T 0448/89 (Reizelektrode) 30-10-1990
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1. Das Erfordernis der Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen in einer Einspruchsschrift gemäß Regel 55 c) EPÜ ist nicht erfüllt, wenn in einer als neuheitsschädlich entgegengehaltenen Druckschrift mehrere unterschiedliche Gegenstände beschrieben sind und weder angegeben noch ohne weiteres erkennbar ist, welcher davon sämtliche Merkmale eines angegriffenen Patentanspruchs aufweisen soll.
2. Das Erfordernis der Angabe der Beweismittel in der Einspruchsschrift für die vorgebrachten Tatsachen gemäß Regel 55 c) ist nicht erfüllt, wenn nicht angegeben oder ohne weiteres erkennbar ist, welche von mehreren dort genannten Druckschriften jeweils welche vorgebrachte Tatsache beweisen soll.
Einspruch unzulässiger
Mangelnde Angabe von Tatsachen und Beweismitteln
Einspruchsbegründung - unzureichende
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerdegegnerin ist Inhaberin des europäischen Patents 0 115 778 (Anmeldenummer 84 100 160.5). Anspruch 1 dieses Patents lautet:
"1. Elektrode für medizinische Anwendungen, insbesondere implantierbare Reizelektrode, dadurch gekennzeichnet, daß sie aus einem elektrisch leitenden Trägermaterial besteht und im aktiven Bereich eine poröse Schicht aus einem Carbid, Nitrid oder Carbonitrid wenigstens eines der Metalle Titan, Vanadium, Zirkonium, Niob, Molybdän, Hafnium, Tantal oder Wolfram aufweist."
Die Ansprüche 2 bis 6 sind auf Anspruch 1 rückbezogen.
II. Die Beschwerdeführerin hat gegen dieses Patent Einspruch erhoben und beantragt, "das Patent in vollem Umfang zu widerrufen, weil der Gegenstand des europäischen Patents nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ nicht patentfähig sei". Sie stützte ihren Antrag auf folgende Einspruchsbegründung:
"Der Gegenstand des europäischen Patents Nr. 0 115 778 war im Prioritätszeitpunkt nicht mehr schutzfähig, da der Gegenstand gemäß gültigem Patentanspruch 1 nicht mehr neu war. Eine derartige Elektrode ergibt sich aus der EP-B1-0 054 781, Spalten 1 und 2.
Hilfsweise wird im Hinblick auf die mangelnde erfinderische Tätigkeit auf die weiteren vom EPA aufgefundenen und als Entgegenhaltungen genannten Vorveröffentlichungen verwiesen." Sämtliche weiteren Ausführungen der Beschwerdebegründung betreffen ausschließlich die auf Anspruch 1 rückbezogenen Ansprüche.
III. Die Einspruchsabteilung hat den Einspruch zurückgewiesen. Sie stellte dabei - neben materiellrechtlichen Ausführungen zur Sache - im Hinblick auf einen Einwand der Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin), der Einspruch sei im Sinne von Regel 55 c) EPÜ nicht hinreichend substantiiert, fest, daß der Einspruch als zulässig anzusehen sei. Die Tatsache, daß die von der Einsprechenden genannte EP-B1-0 054 781 nachveröffentlicht sei, stehe der Zulässigkeit des Einspruchs nicht entgegen, weil allgemein bekannt sei, daß jeder "B"-Veröffentlichung des Europäischen Patentamts eine "A"-Veröffentlichung vorangehe, deren Vorveröffentlichung amtsseitig ohne weiteres festzustellen sei.
IV. Gegen diese Entscheidung hat die Beschwerdeführerin (Einsprechende) Beschwerde erhoben.
V. In ihrer Erwiderung auf die Beschwerdebegründung bestritt die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) unter anderem nach wie vor die Zulässigkeit des Einspruchs, da der Inhalt der Einspruchsschrift aufgrund mangelnder nachprüfbarer Angaben nicht geeignet sei, das Vorbringen der Einsprechenden objektiv verständlich zu machen.
VI. Es wurde mündlich verhandelt.
VII. Am Ende der mündlichen Verhandlung beantragte die Beschwerdeführerin (Einsprechende) die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents 0 115 778. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.
VIII. Zur Begründung ihres Antrags trägt die Beschwerdeführerin im Hinblick auf die strittige Zulässigkeit ihres Einspruchs im wesentlichen folgende Argumente vor:
a) Wenn im Einspruchsschriftsatz von einer "derartigen" Elektrode die Rede ist, sei ohne weiteres nachvollziebar, daß damit die in Anspruch 1 definierte Elektrode gemeint sei, die einen einfachen Gegenstand darstelle.
b) Einer Einspruchsabteilung seien die Fähigkeiten eines Durchschnittsfachmanns zu unterstellen. Dieser sei in der Lage, sich aus einem Dokument das Geeignete herauszusuchen. Obwohl die zitierten Passagen (Spalte 1 und 2) der EP-B1-0 054 781 neben der Erfindung zwei unterschiedliche vorbekannte Gegenstände beschrieben, entstünden bei der Zuordnung der Anspruchsmerkmale zum genannten Beweismaterial keinerlei Unklarheiten. Denn der Fachmann wisse, daß ein in einer Patentschrift gewürdigter Stand der Technik den Gattungsbegriff der beanspruchten Erfindung definiere.
c) Im Rahmen des Europäischen Recherchenberichts reiche es zur Kennzeichnung der Relevanz eines Dokumentes in bezug auf mangelnde Neuheit bzw. mangelnde erfinderische Tätigkeit aus, die Kodierung X bzw. Y anzugeben. Es sei unbillig vom Einsprechenden mehr zu verlangen als vom Amt.
d) Bei der vorstehend dargelegten Sachlage sei die Einspruchsabteilung ohne weiteres in der Lage, die Ähnlichkeit zwischen dem Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents und dem zitierten Stand der Technik zu erkennen.
e) Da die im Einspruchsschriftsatz enthaltene Begründung mangelnder erfinderische Tätigkeit mit dem Ausdruck "hilfsweise" beginne, sei damit automatisch das Vorstehende eingeschlossen. Überdies schließe mangelnde Neuheit mangelnde erfinderische Tätigkeit mit ein, so daß die kurze Begründung gerechtfertigt sei.
IX. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) vertritt demgegenüber im wesentlichen folgende Auffassung: a) Der Einspruchsschriftsatz der Beschwerdeführerin enthalte keinerlei "Tatsachen" im Sinne der Regel 55 c) EPÜ. Die dadurch hervorgerufene "objektive Unverständlichkeit des Einspruchsvorbringens" müsse sowohl im Hinblick auf die Beschwerdekammerentscheidung T 222/85 als auch gemäß der in den Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt, Teil D, Kapitel IV - 1.2.2.1f, geforderten Möglichkeit einer "abschließenden Überprüfung des behaupteten Widerrufsgrundes ohne eigene Ermittlungen der Einspruchsabteilung" zur Verwerfung des vorliegenden Einspruchs als unzulässig gemäß Regel 56 (1) EPÜ führen.
b) Es sei als eine unzumutbare eigene Ermittlung der Einspruchsabteilung anzusehen, die 24 unterschiedlichen sachlichen Alternativen des Anspruchs 1 des Streitpatents mit der Vielzahl der unterschiedlichen technischen Sachverhalte des zitierten Standes der Technik in eine die behauptete mangelnde Neuheit nachprüfbare Beziehung zu setzen, zumal die behaupteten Merkmalsidentitäten für den fachmännischen Leser keinesfalls offensichtlich seien. Diese fehlende Zuordnungsmöglichkeit mache eine Nachprüfung und damit jegliche sachliche Würdigung des behaupteten Einspruchsgrundes unmöglich.
c) Da mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit auf unterschiedlichen Tatsachen basieren, würde ein Fachmann die zur Neuheit gemachten Ausführungen der Beschwerdeführerin sachlich nicht mit ihrem hilfsweisen Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit verbinden. Somit fehle in bezug auf den Einspruchsgrund mangelnder erfinderischer Tätigkeit im Einspruchsschriftsatz der Beschwerdeführerin nicht nur die gemäß Regel 55 c) EPÜ erforderliche Angabe der Tatsachen, sondern auch die gleichfalls erforderliche Angabe der Beweismittel.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Gemäß Artikel 101 EPÜ ist ein Einspruch nur dann auf das Vorliegen von Einspruchsgründen zu prüfen, wenn er zulässig ist. Die Frage, ob ein Einspruch nach Regel 56 (1) EPÜ als unzulässig zu verwerfen ist, weil die Einspruchsschrift die Mindestanforderungen des Artikels 99 (1) EPÜ - "der Einspruch ist ... zu begründen ..." - sowie die der Regel 55 c) - wonach die Einspruchsschrift unter anderem "die Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel" enthalten muß - nicht erfüllt, läßt sich nur aus dem Gesamtzusammenhang des betreffenden Falles entscheiden (vgl. T 222/85, ABl. EPA 1988,
128).
3. Im vorliegenden Fall wurde in der Einspruchsschrift als Einspruchsgrund genannt, daß der Gegenstand des Streitpatents nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ nicht patentfähig sei (Art. 100 a) EPÜ). Zur Begründung wurde lediglich angegeben, der Gegenstand des Anspruchs 1 sei nicht neu oder beruhe zumindest nicht auf erfinderischer Tätigkeit, denn "eine derartige Elektrode ergibt sich aus der EP-B1-0 054 781, Spalten 1 und 2" und "hilfsweise wird im Hinblick auf die mangelnde erfinderische Tätigkeit auf die weiteren vom EPA aufgefundenen und als Entgegenhaltungen genannten Vorveröffentlichungen verwiesen". Dies reicht im vorliegenden Fall nicht aus.
4. Zwar ist der Einspruchsabteilung darin zuzustimmen, daß das ausschließliche Zitieren einer nachveröffentlichten Druckschrift (hier: EP-B1-0 054 781) einen Einspruch nicht zwangsläufig unzulässig macht, falls aufgrund dieser Druckschrift eine vorveröffentlichte Druckschrift mindestens des gleichen Informationsgehalts (hier: EP-A1-0 054 781) ohne weiteres aufgefunden werden kann (T 185/88, ABl. EPA 1990, 451). Doch sind an den Stellen der vorveröffentlichten EP-A1-0 054 781, die den von der Beschwerdeführerin genannten Stellen der EP-B1- 0 054 781 entsprechen, drei verschiedene Gegenstände beschrieben, nämlich die aus der US-A-4 011 861 bekannten porösen Elektroden, die aus der US-A-3 476 116 bekannte rohrförmige Elektrode und der Gegenstand der genannten europäischen Patentanmeldung selbst. Da fehlende Neuheit das Vorhandensein sämtlicher beanspruchter Merkmale an ein- und demselben bekannten Gegenstand voraussetzt, hätte es zumindest der Angabe bedurft, welcher dieser drei bekannten Gegenstände dem Streitpatent neuheitsschädlich entgegenstehe. Der Hinweis der Beschwerdeführerin, daß ein in einer Patentschrift genannter Stand der Technik stets den Oberbegriff eines unabhängigen Anspruchs des betreffenden Patents bilde, geht fehl. Denn falls in einer Patentschrift mehrere verschiedene Gegenstände aus dem Stand der Technik erwähnt sind (hier unterschiedlich aufgebaute Elektroden) kann der Oberbegriff des Anspruchs korrekterweise allenfalls nach einem dieser Gegenstände gebildet sein. Außerdem genügt Bekanntsein der Merkmale des Oberbegriffs allein noch nicht, um fehlende Neuheit des gesamten Anspruchsgegenstands zu begründen.
Das Erfordernis der Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen in einer Einspruchsschrift gemäß Regel 55 c) EPÜ ist demnach nicht erfüllt, wenn in einer als neuheitsschädlich entgegengehaltenen Druckschrift mehrere unterschiedliche Gegenstände beschrieben sind und weder angegeben noch ohne weiteres erkennbar ist, welcher davon sämtliche Merkmale eines angegriffenen Patentanspruchs aufweisen soll.
Dazu kommt im vorliegenden Fall, daß einerseits der Anspruch 1 des Streitpatents 24 verschiedene Werkstoffkombinationen alternativ umfaßt, und andererseits in der zitierten US-A- 4 011 861 dreizehn verschiedene Werkstoffe für poröse Hüllschichten auf einem leitenden Träger angegeben sind und die EP-A1-0 054 781 an den besagten Stellen mindestens 63 verschiedene Möglichkeiten von Werkstoffkombinationen beschreibt. Es kann deshalb nicht davon die Rede sein, daß, wie die Beschwerdeführerin meint, bei der Zuordnung der Anspruchsmerkmale zu den aus der EP-A1-0 054 781 bekannten Merkmalen "keinerlei Unklarheiten" entstehen könnten.
Es fehlt somit für den angegebenen Einspruchsgrund fehlender Neuheit die Angabe der behaupteten Tatsachen, d. h. hier die Angabe, welche der in Anspruch 1 des Streitpatents beanspruchten 24 Merkmalskombinationen bekannt sein soll oder sollen.
5. Zu dem weiter vorgebrachten Einspruchsgrund, daß der Gegenstand des Streitpatents nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruhe, fehlt außer der Angabe der Tatsachen, d. h. in diesem Fall welche Merkmalsgruppen des Anspruchs 1 des Streitpatents jeweils für sich bekannt sein sollen, auch die Angabe der Beweismittel. Der allgemeine Hinweis auf sämtliche im europäischen Recherchenbericht genannten Druckschriften (hier 7 Patentanmeldungen, 2 Patentschriften und eine Literaturstelle) genügt nicht. Vielmehr hätte zumindest für eine der alternativen Merkmalskombinationen des Anspruchs 1 angegeben werden müssen, welche Merkmalsgruppe dieser Kombination jeweils für sich aus welcher Druckschrift bekannt sein soll. Nur dann kann die Patentinhaberin dem Vorbringen entgegentreten und das den Einspruch prüfende Organ die zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit erforderliche Wertung vornehmen. Deshalb ist das Erfordernis der Angabe der Beweismittel in der Einspruchsschrift für die vorgebrachten Tatsachen gemäß Regel 55 c) nicht erfüllt, wenn nicht angegeben oder ohne weiteres erkennbar ist, welche von mehreren dort genannten Druckschriften jeweils welche vorgebrachte Tatsache beweisen soll.
6. Da die oben aufgezeigten Mängel der Einspruchsschrift bis zum Ablauf der Einspruchsfrist nicht beseitigt worden sind, ist somit der Einspruch nach Regel 56 (1) EPÜ als unzulässig zu verwerfen.
7. Zu dem Einwand der Beschwerdeführerin, auch das EPA begnüge sich in seinem Recherchenbericht mit den Kategorieangaben "X", "Y", ... usw., ist festzuhalten, daß das Europäische Patentübereinkommen in seinen den Inhalt des Recherchenberichts betreffenden Vorschriften -insbesondere Artikel 92 (1) EPÜ in Verbindung mit Regel 44 (1) und (2) EPÜ - nur die "Nennung" in Betracht zu ziehender Dokumente vorsieht, ohne zu präzisieren, welche Maßstäbe an die Kennzeichnung maßgeblicher Teile jedes Schriftstücks zu legen sind. Demgegenüber ist die Substantiierung eines Einspruchsgrundes gemäß Regel 55 c) EPÜ Teil der aus Artikel 99 (1) EPÜ hervorgehenden Begründungspflicht eines Einspruchs. Die an einen Recherchenbericht und an einen Einspruchsschriftsatz zu stellenden Anforderungen unterliegen also unterschiedlichen gesetzlichen Vorschriften und sind nicht miteinander vergleichbar.
8. Da sich der Einspruch als unzulässig erwiesen hat, ist es der Kammer gemäß Artikel 101 EPÜ verwehrt zu prüfen, ob einer der in Artikel 100 EPÜ genannten Einspruchsgründe der Aufrechterhaltung des Streitpatents entgegensteht.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Der Einspruch wird als unzulässig verworfen.