer das seiner Ansicht nach unzureichend offenbarte Beispiel 7 aufgrund angeblicher Widersprüche zwischen diesem Beispiel und dem Vergleichsbeispiel 2. Die Kammer befand, dass jedoch nicht erläutert worden war, inwiefern derartige Widersprüche die Fachperson vom Nacharbeiten des Beispiels anhand der Beschreibung abhalten würden. Darüber hinaus gilt es, die ausreichende Offenbarung der Kombination erfindungsgemäßer technischer Merkmale, d. h. wie sie in den Ansprüchen definiert sind (R. 43 (1) EPÜ), zu beurteilen, und nicht einer beispielhaften Ausführungsform, bei der es sich im vorliegenden Fall nicht um den Anspruchsgegenstand handelte. Mangels Erläuterungen seitens des Beschwerdeführers, weshalb die Unmöglichkeit des Nacharbeitens eines Beispiels des Patents – ohne Betrachtung der Lehre des Streitpatents als Ganzes sowie der zahlreichen weiteren Beispiele – die ausreichende Offenbarung infrage stellen würde, konnte auch dieses Argument nicht überzeugen (zu T 1884/19 s. auch nachfolgend Kapitel II.C.5.5.1 a) – "Wesentlicher Parameter").
In T 2242/16 war der Beschwerdeführer (Patentinhaber) der Auffassung, dass gemäß T 665/90 eine exakte Nacharbeitung eines Beispiels des Streitpatents notwendig gewesen wäre, um die behauptete mangelnde Ausführbarkeit zu belegen. Die Kammer entschied, ein derartiges Erfordernis könne im vorliegenden Fall nicht greifen; die genaue Vorgehensweise des Beispiels, so lehre zumindest implizit das Streitpatent, sei nicht wesentlich. Die Kammer verwies weiter auf die Rechtsprechung (s. T 740/90, T 406/91, T 1712/09 in Verbindung mit der in diesem Kapitel in II.C.5.4 behandelten ständigen Rechtsprechung). (Zusammenfassung des Beitrags von T 226/85 und von T 2242/16 durch T 956/21).
Verwiesen sei an dieser Stelle auch auf T 500/20 (Kapitel II.C.5.4 d)) im Bereich der Mechanik, wo es heißt (Schlagwort und Nr. 3.6 der Gründe): Bei beanspruchten Erfindungen, in denen es nicht um einen Bereich von Parameterwerten oder Zusammensetzungen geht, sondern die auf eine anhand grundsätzlicher struktureller oder funktioneller Merkmale einer Vorrichtung bzw. eines Verfahrens definierte Lehre gerichtet sind, genügt nicht der Beweis, dass ein unter den Anspruch fallendes Beispiel nicht funktioniert, weil es die beanspruchte Wirkung nicht oder nicht vollständig erzielt, um der Erfindung die ausreichende Offenbarung über die gesamte Breite des Anspruchs abzusprechen.
Die Entscheidung T 3178/19 illustriert einen Fall, in dem ein einziges Beispiel nicht ausreichend war. Das Patent enthielt lediglich ein Beispiel, das alle beanspruchte Merkmale umfasste. Der Beschwerdegegner/Patentinhaber berief sich zur Stützung seiner Behauptung, dass ein einziges Beispiel ausreiche, auf die Entscheidung T 226/85, konnte die Kammer jedoch nicht überzeugen. Weder die Beschreibung noch das allgemeine Fachwissen lieferten der Fachperson eine brauchbare Anleitung, die sie nach Auswertung anfänglicher Fehlschläge oder anhand einer akzeptablen statistischen Erwartungsrate bei Zufallsexperimenten zwangsläufig und ohne Umwege zum Erfolg über den breiten Bereich des Anspruchs führen würde. Das Streitpatent enthielt eine Reihe von Beispielen für die Herstellung eines Widerstands mit einem Sinterkörper aus einem Gemisch gemäß den Merkmalen (b), (c) und (j), allerdings keinerlei Angaben zu den konkreten Herstellungsschritten. Die vom Beschwerdegegner angeführten Textstellen lieferten die fehlenden Informationen nicht.