T 0925/16 22-02-2021
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Vorrichtung zur Bildung von Zigarettengruppen
Änderungen - Erweiterung über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinaus (ja)
Spät eingereichte Hilfsanträge - zugelassen (nein)
Spät eingereichte Hilfsanträge - Hilfsanträge I bis V: nicht substantiiert
Spät eingereichte Hilfsanträge - Hilfsantrag VI: eingereicht nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung
Sachverhalt und Anträge
I. Die Einsprechende (Beschwerdeführerin) hat gegen die Entscheidung, mit der der Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 2 468 636 zurückgewiesen wurde, form- und fristgerecht Beschwerde eingelegt.
II. Mit dem Einspruch war das Patent in vollem Umfang unter Geltendmachung der Einspruchsgründe mangelnder Neuheit, mangelnder erfinderischen Tätigkeit, mangelnder Offenbarung sowie unzulässiger Erweiterung nach Artikel 100 a) bis c) EPÜ angegriffen worden.
III. Mit Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 vom 3. November 2020 teilte die Kammer den Parteien ihre vorläufige Beurteilung der Sach- und Rechtslage mit, wonach der Beschwerde voraussichtlich stattgegeben werden dürfte.
IV. Die Beschwerdegegnerin nahm mit Schriftsatz vom 30. November 2020 inhaltlich dazu Stellung, reichte einen neuen Anspruchssatz gemäß Hilfsantrag VI ein und beantragte hilfsweise die Zurückweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Prüfung der Hilfsanträge.
V. Am 22. Februar 2021 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt, in der die Sach- und Rechtslage mit den Parteien erörtert wurde. Wegen der Einzelheiten des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf das Protokoll verwiesen. Der Tenor der vorliegenden Entscheidung wurde am Ende der mündlichen Verhandlung verkündet.
VI. Verfahrensabschließend beantragten
die Beschwerdeführerin (Einsprechende)
die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und
den Widerruf des Patents;
die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin)
die Zurückweisung der Beschwerde, d.h. die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung (Hauptantrag),
hilfsweise, bei Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Basis eines der Anspruchssätze, eingereicht
als Hilfsanträge I bis IV mit Schriftsatz vom 4. Januar 2016,
als Hilfsantrag V mit der Beschwerdeerwiderung und
als Hilfsantrag VI mit Schriftsatz vom 30. November 2020,
weiter hilfsweise,
die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Prüfung der Hilfsanträge.
VII. Der unabhängige Anspruch 1 des Patents in der erteilten Fassung (Hauptantrag) lautet wie folgt (Änderungen gegenüber Anspruch 1 der ursprünglich eingereichten Anmeldungsunterlagen wurden von der Kammer durch Unter- bzw. Durchstreichung hervorgehoben):
"Vorrichtung zur Bildung von Zigarettengruppen (11) durch Ausstoßen einer dem Inhalt einer Zigarettenpackung entsprechenden Anzahl von Zigaretten (10) aus aufrechten, durch Schachtwände (16) begrenzten Schächten (13) eines Zigaretten-Magazins (12) mit Hilfe von hin- und herbewegbaren, stegartigen Stößeln (23, 24), die zum Ausschub der Zigaretten (10) in die Schächte (13) eintreten und danach in eine Ausgangssstellung außerhalb des Bereichs der Schächte (13) zurückgezogen sind, wobei die einer Zigarettengruppe (11) zugeordneten Stößel (23, 24) zu einer Einheit miteinander verbunden sind, [deleted: dadurch gekennzeichnet, dass] gekennzeichnet durch folgende Merkmale:
a) die Stößel (23) einer Einheit sind in einem Arbeitsbereich, also in einem mindestens zeitweilig im Bereich der Schächte (13) liegenden Abschnitt, durch [deleted: mindestens einen Querträger] eine plattenförmige Verbindung - Verbindungsplatte (29) - miteinander verbunden [deleted: sind],
b) die Verbindungsplatte (29) ist im unteren Querschnittsbereich der Stößel (23) oder am unteren Rand derselben zur Verbindung der nebeneinanderliegenden Stößel (23) angeordnet,
c) die aufrechten Schachtwände (16) der Schächte (13) erstrecken sich bis in den Bereich der Stößel (23) und enden zwischen diesen mit Abstand oberhalb der Verbindungsplatte (29)."
VIII. Das entscheidungserhebliche Vorbringen der Parteien wird im Detail in den Entscheidungsgründen diskutiert.
Entscheidungsgründe
1. Revidierte Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020) - Übergangsbestimmungen
Das vorliegende Verfahren unterliegt der revidierten Fassung der Verfahrensordnung, die am 1. Januar 2020 in Kraft getreten ist (Artikel 24 und 25 (1) VOBK 2020), mit Ausnahme von Artikel 12 (4) bis (6) VOBK 2020, anstelle dessen Artikel 12 (4) VOBK 2007 weiterhin anwendbar ist (Artikel 25 (2) VOBK 2020).
2. Hauptantrag - unzulässige Erweiterung - Artikel 100 c) und 123(2) EPÜ
Die Beschwerdeführerin argumentiert (Beschwerdebegründung, Punkte IV.2.1 und IV.2.2), dass die Einführung der Wörter "einer Einheit sind" im Merkmal, "die Stößel (23) einer Einheit sind in einem Arbeitsbereich ... miteinander verbunden" des erteilten Anspruchs 1 keine wörtliche Grundlage in den ursprünglichen Ansprüchen habe. Nach Ansicht der Beschwerdeführerin wurde der Anspruch so geändert, dass er eine Ausführungsform enthält (alle Stößel sind durch eine Verbindungsplatte miteinander verbunden), die die ursprüngliche Anmeldung nicht offenbare.
2.1 Überprüfung der angefochtenen Entscheidung
2.1.1 In der angefochtenen Entscheidung (Entscheidungsgründe, II.2.1.2) stellte die Einspruchsabteilung fest, dass obwohl alle Stößel, die zum Ausstoßen einer komplette Zigarettengruppe notwendig sind, miteinander verbunden sein müssen, der Gegenstand der ursprünglichen Ansprüche 1 und 2 so breit gefasst war, dass diese Ausführungsform unter seinem Gegenstand zu verstehen sei und von daher keine unzulässige Erweiterung vorliege.
2.1.2 Nach der ständigen Rechtsprechung (Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Auflage 2019, II.E.1.1) darf eine Änderung nicht dazu führen, dass der Fachmann neue technische Information erhält. Die Änderungen dürfen nur im Rahmen dessen erfolgen, was der Fachmann der Gesamtheit der Unterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens - objektiv und bezogen auf den Anmeldetag - unmittelbar und eindeutig entnehmen kann.
Es reicht nicht festzustellen, dass der Gegenstand eines geänderten Anspruchs noch in den Schutzbereich der erteilten Ansprüche fällt, sondern es ist zu prüfen, ob die bestimmte Ausführungsform tatsächlich offenbart wurde.
2.1.3 Die Kammer ist der Auffassung, dass die Merkmale der Verbindungsplatte im ursprünglichen Anspruch 2 offenbart sind, dieser Anspruch 2 jedoch keine Einheit aus miteinander verbundenen, einer Zigarettengruppe zugeordneten Stößel durch diese Verbindungsplatte, definiert.
Daher ist die Einheit, die im erteilten Anspruch 1 beansprucht wurde, bei der die einer Zigarettengruppe zugeordneten Stößel durch eine Verbindungsplatte miteinander verbunden sind, in den ursprünglichen Ansprüchen nicht offenbart.
Um festzustellen, ob die Änderung zu einer Erweiterung der ursprüngliche Offenbarung geführt haben, muss jedoch geprüft werden, ob die Anmeldung als Ganzes die geänderte Ausführungsform offenbart.
2.2 Argumentationslinien der Beschwerdegegnerin
2.2.1 Die Beschwerdegegnerin argumentiert, dass
a) die von der Einspruchsabteilung und der Einsprechende verfolgte Auslegung des erteilten Anspruchs 1 inkorrekt sei (siehe Schriftsatz vom 30. November 2020, Punkt 7.) und
b) die ursprünglichen Anmeldungsunterlagen als Ganzes zwei Ausführungsformen zeigten (siehe Schriftsatz vom 22. Dezember 2016, I.1. bis I.4).
Zur Argumentationslinie a): erteilter Anspruch 1 umfasst zwei Einheiten:
2.2.2 Mit ihrem Schriftsatz vom 30. November 2020 und in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer brachte die Beschwerdegegnerin vor, dass kein Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ vorliege, da Anspruch 1 zwei verschiedene Einheiten mit Stößeln umfasse, nämlich eine Ausschubeinheit und eine Schiebereinheit. Daher beanspruche Anspruch 1 keine Vorrichtung, bei der alle einer Zigarettengruppe zugeordneten Stößel durch eine Verbindungsplatte miteinander verbunden seien.
Durch Verwendung des unbestimmten Artikels verstehe der Fachmann, dass die Einheit im Begriff "die Stößel einer Einheit" eine unterschiedliche Einheit zu der Einheit in dem Merkmal sei "die einer Zigarettengruppe zugeordneten Stößel zu einer Einheit miteinander verbunden sind" (Hervorhebung durch die Kammer hinzugefügt).
Zur Ausschubeinheit gehörten die Stößel 23 und 24, wie im Absatz [0015] der A1-Schrift beschrieben sei. Diese Stößel seien durch ein Kopfstück 27 miteinander verbunden.
Die zweite Einheit (die Schiebereinheit) sei im Absatz [0016] angesprochen und beinhalte nur die Stößel 23, die (zusätzlich) durch die Verbindungsplatte 29 zu einer Einheit verbunden seien.
Die Beschwerdegegnerin brachte weiterhin vor, dass eine andere Auslegung des Anspruchs 1 in Widerspruch zur Beschreibung und auch zum Gegenstand des erteilten Anspruchs 7 stünde, da in diesem Anspruch nur eine ausgewählte Anzahl von Stößeln miteinander verbunden seien. Daher mache nur die Auslegung des Anspruchs 1 technisch Sinn, bei der nicht alle Stößel mit der Verbindungsplatte verbunden seien. Wenn ein Merkmal eines Anspruchs nicht eindeutig sei, dürfe die Beschreibung zu seiner Auslegung herangezogen werden.
2.2.3 In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer argumentierte hingegen die Beschwerdeführerin, dass zwei verschiedene Einheiten nirgendwo in der ursprünglichen Anmeldung definiert seien und dass dem Gegenstand des Anspruchs 1 klar und eindeutig zu entnehmen sei, dass die einer Zigarettengruppe zugeordneten Stößel in einem Arbeitsbereich durch eine Verbindungsplatte miteinander verbunden seien.
2.2.4 Die Kammer stellt fest, und zwar unbeschadet der Frage, ob der Anspruch klar und eindeutig ist, dass es keine Offenlegung von zwei unterschiedlichen Einheiten in den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen gibt.
Die Schiebereinheit aus dem Absatz [0016] ist dieselbe Einheit, wie die Ausschubeinheit des Absatzes [0015].
Im Absatz [0016] wird die Einheit der vorherigen Absatzes weiter beschrieben, d.h. diese beiden Absätze beschreiben eine Einheit, in der alle Stößel einer Zigarettengruppe durch ein Endstück bzw. Kopfstück miteinander verbunden sind, aber nicht alle Stößel einer Zigarettengruppe sind mit der Verbindungsplatte verbunden, wie aus den zugehörigen Figuren auch zu entnehmen ist.
In Absatz [0018] wird weiter beschrieben, dass die Schachtwände "aufgrund der Ausbildung der Ausschubeinheit" nicht bis zur Bodenplatte 21 geführt werden. Es ist die Verbindungsplatte, die verhindert, dass die Schachtwände bis zur Bodenplatte geführt werden, d.h. die Verbindungsplatte muss Teil der Ausschubeinheit sein. Nach der Argumentation der Beschwerdegegnerin soll aber die Verbindungsplatte zur Schiebereinheit gehören. Dies bestätigt für den Fachmann, dass die Begriffe "Schiebereinheit" und "Ausschubeinheit" nicht zwei verschiedene Funktionseinheiten darstellen, sondern sie beziehen sich auf ein und dieselbe Einheit.
Zur Argumentationslinie b): die ursprünglichen Anmeldungsunterlagen zeigen zwei Ausführungsformen:
2.2.5 Die Beschwerdegegnerin hat schriftsätzlich vorgetragen (Schriftsatz vom 22. Dezember 2016, Seite 3), dass das Streitpatent sich (implizit) auf zwei verschiedene Ausführungen der Stößeleinheit beziehe. Der Grundgedanke bestehe darin, die Stößel einer Einheit durch die Verbindungsplatte 29 zu einem formstabilen Schuborgan zusammenzufügen. Eine Weiterbildung bestehe darin, dass die randseitigen Stößel in Querrichtung verformbar sind. Die Beschwerdegegnerin gab Absatz [0007] des Streitpatents als Veranschaulichung dieses Grundgedankens an.
Die Kammer merkt an, dass dieser Absatz erst während des Prüfungsverfahrens hinzugefügt wurde und deswegen der zitierte Abschnitt nicht in den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen vorhanden ist.
Die Beschwerdegegnerin brachte auch vor, dass in Absatz [0017] die Stößel und Verbindungsplatte als eine Einheit offenbart seien.
Die Kammer ist aber der Auffassung, dass Absatz [0017] sowie Absätze [0023] bis [0024] der Anmeldeunterlagen nur die Weiterbildung offenbaren, wobei nicht alle die einer Zigarettengruppe zugeordneten Stößel mit der Verbindungsplatte verbunden sind.
Daher kann der Fachmann aus den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen nicht klar und eindeutig ableiten, dass zwei Ausführungsformen dargestellt werden, wobei bei einer Ausführungsform alle Stößel mit der Verbindungsplatte verbunden und bei der anderen Ausführungsform mindestens die randseitigen Stößel nicht an der Verbindungsplatte angeschlossen sind.
2.3 Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdegegnerin daher nicht überzeugend dargelegt, wo die Grundlage für die Änderung zu finden ist, d.h. welche Textabschnitte bzw. Zeichnungen der Beschreibung der ursprünglich eingereichten Anmeldungsunterlagen bzw. der A1-Schrift als Grundlage dienen.
Die Kammer gelangt daher zu der Auffassung, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht.
2.4 Entsprechend ist es der Beschwerdeführerin gelungen, in überzeugender Weise darzulegen, weshalb die angefochtene Entscheidung hinsichtlich Artikel 100 c) EPÜ zum Gegenstand von Anspruch 1 unrichtig ist.
3. Zulassung der Hilfsanträge I bis VI ins Verfahren
3.1 Hilfsanträge I bis V
Gemäß Artikel 12 (3) VOBK 2020 muss die Beschwerdeerwiderung das vollständige Beschwerdevorbringen eines Beteiligten enthalten. Dementsprechend muss sie deutlich und knapp angeben, aus welchen Gründen beantragt wird, die angefochtene Entscheidung (in diesem Fall) zu bestätigen. Sie soll ausdrücklich alle geltend gemachten Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel im Einzelnen anführen.
Die Beschwerdegegnerin reichte Hilfsanträge I bis IV mit Schriftsatz vom 4. Januar 2016 und Hilfsantrag V mit der Beschwerdeerwiderung ohne jegliche Begründung ein.
Auf der Seite 2, Punkt 4, der Beschwerdeerwiderung wird lediglich ausgeführt: "[D]ie Ansprüche der Hilfsanträge sind, wie auch in der Vorinstanz, eine vorsorgliche Maßnahme des Patentinhabers, um etwaigen (nach diesseitiger Auffassung unbegründeten) Bedenken der Beschwerdekammer hinsichtlich der ausreichenden Erfassung der Merkmale des Schutzgegenstands Rechnung zu tragen."
Mit ihrem Schriftsatz vom 30. November 2020 (Punkt 8) brachte die Beschwerdegegnerin vor, dass es den Hilfsanträgen offensichtlich anzusehen sei, dass sie eingereicht sind, um die vorgebrachten Einwände bzgl. der angeblichen unzulässigen Erweiterung der Einsprechende zu überwinden. Die vorgenommenen Änderungen seien aufgrund des Korrekturexemplars eindeutig zu identifizieren und entsprechende Fundstellen seien angegeben.
Die Kammer merkt an, dass die Änderungen in den Korrekturexemplaren der Hilfsanträge I bis IV gegenüber der erteilten und nicht der ursprünglichen Fassung der Ansprüche vorgenommen sind, ein Korrekturexemplar für Hilfsantrag V wurde nicht eingereicht. Darüber hinaus beziehen sich die in den Korrekturexemplaren der Hilfsanträge I bis IV angegebenen Fundstellen auf die B-Schrift des Patents und nicht auf die ursprünglich eingereichten Anmeldungsunterlagen bzw. die A1-Schrift.
Die Änderungen beziehen sich auf Streichungen im Anspruch 1 und auf die Einführung von Merkmalen aus verschiedenen Teilen der Beschreibung einschließlich der Schilderung vom zitierten Stand der Technik, so dass nicht unmittelbar ersichtlich ist, ob die Anforderungen von Artikel 123 (2) oder (3) EPÜ oder Artikel 84 EPÜ erfüllt sind.
Es ist auch nicht offensichtlich, dass die Änderungen vorgenommen wurden, um die Einwände nach Artikel 123 (2) EPÜ zu überwinden, insbesondere ist nicht offensichtlich, warum die Änderungen die Einwände überwinden.
Damit die Beschwerdeführerin und die Kammer die Hilfsanträge berücksichtigen und bewerten können, hätte die Beschwerdegegnerin ausdrücklich darlegen müssen, wie und warum diese Anträge die erhobenen Einwände ausräumen. Es ist und kann nicht im Hinblick auf das in Artikel 12 (2) VOBK 2020 kodifizierte vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen, Aufgabe der Kammer sein zu mutmaßen, was von einer Partei beabsichtigt gewesen sein könnte, und auf der Grundlage dieser Extrapolation eine Entscheidung in der Beschwerdesache zu treffen; dies gilt erst recht im kontradiktorischen Einspruchsbeschwerdeverfahren.
Daher erfüllen die in der Beschwerdeerwiderung unter Punkte 3. und 4. genannten Anträge nicht die Erfordernisse von Artikel 12 (3) VOBK 2020 bzw. Artikel 12 (2) VOBK 2007.
Dazu wurde Hilfsantrag V erst im Beschwerdeverfahren eingereicht. Der Sachvortrag der Beschwerdeführerin bezüglich der Frage der unzulässigen Erweiterung des Anspruchs 1 hat sich aber während des Einspruchsverfahrens nicht geändert. Daher hätte Hilfsantrag V bereits am Anfang des Einspruchsverfahrens in Reaktion auf dem Einspruchsschrift vorgebracht werden können und müssen.
Die Kammer beschließt daher, ihr Ermessen gemäß Artikel 12 (4) VOBK 2007 auszuüben und die Hilfsanträge I bis V nicht ins Verfahren zuzulassen.
3.2 Hilfsantrag VI
Hilfsantrag VI wurde am 30. November 2020 nach der Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung eingereicht, so dass dessen Zulassung in das Beschwerdeverfahren Artikel 13 (2) VOBK 2020 unterliegt.
Gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, dass der betreffende Beteiligte stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt hat, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.
Im Punkt 8.3 des Schriftsatzes vom 30. November 2020 argumentierte die Beschwerdegegnerin, dass besondere Umstände im Sinne des Artikels 13 (2) VOBK 2020 in diesem Fall vorlägen.
Die Beschwerdegegnerin machte geltend, dass es im Einspruchsverfahren nicht möglich gewesen wäre, die Hilfsanträge zu diskutieren, da die Einspruchsabteilung keinen Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ gesehen hätte. Erst mit der vorläufigen Meinung der Beschwerdekammer sei es möglich gewesen, zielgerichtete Hilfsanträge zu formulieren und einzureichen.
In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer, argumentierte hingegen die Beschwerdeführerin, dass keine außergewöhnliche Umstände in diesem Fall vorlägen. Der Einwand zur unzulässigen Erweiterung wäre schon in der Einspruchsschrift vom 7. Oktober 2014 vorgebracht und die streitigen Punkte wären umfassend in der mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung diskutiert worden.
Die Kammer merkt an, dass jeder Beteiligte in einem Beschwerdeverfahren stets auf die Möglichkeit vorbereitet sein muss, dass die Kammer eine andere Meinung als die Feststellungen in der angefochtenen Entscheidung, die gerade in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht zur gerichtlichen Überprüfung anstehen, vertreten könnte.
Dass eine Partei die vorläufige Stellungnahme der Kammer abwartet, bevor sie einen bestimmten Hilfsantrag einreicht, der auf einen im Verfahren längst vorgebrachten Einwand der anderen Partei reagiert, widerspricht der eigentlichen auf die Überprüfung der angefochtenen Entscheidung gerichteten Funktion des Beschwerdeverfahrens und dem Prinzip des frühzeitigen und vollständigen Vorbringens der Parteien (Artikel 106 (1) EPÜ, Regel 99 (2) EPÜ und Artikel 12 (3) VOBK 2020).
Die vorläufige Meinung der Kammer basierte auf bereits in der Beschwerdebegründung der Beschwerdeführerin genannte Einwände und Argumentationslinien. Die Beschwerdegegnerin hätte bereits mit ihrer Beschwerdeerwiderung auf die Einwände reagieren und gegebenenfalls neue Ansprüche einreichen können und müssen, die den Einwänden der Beschwerdeführerin Rechnung tragen.
Die Kammer erkennt die von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Gründe daher nicht als außergewöhnliche Umstände im Sinne des Artikels 13 (2) VOBK 2020 an und berücksichtigt nicht den Hilfsantrag VI.
4. Daher sind alle Hilfsanträge der Beschwerdegegnerin nicht zu berücksichtigen bzw. nicht ins Verfahren zuzulassen.
5. Die obigen Ausführungen zeigen, dass die Beschwerdeführerin überzeugende Argumente zur unzulässigen Erweiterung des Gegenstandes von Anspruch 1 des Patents in der erteilten Fassung dargetan hat, so dass die die angefochtene Entscheidung tragenden Gründe zu dem Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 c) EPÜ einer Überprüfung durch die Kammer nicht standhalten.
6. In Abwesenheit eines zulässigen und in der Sache gewährbaren Anspruchssatzes, ist das Patent zu widerrufen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.