T 0222/85 (Unzulässigkeit) 21-01-1987
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1. Eine Mitteilung nach Regel 57(1) EPÜ, dass der Einspruch zulässig ist, ist keine Entscheidung der Einspruchsabteilung; die Absendung einer solchen Mitteilung steht einer späteren Verwerfung des Einspruchs als unzulässig nach Regel 56(1) EPÜ nicht entgegen, etwa wenn die Zulässigkeit vom Patentinhaber im Einspruchsverfahren angefochten wird.
2. Das Erfordernis nach Regel 55(c) EPÜ, dass die Einspruchsschrift unter anderem "die Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel" enthalten muss, ist nur erfüllt, wenn wenn sie vom Inhalt her geeignet ist, das Vorbringen des Einsprechenden objektiv verständlich zu machen.
Einspruch/Zulässigkeit
Mitteilung nach Regel 57(1)
Zulänglichkeit der Einspruchsschrift
Einspruchsschrift/Zulänglichkeit
I. Das europäische Patent Nr. 5033 wurde am 16. Februar 1983 mit 21 Ansprüchen auf die am 12. April 1979 unter Inanspruchnahme der Priorität einer Voranmeldung (US 897 963) vom 19. April 1978 eingereichte europäische Patentanmeldung Nr. 79 300 610.7 erteilt. ...
II. Die Beschwerdeführerin legte gegen das europäische Patent am 15. November 1983 fernschriftlich Einspruch ein und bestätigte dies mit einem Schreiben, das am 19. November 1983 einging. Sie beantragte den Widerruf des Patents in vollem Umfang. Die Einspruchsgebühr wurde am 15. November 1983 entrichtet. In der Einspruchsschrift wurde unter der Überschrift "Begründung" folgendes vorgebracht:
"Der in den Ansprüchen 1 bis 21 definierte Gegenstand des Patents EP-5033 umfaßt Polyester, Beschichtungs- und Farbgemische, wie sie im Stand der Technik beschrieben bzw. auf diesem Fachgebiet laufend verwendet werden.
Der Hydroxylwert,
die Sachverhalte a und b,
die fakultativen Sachverhalte c und d,
die Gewichtsprozente der zyklischen Struktureinheiten und der Amid-Struktureinheiten und
Die Gewichtsprozente der Reaktanten mit einer Funktionalität von 3 und mehr,
wie sie aus Anspruch 1 des Patents Nr. 5033 hervorgehen, sind durchaus üblich und aus dem (z. B.) aus folgenden Veröffentlichungen hervorgehenden Stand der Technik allgemein bekannt:"
Es folgte eine Liste von 16 Vorveröffentlichungen. In den anschließenden drei Absätzen wurde behauptet, daß das Merkmal der "hohen Molekulargewichte" ein naheliegendes Ziel sei, daß Verfahren zur Erzielung hoher Molekulargewichte allgemein bekannt und z. B. auf zwei näher bezeichneten Seiten eines Nachschlagewerkes offenbart seien und daß "nach den Messungen der Einsprechenden viele bekannte Polyester" der neuen Parameter-Definition des Molekulargewichts, die in dem angefochtenen Patent verwendet wird, entsprächen. Schließlich hieß es wie folgt:
"Die in dem Patent EP-5033 beanspruchten Polyester, Beschichtungs- und Farbgemische sind somit weder neu noch erfinderisch und deshalb aufgrund des EPÜ, insbesondere seiner Artikel 54 und 56, nicht patentierbar."
III. Die Einspruchsschrift wurde der Patentinhaberin mit dem Formblatt 2316 vom 29. November 1983 übermittelt. Ferner wurde sie am 15. Dezember 1983 gemäß Regel 57 (1) EPÜ mit dem Formblatt 2317 davon unterrichtet, daß innerhalb der Einspruchsfrist eine "zulässige Einspruchsschrift" von der Einsprechenden eingereicht worden sei, und um Stellungnahme innerhalb der angegebenen Frist gebeten. Die Patentinhaberin reichte ihre Stellungnahme zur Einspruchsschrift am 17. Mai 1984 fristgerecht ein; darin focht sie zunächst die Zulässigkeit des Einspruchs an und beantragte seine Verwerfung auf Grund der Regel 56 EPÜ; sie begründete dies damit, daß die Einspruchsschrift keine "Angabe der Tatsachen und Beweismittel zur Stützung der darin enthaltenen Behauptung" enthalte, der Erfindung mangle es an Neuheit und erfinderischer Tätigkeit.
IV. Mit Entscheidung vom 27. Juni 1985 verwarf die Einspruchsabteilung den Einspruch als unzulässig gemäß Regel 56 (1) EPÜ mit der Begründung, daß er Regel 55 c) EPÜ nicht entspreche. ... Die Einspruchsabteilung war zu allen Merkmalen des beanspruchten Gegenstands, die in der Einspruchsschrift aufgeführt waren, der Auffassung, daß "die vorgebrachten Tatsachen nicht ausreichen, um auch nur einen der angeführten Gründe zu stützen". Die Entscheidung wurde dementsprechend damit begründet, daß "die Einspruchsabteilung die zur Stützung der genannten Einspruchsgründe vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel nicht würdigen kann, weil nachprüfbare Angaben dazu fehlen."
V. Die Beschwerdeführerin legte daraufhin am 23. August 1985 unter Entrichtung der entsprechenden Gebühr Beschwerde ein.
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und Regel 64 EPÜ; sie ist somit zulässig.
2. Zunächst ist im Zusammenhang mit der am 15. Dezember 1983 ergangenen Mitteilung (Form 2317) die Frage zu klären, ob die Einspruchsabteilung befugt war zu entscheiden, daß die Einspruchsschrift unzulässig sei, weil sie Regel 55 c) EPÜ nicht entspreche. Wie unter Nummer III dargelegt, war dieser Mitteilung eine Mitteilung (Form 2316) vom 29. November 1983 vorausgegangen, mit der der Patentinhaberin die Einspruchsschrift übermittelt worden war. Darin hatte es geheißen, daß ihr erst dann eine Frist zur Stellungnahme gesetzt werde, wenn "die Einspruchsschrift auf ihre Zulässigkeit hin geprüft worden ist". In der darauf folgenden Mitteilung vom 15. Dezember 1983 ist die Einspruchsschrift als "zulässig" bezeichnet worden. Daraus ist zu schließen, daß die Einspruchsschrift in der Zeit zwischen dem 29. November und dem 15. Dezember 1983 auf ihre Zulässigkeit hin geprüft wurde.
Die Beschwerdeführerin hat behauptet (s. Nr. VI v)), daß es nach dem EPÜ danach nicht mehr möglich sei, die Einspruchsschrift für unzulässig zu erklären.
3. Nach Auffassung der Kammer war die Einspruchsabteilung nach dem EPÜ sehr wohl befugt, nach Absendung der Mitteilung nach Regel 57 (1) EPÜ am 15. Dezember 1983 den Einspruch gemäß Regel 56 (1) EPÜ zu verwerfen, und zwar aus folgenden Gründen: Gemäß Regel 57 (1) EPÜ ist die Absendung des Formblatts 2317, mit dem der Patentinhaber unter anderem zur Abgabe einer Stellungnahme aufgefordert wird, nur eine "Mitteilung" und keine "Entscheidung" darüber, daß der Einspruch zulässig ist. Stellt die Einspruchsabteilung hingegen nach Regel 56 (1) EPÜ fest, daß eine Einspruchsschrift z. B. Regel 55 c) EPÜ nicht entspricht, so würde der Einspruch im Wege einer "Entscheidung" nach Regel 56 (3) EPÜ als unzulässig verworfen werden.
Der Inhalt einer "Mitteilung" stellt keinesfalls eine "Entscheidung" dar. Dieser Unterschied ist wichtig, weil nur eine "Entscheidung" beschwerdefähig ist (Art. 106 (1) EPÜ). Somit ist also im vorliegenden Fall die Mitteilung, die am 15. Dezember 1983 nach Regel 57 (1) EPÜ ergangen ist, nur eine einseitige, für das herausgebende Organ des EPA nicht verbindliche vorläufige Stellungnahme, auch wenn sie erst abgesandt wurde, nachdem die Einspruchsschrift vermutlich bereits auf ihre Zulässigkeit hin geprüft worden war. Der Inhalt einer "Entscheidung" hingegen ist immer endgültig und für das Organ des EPA, das sie getroffen hat, verbindlich; sie kann nur mit der Beschwerde angefochten werden. Im vorliegenden Fall hatte der spätere Einwand der Patentinhaberin (in ihrer Stellungnahme vom 17. Mai 1984), daß die Einspruchsschrift unzulässig sei, diese Behauptung zu einer Streitfrage im Einspruchsverfahren gemacht. Danach war die Einspruchsabteilung verpflichtet, diese Frage zu prüfen und zwischen den Parteien zu klären und anschließend eine Entscheidung zu treffen, die dann von der beschwerten Partei mit der Beschwerde angefochten werden konnte.
4. Zweitens ist die Frage zu klären, ob die Einspruchsabteilung mit Entscheidung vom 27. Juni 1985 die am 15. November 1983 eingereichte Einspruchsschrift vom Inhalt her zu Recht als unzulässig verworfen hat. Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst festzustellen, was eine Einspruchsschrift nach dem EPÜ mindestens enthalten muß.
Die einschlägigen Vorschriften des EPÜ lauten: Artikel 99 (1): "Der Einspruch ist schriftlich einzureichen und zu begründen."
Regel 55 c): "Die Einspruchsschrift muß enthalten:
[1.] eine Erklärung darüber, in welchem Umfang gegen das europäische Patent Einspruch eingelegt
[2.] und auf welche Einspruchsgründe der Einspruch gestützt wird,
[3.] sowie die Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel".
Artikel 99 (1): Der Einspruch ist "innerhalb von 9 Monaten nach der Bekanntmachung des Hinweises auf die Erteilung des europäischen Patents" einzulegen, d. h. also, daß die Einspruchsschrift innerhalb dieser Frist mit den Erfordernissen der Regel 55 c) in Einklang gebracht werden muß. Dies geht auch aus Regel 56 (1) EPÜ hervor, die vorschreibt, daß der Einspruch zu verwerfen ist, wenn Mängel - unter anderem Verstöße gegen Regel 55 c) EPÜ - nicht innerhalb der Frist von 9 Monaten beseitigt werden.
Diese Erfordernisse müssen sowohl aus dem speziellen Zusammenhang des Einspruchsverfahrens nach den Artikeln 99 bis 105 und den dazugehörigen Regeln 55 bis 63 als auch aus dem Gesamtzusammenhang des EPÜ heraus gesehen werden. Aus dem Gesamtzusammenhang wird deutlich, daß es im Interesse der Öffentlichkeit liegt, das Einspruchsverfahren so zügig abzuwickeln, wie es der Schwierigkeitsgrad im Einzelfall erlaubt.
Aus dem speziellen Zusammenhang heraus folgt auf die Einreichung der Einspruchsschrift als nächster wesentlicher Verfahrensschritt die Prüfung des Einspruchs nach Artikel 101 und den Regeln 57 und 58 EPÜ, bevor gemäß Artikel 102 EPÜ über den Einspruch entschieden wird. So schreibt insbesondere Regel 57 (1) EPÜ vor, daß der Patentinhaber aufgefordert wird, in Erwiderung auf die Einspruchsschrift "eine Stellungnahme und gegebenenfalls Änderungen ... einzureichen."
Mit dem Erfordernis 3 der Regel 55 c) EPÜ (in Verbindung mit den Erfordernissen 1 und 2) soll also sichergestellt werden, daß der Standpunkt des Einsprechenden in der Einspruchsschrift so deutlich dargelegt wird, daß sowohl der Patentinhaber als auch die Einspruchsabteilung wissen, worum es bei dem Einspruch geht. Im Gegensatz zu den Erfordernissen der Regel 55 (1) a) und b) EPÜ und den Erfordernissen 1 und 2 der Regel 55 c) EPÜ, die eher formaler Art sind, ist das Erfordernis 3 der Regel 55 c) EPÜ in Verbindung mit Artikel 99 (1) EPÜ sachlicher Natur und verlangt eine Begründung, die auf den Kern des Einspruchs eingeht. Eine gut formulierte Einspruchsschrift sollte eine kurze, aber vollständige Begründung enthalten. Im allgemeinen wird eine Einspruchsschrift um so eher als unzulässig verworfen, je weniger Gründe sie enthält.
Die Frage, ob eine Einspruchsschrift die sachlichen Mindestanforderungen des Artikels 99 (1) und der Regel 55 c) EPÜ erfüllt, läßt sich nur aus dem Gesamtzusammenhang des betreffenden Falles heraus entscheiden (da einige relevante Faktoren, wie z. B. der Schwierigkeitsgrad der zu entscheidenen Fragen, von Fall zu Fall verschieden sind). Werden zur Begründung mangelnder Neuheit oder erfinderischer Tätigkeit Vorveröffentlichungen herangezogen, so ist das Erfordernis 3 der Regel 55 c) EPÜ je nach Lage des Einzelfalles nur dann erfüllt, wenn die relevanten (d. h. für den Umfang des angefochtenen Patents relevanten) "Tatsachen und Beweismittel" (engl.: facts, evidence and arguments) so ausreichend angegeben sind, daß die angeführten Einspruchsgründe und ihre Stichhaltigkeit von der Einspruchsabteilung und vom Patentinhaber richtig verstanden werden können. Dies ist aus der Sicht des Durchschnittsfachmanns auf dem Gebiet, auf das sich das angefochtene Patent bezieht, objektiv zu beurteilen.
5. Die Frage, ob die Einspruchsschrift dieses Kriterium erfüllt, ist von der Frage der Stichhaltigkeit des Vorbringens des Einsprechenden zu unterscheiden. So kann ein nicht überzeugender Einspruchsgrund klar und eingehend dargelegt worden sein; andererseits kann ein mangelhaftes Vorbringen als unzulässig verworfen werden, das bei richtiger Formulierung zum Erfolg geführt hätte. Das Bestreben, europäische Patente nur auf patentfähige Erfindungen zu erteilen, muß hier gegen das Bestreben nach mehr Verfahrensökonomie im Einspruchsverfahren abgewogen werden; erforderlichenfalls müssen aus der Mißachtung der Vorschriften des Artikels 99 (1) und der Regel 55 c) EPÜ die Konsequenzen gezogen werden.
6. Da im vorliegenden Fall spezielle Hinweise darauf fehlen, welche Angaben in den Entgegenhaltungen für die beanspruchte Erfindung neuheitsschädlich sein oder eine mangelnde erfinderische Tätigkeit begründen sollen, wissen die Einspruchsabteilung und die Beschwerdegegnerin nicht, wo sie bei der Prüfung der Behauptungen der Beschwerdeführerin zu den in Anspruch 1 genannten Parametern ansetzen sollen. Nach Ansicht der Kammer ist die Einspruchsschrift von den aufgeführten Tatsachen und Beweismitteln her in dieser Hinsicht unzulänglich. Die Beschwerdeführerin hat sich darauf beschränkt, die Einspruchsabteilung aufzufordern, von Amts wegen weitere Recherchen in diesen Entgegenhaltungen durchzuführen, in der Hoffnung, sie würde dann aufgrund ihrer Erkenntnisse eigene Argumente formulieren. Dies hätte die Beschwerdeführerin jedoch innerhalb der ihr für die Einreichung der Einspruchsschrift zugestandenen Frist selbst tun müssen. Einsprüche müssen gutgläubig eingereicht und betrieben werden, wenn Verfahrensverzögerungen und Rechtsunsicherheiten vermieden werden sollen. Der Einsprechende verstößt gegen diesen Grundsatz, wenn er für die Einspruchsabteilung wichtige Informationen zurückhält, obwohl sie ihm bereits vorliegen.
7. Was ferner das Merkmal des angegebenen Bereichs der hohen Molekulargewichte anbelangt, so hat die Beschwerdeführerin keine Beweise für ihre Behauptung vorgelegt, daß ihren Messungen zufolge auch einige bekannte Polymere diese Bedingungen erfüllten. Auch hat sie keinerlei Beweismittel dafür eingereicht, daß die "unübliche" Definition des Molekulargewichts den im Stand der Technik enthaltenen Offenbarungen und Definitionen dieser Stoffe nicht gleichgesetzt oder davon abgeleitet werden kann oder wie sich feststellen läßt, daß hier tatsächlich eine Überschneidung vorliegt. Es wäre ihre Aufgabe gewesen nachzuweisen, daß diese Merkmale anhand der vorgelegten Beweismittel in bestimmter Weise ausgelegt werden müssen. Die bloße Beanstandung einer Definition als unüblich ist deshalb im vorliegenden Verfahren unwirksam und irrelevant; die daran angeschlossene Forderung, daß die Patentinhaberin die Neuheit in diesem Zusammenhang nachweisen müsse, stellt eine Umkehrung der Beweislast im Verfahren dar.
8. Nach Auffassung der Kammer war die Entscheidung der Einspruchsabteilung richtig. Ohne Tatsachen und entsprechende Beweismittel entbehren die Behauptungen jeder Grundlage und sind reine Spekulation. Außerdem wird in der Einspruchsschrift nicht begründet, warum die zahlreichen Entgegenhaltungen, die in Verbindung miteinander alle relevanten Merkmale der Ansprüche enthalten sollen, auf mangelnde erfinderische Tätigkeit oder gar mangelnde Neuheit schließen lassen. Schließlich sind Erfindungen gewöhnlich Kombinationen bekannter Merkmale oder Komponenten. Die Annahme, das bloße Vorhandensein einiger oder aller dieser Merkmale in mehreren verschiedenen Entgegenhaltungen könne ohne Begründung für die Nichtigkeit des Patents sprechen, widerspricht den Grundsätzen des Patentrechts und der Patentpraxis. Die Kammer ist deshalb der Auffassung, daß die Einspruchsschrift auch von der Argumentation her unzulänglich ist.
9. Infolgedessen hält die Kammer die Einspruchsschrift für unheilbar mangelhaft; die Entscheidung der Einspruchsabteilung, mit der der Einspruch als unzulässig verworfen wurde, muß somit bestätigt werden.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.