T 0475/07 (Arylmetallverbindungen/MERCK) 08-09-2010
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Verfahren zur Herstellung Arylmetallverbindungen und deren Umsetzung mit Elektrophilen
Bayer Technology Services GmbH und Ehrfeld Mikrotechnik BTS GmbH
BASF SE
Fristgerechtes Nachreichen von Vollmacht, Name und Anschrift der Beschwerdeführer - Beschwerde I gilt als eingelegt und zulässig
Hauptantrag und Hilfsanträge 1-3: Erfinderische Tätigkeit (nein)
Hilfsantrag 4: nicht zugelassen
Kostenentscheidung: fester Betrag angeordnet
Sachverhalt und Anträge
I. Die Einsprechenden I und II legten Beschwerde gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung ein, dass das Europäische Patent Nr. 1 010 703 in der im Einspruchsverfahren geänderten Fassung den Anforderungen des EPÜ genüge.
II. Die angefochtene Entscheidung basierte auf den mit dem Schreiben vom 29. April 2005 eingereichten Ansprüchen 1 bis 11. Der einzige unabhängige Anspruch lautete wie folgt:
"1. Verfahren zur Herstellung von ortho-Halogen-Arylmetallverbindungen durch Deprotonierung von Aromaten, die ein Wasserstoffatom in ortho-Position zu einem Halogenatom aufweisen, mit einer geeigneten Base oder durch Halogen-Metall-Austausch von Halogenaromaten mit einem geeigneten Metallierungsreagenz und deren Umsetzung mit Elektrophilen, dadurch gekennzeichnet, daß man die ortho-Halogen-Arylmetallverbindungen in einem Durchfluß-Reaktor herstellt."
III. Im Einspruchsverfahren wurden unter anderem die folgenden Dokumente zitiert:
(1) US-A-4 940 822
(4) EP-A-0 440 082
(14) M. Baerns, H. Hofmann und A. Renken, Lehrbuch der Technischen Chemie, Band 1, Chemische Reaktions- technik, 2. Auflage 1992, Georg Thieme Verlag, Stuttgart/DE, 238-239, 327-330, 375, 405-407
IV. Die Einspruchsabteilung entschied, die Erfindung sei so deutlich und ausführlich offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen könne. Der Gegenstand der Ansprüche unterscheide sich von der Offenbarung des Dokuments (1) und sei somit neu. Dokument (4) sei der nächstliegende Stand der Technik. Dokument (14) enthalte keinen Hinweis auf die Aufgabe, ein alternatives Verfahren zur Herstellung der Halogenarylverbindungen bereitzustellen. Daher beruhe der Gegenstand der Ansprüche auf erfinderischer Tätigkeit.
V. Der vorliegenden Entscheidung liegen die folgenden Ansprüche zu Grunde:
Die jeweils mit dem Schreiben vom 09. Dezember 2009 eingegangenen
Ansprüche 1-11 des Hauptantrags,
Ansprüche 1-11 des Ersten Hilfsantrags,
Ansprüche 1-10 des Zweiten Hilfsantrags und
Ansprüche 1-10 des Dritten Hilfsantrags.
Ferner wurden in der mündlichen Verhandlung vom 8. September 2010 die Ansprüche 1-8 des Vierten Hilfsantrags vorgelegt.
a) Der einzige unabhängige Anspruch des Hauptantrags lautet wie folgt:
"1. Verfahren zur Herstellung von ortho-Halogen Arylmetallverbindungen durch Deprotonierung von Aromaten, die ein Wasserstoffatom in ortho-Position zu einem Halogenatom aufweisen, mit einer geeigneten Base oder durch Halogen-Metall-Austausch von Halogenaromaten mit einem geeigneten Metallierungsreagenz und deren Umsetzung mit Elektrophilen,
wobei die Umsetzung der gebildeten Arylmetallverbindungen in der Weise erfolgt, daß man die Arylmetallverbindungen in eine Lösung oder eine Schmelze eines Elektrophils außerhalb des Durchfluß-Reaktors einlaufen läßt oder daß man das Elektrophil direkt nach Bildung der Arylmetallverbindungen in den Durchfluß-Reaktor einleitet und es dort zur Reaktion kommen läßt,
dadurch gekennzeichnet, daß man die ortho-Halogen-Arylmetallverbindungen in einem Durchfluß-Reaktor herstellt."
b) Der einzige unabhängige Anspruch des Ersten Hilfsantrags enthält die folgenden durch Fettdruck hervorgehobenen Änderungen gegenüber Anspruch 1 des Hauptantrags:
"1. Verfahren zur Herstellung von ortho-Halogen-Arylmetallverbindungen durch Deprotonierung von Aromaten, die ein Wasserstoffatom in ortho-Position zu einem Fluor- oder Chloratom aufweisen, mit einer geeigneten Base oder durch Halogen-Metall-Austausch von ortho-Halogen-Halogenaromaten, die ein Brom- oder Iodatom aufweisen, das bei der Metallierung ersetzt wird, mit einem geeigneten Metallierungsreagenz und deren Umsetzung mit Elektrophilen, ..."
c) Anspruch 1 des Zweiten Hilfsantrags unterscheidet sich vom Anspruch 1 des Hauptantrags, dadurch, dass der Passus "oder durch Halogen-Metall-Austausch von Halogenaromaten mit einem geeigneten Metallierungsreagenz" gestrichen wurde.
d) Anspruch 1 des Dritten Hilfsantrags unterscheidet sich vom Anspruch 1 des Zweiten Hilfsantrags, dadurch, dass der Passus "die ein Wasserstoffatom in ortho-Position zu einem Halogenatom aufweisen," ersetzt wurde durch "die ein Wasserstoffatom in ortho-Position zu einem Fluor- oder Chloratom aufweisen,".
VI. In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer am 2. März 2010 bestritt die Beschwerdegegnerin die Zulässigkeit der Beschwerde der Beschwerdeführerinnen I, da in der Beschwerdeschrift Namen und Adressen der Beschwerdeführerinnen I nicht genannt und der Unterzeichnende (nämlich Lothar Steiling) nicht von den Beschwerdeführerinnen I bevollmächtigt sei. Daraufhin wurde die mündliche Verhandlung vertagt und den Beschwerdeführerinnen I mit dem Bescheid vom 12. März 2010 eine Frist zur Behebung dieser Mängel gestellt. Mit dem Schreiben vom 30. März 2010 gab der Vertreter der Beschwerdeführerinnen I deren Namen und Adressen an und reichte die Vollmachten für Lothar Steiling nach. Eine zweite mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 08. September 2010 statt. Am Ende dieser mündlichen Verhandlung verkündete der Vorsitzende die Entscheidung der Kammer.
VII. Der Sachvortrag der Beschwerdeführerinnen, soweit er für die vorliegende Entscheidung erheblich ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Die Beschwerdeführerin II erachtet den Gegenstand der Ansprüche für nicht in vollem Umfang ausführbar. Auch gemäß Dokument (1) werde ein Aromat eingesetzt, der in ortho-Position zu einem Halogenatom ein Wasserstoffatom aufweise. Die Reaktion in Gegenwart von n-Butyllithium als Base führe jedoch nicht zur ortho-Halogen-Arylmetallverbindung, obwohl n-Butyllithium im Streitpatent als geeignete Base genannt sei. Wolle der Fachmann aus dem im Dokument (1) eingesetzten Aromaten eine ortho-Halogen-Arylmetallverbindung herstellen, müsse er mühsam ausprobieren, welche Base geeignet sei, um ein Proton in ortho-Position zum Halogenatom abzuspalten.
Die Beschwerdeführerin II stellte auch Antrag auf Kostenverteilung. Sie begründete diesen Antrag damit, dass die Patentinhaberin als Beschwerdegegnerin erst in der ersten mündlichen Verhandlung die Zulässigkeit der Beschwerde I bezweifelt habe, wobei es für sie offensichtlich hätte sein müssen, dass dies mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Vertagung führen würde. Hätte sie den Einwand früher vorgebracht, so hätte die Zulässigkeit der Beschwerde im schriftlichen Verfahren geklärt und eine erneute mündliche Verhandlung vermieden werden können.
Alle Beschwerdeführerinnen gingen vom Dokument (4) als dem nächstliegenden Stand der Technik aus. Die im Streitpatent genannte Aufgabe - die Umsetzung bei höheren Temperaturen, mit geringerem Gefahrenpotential und höheren Ausbeuten durchzuführen - werde nicht glaubhaft gelöst. In den Beispielen des Streitpatents werde die Reaktion bei -35 ºC bzw. -50 ºC durchgeführt, also unterhalb der kritischen Grenze von -25 ºC. Eine bessere Ausbeute als im Dokument (4) sei nicht belegt, da die Beispiele des Streitpatents keine Ausbeuten sondern nur Umsätze angäben. Die zu lösende Aufgabe beschränke sich daher darauf, ein alternatives Verfahren zur Herstellung von ortho-substituierten Halogen-Arylverbindungen bereitzustellen. Der Gegenstand der Ansprüche sei nicht erfinderisch, unter anderem im Hinblick auf Dokument (1). Dieses betone die Gefahr der explosiven Zersetzung der Arylmetallverbindung und empfehle, das Verfahren im Rohrreaktor durchzuführen, um diese Gefahr zu verringern.
Die Beschwerdeführerinnen hielten den in der zweiten mündlichen Verhandlung vor der Kammer vorgelegten Vierten Hilfsantrag für nicht prima facie gewährbar. Dokument (4) bevorzuge bereits Aldehyde und Ketone als Elektrophile. Auch Dokument (1) setze die Arylmetallverbindung mit Aldehyden um.
VIII. Die Beschwerdegegnerin hatte im schriftlichen Verfahren nach der ersten mündlichen Verhandlung vor der Kammer moniert, die nachgereichten Vollmachten der Beschwerdeführerinnen I für Herrn Steiling seien unvollständig ausgefüllt. Zur Offenbarung des Streitpatents bemerkte sie, der vorliegende Anspruch 1 umfasse zwei Verfahrensvarianten, die beide ausreichend offenbart und gegeneinander abzuwägen seien; mit geeigneten Basen sei auch eine ortho-Deprotonierung von Bromaromaten möglich.
Das Dokument (4) sei der nächstliegende Stand der Technik. Aufgabe der Erfindung sei es gewesen, das Verfahren kontinuierlich mit höheren Ausbeuten unter Beibehaltung der geringen Explosionsgefahr auch bei höheren Temperaturen durchzuführen. Diese Aufgabe werde durch den Gegenstand der Ansprüche gelöst. Das Streitpatent erfordere eine andere Reihenfolge der Zugabe der Reaktanden als das Dokument (4). Der Fachmann hätte Dokument (1) nicht herangezogen, da dort keine zum Halogenatom ortho-ständige Substitution erfolge.
Sie hielt eine Kostenverteilung nicht für gerechtfertigt, da sie die Vertagung der mündlichen Verhandlung nicht beantragt hatte.
IX. Die Beschwerdeführerinnen I beantragten, den Vierten Hilfsantrag nicht zuzulassen, die angefochtenen Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen. Die Beschwerdeführerin II beantragte zusätzlich hierzu, ihre Kosten für die erneute mündliche Verhandlung und deren Vorbereitung in Höhe von 2 300 Euro der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen.
Die Beschwerdeführerinnen I hielten einen in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer gestellten Antrag auf Kostenverteilung zu ihren Gunsten gegen Ende der Verhandlung nicht mehr aufrecht.
Die Beschwerdegegnerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent aufrechtzuerhalten im Umfang der Ansprüche des Hauptantrags oder des Ersten, Zweiten, Dritten oder Vierten Hilfsantrags. Ferner beantragte sie sinngemäß, den Antrag auf Kostenverteilung zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
1. Zulässigkeit der Beschwerden
1.1 Beschwerdeführerinnen I
Die Beschwerdegegnerin hielt diese Beschwerde für unzulässig, da in der Beschwerdeschrift Namen und Anschriften der Beschwerdeführerinnen I nicht genannt und der Unterzeichnende nicht von den Beschwerdeführerinnen I bevollmächtigt sei (siehe oben unter Punkt VI). Dass diese Mängel der Beschwerdeschrift mit Datum vom 16. März 2007 vorlagen, wurde von den Beschwerdeführerinnen I nicht bestritten.
1.1.1 Das Erfordernis, Namen und Anschrift des Beschwerdeführers in der Beschwerdeschrift anzugeben, ist in Regel 99(1) a) EPÜ festgelegt. Falls dies nicht erfolgt ist, so teilt die Beschwerdekammer "dies dem Beschwerdeführer mit und fordert ihn auf, innerhalb einer zu bestimmenden Frist die festgestellten Mängel zu beseitigen. Werden diese nicht rechtzeitig beseitigt, so verwirft die Beschwerdekammer die Beschwerde als unzulässig." (Regel 101(2) EPÜ).
1.1.2 Die Beschwerdeschrift ist von Herrn Lothar Steiling als zugelassenem Vertreter unterschrieben.
Gemäß Regel 152(1) EPÜ bestimmt der Präsident des Europäischen Patentamts, in welchen Fällen die Vertreter vor dem Europäischen Patentamt eine Vollmacht einzureichen haben. Dies hat die Präsidentin mit dem Beschluss vom 12. Juli 2007 getan (siehe Beilage zum ABl. EPA Nr. 1/2010, 76). Dort heißt es in Artikel 1, Absatz (3), das Europäische Patentamt könne "die Vorlage einer Vollmacht verlangen ... bei Zweifeln über die Vertretungsbefugnis des zugelassenen Vertreters.".
Der Akte und den internen Datenbanken des EPA war nicht zu entnehmen, ob Herr Steiling für die Einsprechenden I vertretungsbefugt ist.
Falls eine erforderliche Vollmacht nicht eingereicht wurde, hat das Europäische Patentamt gemäß 152(2) EPÜ den Vertreter aufzufordern, innerhalb einer bestimmten Frist eine entsprechende Vollmacht nachzureichen. "Wird eine vorgeschriebene Vollmacht nicht rechtzeitig eingereicht, so gelten ... die Handlungen des Vertreters ... als nicht erfolgt." (Regel 152(6) EPÜ). Dies würde im vorliegenden Fall bedeuten, dass die Beschwerde als nicht eingelegt gälte.
1.1.3 Die Kammer hat in der am 12. März 2010 zur Post gegebenen Mitteilung beide Mängel gerügt und zu deren Behebung den Beschwerdeführerinnen I eine Frist von zwei Monaten gesetzt.
Mit dem Schreiben vom 30. März 2010, also innerhalb der gesetzten Frist, haben die Beschwerdeführerinnen I ihre Namen und Anschriften angegeben und Vollmachten für Herrn Steiling nachgereicht. Diese beiden Vollmachten enthalten auf dem amtlichen Vordruck jeweils die folgenden Angaben: Anmeldenummer des Streitpatents, Name und Adresse des Vollmachtgebers und der bevollmächtigten Person, Name, Stellung und Unterschrift des für den Vollmachtgeber unterzeichnenden Person, sowie Ort und Datum der Unterschrift.
Der Einwand der Beschwerdegegnerin, "Die Vollmachten sind nicht vollständig ausgefüllt." in deren Schreiben mit Datum vom 10. Mai 2010 wird nicht erläutert. Er kann sich nur darauf beziehen, dass die Vollmachtgeber in beiden Fällen nicht durch Ankreuzen des entsprechenden Kästchens angaben ob Herr Steiling sie als "Anmelder oder Patentinhaber" oder als "Einsprechenden (Einsprechende)" vertreten solle.
Diese Angabe war jedoch obsolet, da aus der durch die Anmeldenummer bezeichneten Akte hervorgeht, dass die Vollmachtgeber nicht Patentinhaber (bzw. Anmelder) sondern Einsprechende sind bzw. waren.
Folglich haben die Beschwerdeführerinnen I die gerügten Mängel behoben. Da ihre Beschwerde auch den übrigen Kriterien gemäß Artikel 106 bis 108 und Regel 99 EPÜ genügt, gilt ihre Beschwerde als eingelegt und zulässig.
1.2 Die Zulässigkeit der Beschwerde der Beschwerdeführerin II wurde nicht bestritten. Diese Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und Regel 99 EPÜ. Sie ist somit zulässig.
Hauptantrag und Erster bis Dritter Hilfsantrag
2. Artikel 123 EPÜ
Die Beschwerdeführerinnen erhoben weder Einwände gemäß Artikel 123 EPÜ, noch stützten sie sich auf Einspruchsgründe gemäß Artikel 100(c) EPÜ. Die Kammer hat sich vergewissert, dass die vorliegenden Ansprüche den Erfordernissen des Artikels 123 EPÜ genügen. In Anbetracht des Ausgangs dieser Entscheidung erübrigt sich eine detaillierte Begründung.
3. Artikel 100(b) EPÜ
Im Einspruchsbeschwerdeverfahren trägt jede Partei die Beweislast für Behauptungen, auf die sie sich stützt. Somit oblag es der Beschwerdeführerin II, ihre Behauptung zu belegen, das Streitpatent offenbare den Gegenstand der Ansprüche nicht so deutlich und vollständig, dass ein Fachmann ihn ausführen könne.
Das gemäß dem Hauptantrag und den Ersten, Zweiten und Dritten Hilfsanträgen beanspruchte Verfahren umfasst die ortho-Deprotonierung eines Halogenaromaten mit einer geeigneten Base.
Die in Dokument (1) beschriebene Umsetzung von 1-Bromo-4-(trifluormethyl)benzol mit n-Butyllithium ergibt 4-Trifluormethylphenyl-Lithium. Die Base n-Butyllithium extrahiert also nicht ein Proton in ortho-Stellung zum Bromatom - wie im im Streitpatent beanspruchten Verfahren gefordert - sondern das Bromatom selbst.
N-Butyllithium ist daher nicht die geeignete Base, um 1-Bromo-4-(trifluormethyl)benzol gemäß den Ansprüchen des Streitpatents umzusetzen.
Die Beschwerdeführerin II hat behauptet, dass das Auffinden einer geeigneten Base für den Fachmann sehr mühsam sei. Sie hat diese Behauptung jedoch nicht durch Beweismittel belegt. Die Kammer hatte in ihrem Bescheid vom 9. Oktober 2009 darauf hingewiesen, dass gemäß den Absätzen [0086] und [0087] des Streitpatents Metallamide, insbesondere Lithiumamid, für die Deprotonierung von Halogenaromaten bevorzugt seien. Lithiumamid wäre daher für den Fachmann die Base der Wahl für den genannten Zweck gewesen. Keine der Beschwerdeführerinnen hat glaubhaft gemacht, dass bei Ersatz von n-Butyllithium durch Lithiumamid Bromo-4-(trifluormethyl)benzol nicht gemäß dem im Streitpatent beanspruchten Verfahren reagiere. Die Behauptung der Beschwerdeführerin II, dass das Auffinden einer geeigneten Base für den Fachmann sehr mühsam sei, ist daher nicht belegt.
Somit stehen keine Gründe gemäß Artikel 100(b) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents entgegen.
4. Neuheit
Die Neuheit ist von den Beschwerdeführern nicht mehr bestritten worden. Dokument (1) offenbart die Umsetzung von 1-Bromo-4-(trifluormethyl)benzol mit Butyllithium und die anschließende Umsetzung mit 4-Trifluormethylbenzaldehyd im Rohrreaktor (siehe die Beispiel 1 und 5 und Anspruch 4). Die so intermediär hergestellten Halogen-Arylmetallverbindungen besitzen jedoch kein Halogenatom in ortho-Stellung zum Metall. Kein anderes der zitierten Dokumente offenbart die Herstellung von ortho-Halogen-Arylmetallverbindungen in einem Durchflussreaktor. Daher ist der Gegenstand der Ansprüche neu.
5. Erfinderische Tätigkeit
5.1 Nächstliegender Stand der Technik
Alle Parteien gingen vom Dokument (4) als nächstliegendem Stand der Technik aus. Die Kammer stimmt dem zu (siehe Punkt 5.1 ihres Bescheides vom 9. Oktober 2009).
Dieses Dokument offenbart die Herstellung von ortho-Fluorphenylderivaten durch Reaktion des entsprechenden Fluorarylderivats mit Butyllithium oder einer anderen starken Base unter Deprotonierung (wobei intermediär die ortho-Fluoraryllithium-Verbindung entsteht) in Gegenwart eines Elektrophils (siehe Anspruch 1 und Seite 3, Zeilen 9-17).
5.2 Aufgabe
5.2.1 Die Beschwerdegegnerin war der Ansicht, Aufgabe der Erfindung sei es gewesen, das Verfahren zur Herstellung von ortho-substituierten Halogen-Arylverbindungen kontinuierlich mit höheren Ausbeuten unter Beibehaltung der geringen Explosionsgefahr auch bei höheren Temperaturen durchzuführen (siehe oben im zweiten Absatz unter Punkt VIII).
5.2.2 Obwohl die Bestimmung "daß man die ortho-Halogen-Arylmetallverbindungen in einem Durchfluß-Reaktor herstellt" im Anspruch 1 des Hauptantrage und der Ersten bis Dritten Hilfsanträge eine kontinuierliche Fahrweise zulässt, sind die Ansprüche nicht auf ein kontinuierliches Verfahren beschränkt. Daher kann das Merkmal "kontinuierlich" nicht Bestandteil der zu lösenden Aufgabe sein.
Weder enthalten die Beispiele des Streitpatents Angaben über Ausbeuten, noch hat die Beschwerdegegnerin entsprechende Angaben oder Versuchsergebnisse nachgereicht. Folglich ist eine angeblich höhere oder auch nur hohe Ausbeute im Vergleich zu dem in Dokument (4) beschriebenen Verfahren nicht glaubhaft gemacht worden.
Ebensowenig ist belegt, dass das beanspruchte Verfahren bei höheren oder wenigstens bei ähnlich hohen Temperaturen wie in den Beispielen des Dokuments (4) durchführbar ist, ohne dass das Risiko einer Explosion in Kauf genommen wird (siehe oben im vorletzten Absatz unter Punkt VII).
5.2.3 Folglich beschränkt sich die objektiv zu lösende Aufgabe darauf, ein alternatives Verfahren zur Herstellung von ortho-substituierten Halogen-Arylverbindungen unter Beibehaltung der im Dokument (4) erzielten geringen Explosionsgefahr bereitzustellen. Die Beispiele des Streitpatents belegen, dass diese Aufgabe gelöst wurde.
5.3 Bei der Lösung dieser Aufgabe hätte der Fachmann Dokumente zu Rate gezogen, die ähnliche Reaktionen mit vergleichbaren Explosionsrisiken offenbaren. Die Beschwerdegegnerin hat erwähnt, dass im Verfahren gemäß Dokument (1) keine zum Halogenatom ortho-ständige Substitution erfolge (siehe oben im zweiten Absatz unter Punkt VIII). Jedoch entsteht auch im im Dokument (1) beschriebenen Verfahren in der ersten Stufe eine Arylmetallverbindung, die explosionsartig zerfallen kann (nämlich 4-Trifluormethylphenyllithium; siehe Spalte 1, Zeilen 24-33 und Anspruch 22). Ebenso wird, wie in den vorliegenden Ansprüchen 1, diese instabile Zwischenstufe im Dokument (1) mit einem Elektrophil umgesetzt (nämlich mit einem gegebenenfalls substituierten Benzaldehyd; siehe Dokument (1), Anspruch 4). Daher hätte der Fachmann Interesse dafür gezeigt, wie im Dokument (1) die Reaktion geführt wird, um Explosionen zu vermeiden. Dabei wäre ihm der folgender Absatz besonders ins Auge gefallen:
"The process is preferably carried out in a continuous manner in a tube reactor or other small residence volume continuous reaction system which minimizes the possibility of explosion. The intermediates are prevented from building up as they are reacted as soon as they are formed." (Spalte 4, Zeilen 28-33).
Folglich hätte der Fachmann zur Vermeidung der Explosionsgefahr das Verfahren kontinuierlich in einem Rohrreaktor ("tube reactor"), also einem Durchflussreaktor, durchgeführt. Hier bot sich primär die in den Beispielen 1 und 5 verwendete Apparatur an, in der im ersten Rohrreaktor die Arylmetallverbindung hergestellt wurde, die in einem zweiten Rohrreaktor mit dem über ein T-Stück eingespeisten Elektrophil reagierte.
5.4 Aus diesen Gründen war es für den Fachmann auf der Suche nach einem alternativen Verfahren zur Herstellung von ortho-substituierten Halogen-Arylverbindungen unter Beibehaltung der im Dokument (4) erzielten geringen Explosionsgefahr naheliegend, die Reaktionsführung wie in den Beispielen 1 und 5 des Dokuments (1) abzuändern. Er wäre damit zum Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags und der Ersten bis Dritten Hilfsanträge gelangt. Daher ist der Gegenstand dieser Ansprüche nicht erfinderisch.
5.5 Die Kammer kann nur über einen Antrag als Ganzes entscheiden. Daher weist sie den Hauptantrag und den Ersten bis Dritten Hilfsantrag zurück.
6. Vierter Hilfsantrag
Der einzige unabhängige Anspruch des Vierten Hilfsantrags unterscheidet sich vom Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass in Ersterem festgelegt ist, dass "als Elektrophil ein Keton, ein Carbonsäureamid oder ein Aldehyd verwendet wird." Die Beschwerdeführerinnen hatten beantragt, diesen Antrag nicht zuzulassen (siehe oben unter Punkt IX und im letzten Absatz von Punkt VII). Wie sie betonten, sind schon gemäß dem Dokument (4) Aldehyde und Ketone als Elektrophile bevorzugt (siehe Seite 7, Zeilen 26-55, insbesondere die Formeln IIIb und IIIf; siehe auch die auf Seite 13, Zeilen 50-51 genannten n-Alkanale). Das im Dokument (1) offenbarte Verfahren verwendet ausschließlich Aldehyde als Elektrophile, nämlich gegebenenfalls substituiertes Benzaldehyd (siehe Anspruch 4).
Es war daher offensichtlich, dass das zusätzliche Merkmal des Anspruchs 1 des Vierten Hilfsantrags keinen Beitrag zur erfinderischen Tätigkeit leisten kann. Der Vierte Hilfsantrags erschien daher prima facie als nicht gewährbar.
Aus diesen Gründen ließ die Kammer diesen Antrag nicht in das Verfahren zu.
7. Kostenverteilung
7.1 Gemäß Artikel 104(1) EPÜ trägt im Einspruchsverfahren "jeder Beteiligte die ihm erwachsenen Kosten selbst, soweit nicht die Einspruchsabteilung, wenn dies der Billigkeit entspricht, nach Maßgabe der Ausführungsordnung eine andere Verteilung der Kosten anordnet."
Laut Artikel 111(1) EPÜ kann die Beschwerdekammer im Rahmen der Zuständigkeit des Organs tätig werden, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat.
Daher kann die Kammer im vorliegenden Fall im Rahmen der Zuständigkeit der Einspruchsabteilung eine Kostenverteilung beschließen, wenn dies der Billigkeit entspricht.
7.2 In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer am 2. März 2010 bestritt die Beschwerdegegnerin erstmals die Zulässigkeit der Beschwerde der Beschwerdeführerinnen I.
Sie führte u. a. an,
- die Beschwerdeschrift führe nicht Namen und Adressen der Beschwerdeführerinnen auf und
- der Unterzeichnende der Beschwerdeschrift sei nicht von den Beschwerdeführerinnen I bevollmächtigt (siehe oben unter den Punkten VI und 1.1).
Der letztere Mangel konnte nur durch Vorlage von Vollmachten behoben werden. Vollmachten können nicht per Telefax eingereicht werden (siehe Artikel 3 des Beschlusses der Präsidentin des EPA vom 12. Juli 2007, Sonderausgabe Nr. 3 ABl. EPA 2007, 7).
Daher muss der Beschwerdegegnerin klar gewesen sein, dass die Kammer auf ihren Einwand hin die mündliche Verhandlung vertagen und eine neue mündliche Verhandlung ansetzen musste. Die Tatsache, dass sie nicht selbst die Vertagung beantragt hatte, ist daher unwesentlich.
Durch diese erneute mündliche Verhandlung sind den Beteiligten zusätzliche Kosten entstanden. Diese hätten vermieden werden können, wenn die Beschwerdegegnerin diese Mängel früher gerügt hätte. Dies wäre ihr möglich gewesen, da ihr die Mängel aufweisende Beschwerdeschrift mit Datum vom 16. März 2007 mit dem Bescheid vom 27. März 2007 zugestellt wurde.
Folglich ist es billig, der Beschwerdegegnerin Kosten für die zusätzliche mündliche Verhandlung aufzuerlegen.
7.3 Somit ist nun zu entscheiden, wessen Kosten der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen sind.
7.3.1 Die Beschwerdeführerinnen I haben zwar nicht direkt die Vertagung der mündlichen Verhandlung verursacht. Sie haben aber durch ihre mangelhafte Beschwerdeschrift den Anlass für diese Vertagung gegeben. Daher entspricht es nicht der Billigkeit, ihre zusätzlichen Kosten der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen.
7.3.2 Die Beschwerdeführerin II hat den Antrag auf Kostenverteilung gestellt. Da die Zulässigkeit ihrer Beschwerde nicht angezweifelt wurde, hat sie nicht zur Vertagung der mündlichen Verhandlung beigetragen. Die Kammer entschied daher, nur ihre Kosten für die zusätzliche mündliche Verhandlung der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen.
7.4 Gemäß Regel 88(2) EPÜ setzt die Einspruchsabteilung auf Antrag den Betrag der Kosten fest. Artikel 111(1) EPÜ lässt es zu, dass die Beschwerdekammer im Rahmen der Zuständigkeit des Organs tätig wird, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat.
7.5 Die Beschwerdeführerin II setzte ihre Kosten für die zusätzliche mündliche Verhandlung und deren Vorbereitung auf 2 300 EUR an.
Regel 88(1() sieht vor, dass nur die Kosten berücksichtigt werden, "die zur zweckentsprechenden Wahrung der Rechte notwendig waren. Zu den Kosten gehört die Vergütung der Vertreter der Beteiligten."
Es war daher zu ermitteln, ob Kosten in Höhe von 2 300 EUR zur zweckentsprechenden Wahrung der Rechte der Beschwerdeführerin II notwendig waren.
Die Beschwerdeführerin II war während beider mündlichen Verhandlungen von Herrn Dr. Michael Pohl, einem freiberuflichen Patentanwalt, vertreten. Die Vergütung dieses Vertreters gehört also zu den zweckentsprechenden Kosten gemäß Regel 88(1) EPÜ.
In der Entscheidung T 0930/92 vom 29. Mai 1995 (ABl. EPA 4/1996, 191; siehe insbesondere Punkt 4.3 der Entscheidungsgründe) hielt die Kammer Kosten in Höhe von 8 750 DEM für die Vergütung des zugelassenen Vertreters während dreieinhalb Tagen für die Vorbereitung und die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung für angemessen.
"Zur Festsetzung der Kosten genügt es, dass sie glaubhaft gemacht werden." (Regel 88 (2) EPÜ, letzter Satz).
Die Kammer geht im vorliegenden Fall davon aus, dass der Vertreter einen Tag für die Vorbereitung und einen Tag für die Teilnahme an der zusätzlichen mündlichen Verhandlung ansetzen könnte. Daher erscheint der Ansatz von Kosten in Höhe von 2 300 EUR glaubhaft. Deshalb hält sie eine detaillierte Kostenberechnung im vorliegenden Fall ausnahmsweise für überflüssig.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Das Patent wird widerrufen.
2. Die Beschwerdegegnerin zahlt an die Beschwerdeführerin II im Wege der Kostenverteilung den Betrag von 2 300 Euro.