T 0423/12 (Fällungskieselsäure/EVONIK DEGUSSA GMBH) 18-05-2016
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HOCHDISPERSIBLE FÄLLUNGSKIESELSÄURE
Ausreichende Offenbarung - (ja)
Änderungen - unzulässige Erweiterung (nein)
Neuheit - (ja)
Neuheit - Hauptantrag (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Zurückverweisung an die erste Instanz - (nein)
Sachverhalt und Anträge
I. Auf die Europäische Patentanmeldung EP 03 784 044.4 wurde am 7. Januar 2009 (Datum der Bekanntgabe der Erteilung im Patentblatt 2009/02) das europäische Patent EP-B-1 525 157 mit 19 Patentansprüchen erteilt.
II. Der unabhängige Patentanspruch 1 des erteilten Patents lautete:
"1. Fällungskieselsäure, gekennzeichnet durch
BET-Oberfläche 190 - 302 m**(2)/g
CTAB-Oberfläche >= 170 m**(2)/g
DBP-Zahl 200 - 300 g/(100g)
Searszahl V2 10 - 20 ml/(5g)."
Die abhängigen Ansprüche 2 bis 5 definierten besondere Ausführungsformen der Fällungskieselsäure gemäß Anspruch 1.
Der unabhängige Patentanspruch 6 betraf ein Verfahren zur Herstellung einer Fällungskieselsäure mit den Parametern gemäß Anspruch 1. Die abhängigen Ansprüche 7 bis 13 betrafen besondere Ausführungsweisen des Verfahrens nach Anspruch 6.
Die Ansprüche 16 bis 19 betrafen Elastomermischungen, Vulkanisate bzw. vulkanisierbare Kautschukmischungen, Reifen, Reifen für Nutzfahrzeuge, Motorradreifen und Reifen für Hochgeschwindigkeitsfahrzeuge, jeweils enthaltend eine Fällungskieselsäure nach einem der Ansprüche 1 bis 5.
III. Gegen das erteilte Patent wurde unter Hinweis auf die Einspruchsgründe nach Artikel 100(a) und (b) EPÜ Einspruch eingelegt.
Folgende Dokumente wurden u.a. genannt:
D1: US-A-6 180 076 und
D2: "A. Blume & S. Uhrlandt, ACS, "Development of HD Silicas for Tyres - Process, Properties, Performance", 2004.
Weiters wurden folgende, mit A bis E bezeichnete Dokumente vorgelegt:
Dokument A: Versuche zur Nacharbeitung des Beispiels 1 des Streitpatents, von H. Herrig, datiert 3. Januar 2011, eingereicht als Annex I zum Schreiben der Einsprechenden vom 3. Januar 2011
Dokumente B und C: Annexe II und III zum Schreiben vom 3. Januar 2011; Dokumente zur Bestimmung der DBP-Zahl
Dokument D: Schreiben der Patentinhaberin vom 20. Oktober 2011, mit einer Tabelle und einer graphischen Darstellung
Dokument E: Annex I zur mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung am 22. November 2011 (1 Seite mit einer tabellarischen Darstellung).
IV. Die Einspruchsabteilung entschied in der mündlichen Verhandlung vom 22. November 2011, den Einspruch zurückzuweisen.
V. Die Beschwerde der Einsprechenden (Beschwerdeführerin) ging mit Schreiben vom 27. Februar 2012 ein. Mit der Beschwerdebegründung vom 29. März 2012 wurden folgende neue Dokumente eingereicht:
D3: Versuchsbericht von H. Herrig vom 3. Januar 2011 (2 Seiten)
D4: ISO Norm 5794-1
D5: ISO Norm 18852
D6: J.S. Dick, "Basis rubber testing", (ASTM International), Seite 203
D7: Broschüre Ultrasil 7000 GR (Evonik)
D8: Broschüre Zeosil 1205 (Rhodia)
VI. Mit Schreiben vom 25. Juni 2012 ging die Erwiderung der Beschwerdegegnerin ein. Sie reichte neue Ansprüche als Hilfsanträge 1 bis 5 ein.
VII. Mit Schreiben vom 11. April 2016 reichte die Beschwerdeführerin das Dokument
D9: EP-A-0 647 591
ein.
VIII. Am 18. Mai 2016 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.
ÌX. Die Beschwerdeführerin argumentierte im Wesentlichen wie folgt:
- Die Einspruchsabteilung habe den Einspruchsgrund nach Artikel 100(c) EPÜ als auch die mit Schreiben vom 3. Januar 2011 vorgebrachten Vergleichsversuche von der Einspruchsabteilung zu Unrecht nicht zugelassen;
- Das Streitpatent genüge den Anforderungen des Artikels 83 EPÜ nicht;
- Die Gegenstände der erteilten Ansprüche 1 und 6 gingen über den Inhalt der ursprünglichen Offenbarung hinaus (Artikel 123(2) EPÜ);
- Die Gegenstände der Ansprüche 1 und 6 seien nicht neu in Hinblick auf D1, Beispiel 4, und D9, Beispiel 3;
- Sie beruhten auch nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Hinblick auf D1 (insbesondere Beispiel 5).
X. Die Beschwerdegegnerin argumentierte im Wesentlichen wie folgt:
- Der Einspruchsgrund nach Artikel 100(c) EPÜ und die Vergleichsversuche D3 seien verspätet vorgebracht worden und daher zurückzuweisen;
- Die Einwände der Beschwerdeführerin unter Artikel 83, 54 und 56 EPÜ seien unzutreffend und stünden der Aufrechterhaltung des Patents im erteilten Umfang nicht entgegen.
XI. Anträge
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen (Hauptantrag), oder hilfsweise das Patent in geänderter Form auf der Grundlage der Ansprüche eines der Hilfsanträge 1 bis 5, eingereicht mit Schreiben vom 25. Juni 2012, aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus beantragte die Beschwerdegegnerin, die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen, falls die Kammer den Einspruchsgrund nach Artikel 100(c) EPÜ sowie die Vergleichsversuche zu berücksichtigen beabsichtigte, hilfsweise die mündliche Verhandlung zu vertagen.
Entscheidungsgründe
1. Zulassung des Einspruchsgrundes nach Artikel 100(c) EPÜ
Dieser Einspruchsgrund wurde von der Einspruchsabteilung, offenbar mangels Relevanz, nicht ins Verfahren zugelassen (siehe Entscheidungsgründe, Punkt 9.2.2). Die Kammer lässt den Einspruchsgrund dennoch ins Verfahren zu, da die Einspruchsabteilung ihr diesbezügliches Ermessen nach Artikel 114(2) EPÜ nicht pflichtgemäß ausgeübt hat. Zur Begründung dafür genügt es, darauf hinzuweisen, dass die Einspruchsabteilung selbst im Anhang zur Ladung zur mündlichen Verhandlung vom 14. Februar 2011, Punkt 8.1, angekündigt hatte, dass während der mündlichen Verhandlung zu diskutieren sein werde, ob Verstöße gegen Artikel 123(2) EPÜ vorlägen. Die Beschwerdeführerin konnte folglich erwarten, dass der Einspruchsgrund ins Verfahren zugelassen sei und Gegenstand der Verhandlung sein werde.
2. Zulassung des Versuchsberichts D3
Der Versuchsbericht D3 wurde von der Einspruchsabteilung als nicht prima facie relevant nicht ins Verfahren zugelassen (siehe Entscheidungsgründe, Punkt 9.3.2). Die Kammer lässt den Versuchsbericht dennoch ins Verfahren zu, da die Einspruchsabteilung ihr diesbezügliches Ermessen nach Artikel 114(2) EPÜ nicht pflichtgemäß ausgeübt hat. Zur Begründung verweist die Kammer wiederum auf den Anhang zur Ladung zur mündlichen Verhandlung vom 14. Februar 2011, Punkt 8.2. Die Einspruchsabteilung hatte darin unter dem Punkt "Ausführbarkeit - Artikel 83 EPÜ" explizit angekündigt, dass während der mündlichen Verhandlung zu diskutieren sein werde, ob die Lehre des Streitpatents so ausführlich sei, dass ein Fachmann Fällungskieselsäuren mit den Eigenschaften des Anspruchs 1 erhalten könne, insbesondere ob die Angaben zur Trocknung ausreichten. Die Einspruchsabteilung stellte auch fest, dass ihrer vorläufigen Meinung nach der Versuchsbericht der Einsprechenden sehr relevant sei.
In Anbetracht dessen konnte die Beschwerdeführerin davon ausgehen, dass der Inhalt des Versuchsberichts Gegenstand der mündlichen Verhandlung sein würde. Eine Nichtzulassung des Vorbringens der Beschwerdeführerin war also widersprüchlich zur eigenen Ankündigung der Einspruchsabteilung, folglich überraschend und stand jedenfalls dem Grundsatz des Vertrauensschutzes entgegen (siehe G 2/97).
Weitere Begründungen dazu erübrigen sich, da die Beschwerdegegnerin auch unter Berücksichtigung des Versuchsberichts der Beschwerdeführerin in der Hauptsache obsiegt.
3. Zurückverweisung an die erste Instanz bzw. Vertagung der mündlichen Verhandlung
Die Kammer konnte den hilfsweise gestellten Anträgen der Beschwerdegegnerin unter anderem aus verfahrensökonomischen Gründen nicht stattgeben. Eine weitere Begründung ist hier nicht vonnöten, da die antragstellende Beschwerdegegnerin durch die Endentscheidung der Kammer nicht beschwert ist.
4. Änderungen - Artikel 123(2) EPÜ
Die Einwände der Beschwerdeführerin betreffen die Änderungen in den erteilten Ansprüchen 1 und 6.
Die Beschwerdeführerin akzeptierte, dass der Parameterbereich der Searszahl V2 von 10 bis 20 ml/(5g) für sich betrachtet eine Basis in den ursprünglich eingereichten Unterlagen aufweist, sowie auch, dass der Bereich BET-Oberfläche von 190 - 302 m**(2)/g aus einer zulässigen Kombination von Ober- und Untergrenze von jeweils bevorzugten Bereichen hervorgehe (siehe Patentanmeldung, Seite 4, Zeilen 1 bis 3 und 14 bis 19). Die Kammer schließt sich dem an.
Die Beschwerdeführerin wandte aber ein, dass die anspruchsgemäße Kombination der besagten Parameterbereiche BET-Oberfläche 190 - 302 m**(2)/g und Searszahl V2 von 10 - 20 ml/(5g) aus den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht unmittelbar und eindeutig hervorgehe.
Der Einwand ist nach Ansicht der Kammer nicht stichhaltig. Laut Seite 5, Zeilen 3 bis 8, der ursprünglich eingereichten Unterlagen können die erfindungsgemäß hergestellten Fällungskieselsäuren "neben den bereits genannten Vorzugsbereichen für die BET- und CTAB-Oberflächen jeweils unabhängig Eigenschaften in den folgenden Vorzugsbereichen aufweisen: [...] Searszahl V2 10 - 25, bevorzugt 10 - 20, bevorzugt 10 - 16 ml/(5g)." Dabei bezieht sich nach Auffassung der Kammer der Ausdruck "erfindungsgemäß hergestellte Fällungskieselsäuren" auf die Fällungskieselsäuren mit denjenigen Parametern und Vorzugsbereichen, die zuvor auf Seite 4, Zeilen 1 bis 26, beschrieben sind. Folglich geht eine Fällungskieselsäure, gekennzeichnet durch die Kombination von BET-Oberfläche 190 - 302 m**(2)/g und Searszahl V2 von 10 bis 20 ml/(5ml), für den Fachmann aus den genannten Fundstellen in den ursprünglich eingereichten Unterlagen unmittelbar und eindeutig hervor.
Die Bestimmungen von Artikel 123(2) EPÜ sind daher erfüllt.
5. Offenbarung der Erfindung - Artikel 83 EPÜ
Der Einwand der Beschwerdeführerin beruht im Wesentlichen auf den Versuchsergebnissen aus Dokument A. Die durchgeführten Versuche 1 bis 8 belegten nach Auffassung der Beschwerdeführerin, dass Variationen im pH-Wert bei der Sprühtrocknung (pH-Werte 5,0 und 1,6) und Variationen der Rührgeschwindigkeit (200 bzw. 108 U/min) zu Fällungskieselsäuren mit unterschiedlichen BET/CTAB-Oberflächen und insbesondere Searszahlen führten. In der Tat erhielt die Beschwerdeführerin nur in 6 von 8 Versuchen ein brauchbares Produkt und nur in einem Fall (Versuch 6) eine Fällungskieselsäure mit einer Searszahl im beanspruchten Bereich (Searszahl 17,8).
Der Versuchsbericht A ist allerdings nach Ansicht der Kammer aus folgenden Gründen nicht stichhaltig für den behaupteten Mangel an Ausführbarkeit. Die Versuchsläufe 1 bis 4 wurden bei einer anderen Geschwindigkeit der Zugabe der Schwefelsäure (0,857 l/h bzw. 0,904 l/h) und bei einer anderen Rührgeschwindigkeit während der Fällung vorgenommen als die Versuchsläufe 5 bis 8. Die Versuche können daher nicht belegen, dass Variationen des Fällungs-pH und der Rührgeschwindigkeit die erhaltenen Fällungskieselsäuren in unreproduzierbarer Weise beeinflussen.
Außerdem wurde in allen Versuchsläufen der Filterkuchen von 16 bis 18% Feststoffgehalt auf 8,2% verdünnt, um eine Verflüssigung im Dispermat-Schergerät zu ermöglichen. Diese stark verdünnte Suspension wurde danach sprühgetrocknet. Beispiel 1 des Streitpatents sieht keine Verdünnung der Suspension vor, sondern die Kieselsäurespeise wird mit 16% Feststoffgehalt sprühgetrocknet. Die Beschwerdegegnerin hat plausibel gemacht, dass die Sprühtrocknung einer Suspension mit anderer Feststoffkonzentration als im Streitpatent zu einem unterschiedlichen Produkt führen könne. Der Fachmann hätte unter diesen Umständen eine Verflüssigung des Filterkuchens mit einem Hochleistungs-Scherapparat an sich bekannter Bauart in Erwägung gezogen, anstelle die Suspension zu verdünnen und das Endprodukt in unkontrollierbarer Weise zu verändern.
Da die Versuche der Nacharbeitung gemäß Dokument A daher in wesentlichen Punkten von den Angaben in Beispiel 1 des Streitpatents abweichen, sind sie nicht geeignet, einen Mangel an Reproduzierbarkeit oder Ausführbarkeit zu begründen.
Das Streitpatent erfüllt daher die Bestimmungen des Artikels 83 EPÜ.
6. Neuheit - Artikel 54 EPÜ
6.1 Die Beschwerdeführerin benannte das Dokument D1 als neuheitsschädlich, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens sei das konkrete Beispiel 4 von D1 neuheitsschädlich, zweitens seien auch die Bedingungen für eine neue Auswahlerfindung im Hinblick auf die gesamte Offenbarung von D1 nicht erfüllt.
6.2 D1 offenbart in Beispiel 4 (Spalte 8) eine Fällungskieselsäure mit folgenden Eigenschaften:
D1 Streitpatent
Beispiel 4 Anspruch 1
BET-Oberfläche 185 m**(2)/g 190 - 302 m**(2)/g
CTAB-Oberfläche 163 m**(2)/g >= 170 m**(2)/g
DBP-Zahl 269 ml/(100g) 200 - 300 ml/(100g)
Searszahl 17,0 ml 10 - 25 ml/(5g)
Diese Werte, insbesondere die Werte der BET- und CTAB-Oberflächen, fielen laut Beschwerdeführerin zwar nicht nominell, doch unter Berücksichtigung der bestimmungsbedingten Fehlergrenzen der Parameter in den Anspruchsbereich des Streitpatents. Die Beschwerdeführerin argumentierte, dass jeder experimentell ermittelte Wert mit einem Messfehler behaftet sei und nach der Rechtsprechung ein solcher Unsicherheitsfaktor beim Vergleich von Messwerten aus dem Stand der Technik mit einem beanspruchten Bereich zu berücksichtigen sei (T 594/01 vom 30. März 2004; Entscheidungsgründe 4.1.5). Für die Fehlergrenze sei die weiteste Möglichkeit anzunehmen (T 1115/09, vom 14. Juni 2012).
Laut Beschwerdeführerin seien für die Bestimmung von CTAB - Oberfächen gemäß Streitpatent, Paragraph [0093], Fehlergrenzen von ± 10 m**(2)/g anzunehmen. Laut Standard D4 sei bei der Messung der CTAB - Werte eine Fehlergrenze von 7,19% erlaubt. Dem BET-Standard D5 läge eine Fehlergrenze von 6,4% zugrunde (D5, Seite 13/16). Unter Berücksichtigung einer derartigen Streuung lägen die Werte des Beispiels 4 aus D1 innerhalb der entsprechenden Bereiche des erteilten Anspruchs 1 des Streitpatents.
6.3 Dieses Vorbringen der Beschwerdeführerin ist für die Kammer aber aus folgenden Gründen nicht stichhaltig.
Abschnitt [0093] des Streitpatents, auf den sich die Beschwerdeführerin stützt, enthält Angaben zur CTAB-Oberfläche zweier kommerzieller Kieselsäuren, nämlich Ultrasil 7000 GR der Degussa AG, mit einer CTAB-Oberfläche von 160 ± 10m**(2)/g, und Zeosil 1205 MP von Rhodia, mit einer CTAB-Oberfläche von 200 ± 10m**(2)/g. Die Bereichsangabe "± 10m**(2)/g" bezeichnet aber ersichtlich nicht die Fehlergrenzen aus Messungen der CTAB-Oberfläche, sondern gibt die Varianz der Produktspezifikation laut Hersteller an (welche auch Unterschiede zwischen einzelnen Chargen u.a. einschließt). Der Ausdruck "Fehlergrenze" taucht in Abschnitt [0093] nicht auf.
Die ISO-Normen D4, D5 (Seite 28) und D6 (ASTM 3765), auf die sich die Beschwerdeführerin außerdem stützt, sind nachveröffentlicht und gehören daher nicht zum Stand der Technik. Die Norm D4 wurde gegenüber der Vorgängernorm revidiert (siehe Seite IV, Vorwort "technically revised"), ebenso D6 (siehe Seite 4/36, "Foreword"). Es ist daher nicht auszuschließen, dass die zum relevanten Zeitrang des Streitpatents gültige Fassung der Norm abweichend war.
Die BET-Oberfläche wird in D1 (Spalte 1, linke Spalte, Zeilen 56 und 57) gemäß ISO 5794 Annex D bestimmt. Die Beschwerdeführerin zitiert dahingegen die Fehlergrenzen aus ISO 5794 Annex E, was aber aus den genannten Gründen nicht notwendigerweise dasselbe ist.
Berücksichtigte man dennoch beispielsweise für den CTAB-Wert von 163 m**(2)/g aus Beispiel 4 der D1 den Fehlerbereich der ASTM 3765 von 3,5% (D6, Seite 203), so ergibt sich ein Wertebereich von 157 - 169 m**(2)/g, also außerhalb des im Anspruch 1 angegebenen Bereichs von >= 170 m**(2)/g. Schon aus diesem Grund wäre die Neuheit gegenüber Beispiel 4 der D1 anzuerkennen.
Die Kammer weist auch darauf hin, dass die DBP-Zahl in
D1 in ml/100g angegeben ist, während das Streitpatent
die Einheit g/100g verwendet. Der in D1 verwendete Sears-Index ist nicht ohne Weiteres gleichzusetzen mit der Sears-Zahl V2 gemäß Streitpatent (sog. modifizierte Sears-Zahl; vgl. Streitpatent, Abschnitt 0064). Die Beschwerdeführerin hat den ihr obliegenden Nachweis nicht erbracht, dass diese Angaben ident wären.
Schließlich stimmt die Kammer der Beschwerdeführerin auch hinsichtlich ihrer Argumentation zu T 1115/09 nicht zu. In der genannten Entscheidung wird keine Aussage zur Interpretation von Fehlergrenzen, die durch Messungen bedingt sind, getroffen. Sie befasst sich vielmehr mit der Auslegung des Inhalts eines unklaren Ausdrucks (siehe Entscheidungsgründe, Punkt 2.4).
6.4 Was die Frage des Vorliegens einer Auswahlerfindung im Hinblick auf die allgemeinen Offenbarung des Dokuments Dl betrifft, so nimmt die Kammer wie folgt Stellung:
D1 offenbart in Anspruch 1 eine Fällungskieselsäure mit folgenden Parameter-Wertebereichen:
D1 Streitpatent
Anspruch 1 Anspruch 1
BET-Oberfläche 120 - 300 190 - 302 m**(2)/g
CTAB-Oberfläche 100 - 300 >= 170 m**(2)/g
DBP-Zahl 150 - 300 * 200 - 300 ml/(100g)
Searszahl 6 - 25 10 - 25 ml/(5g)
* g/100g
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin teilt die Kammer die Meinung, die auch die Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung vertreten hat, nämlich dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents eine Auswahlerfindung nach den Kriterien der Rechtsprechung (T 198/84 (ABl. EPA 1985, 209), T 279/89 und T 666/89) für eine Auswahl bzw. Mehrfachauswahl von Bereichen darstellt. Selbst wenn jeder einzelne der Bereiche der BET- und die CTAB-Oberfläche sowie der DBP- und die Searszahl für sich betrachtet nicht besonders eng ist, so ist doch die getroffene Auswahl an Fällungskieselsäuren, die durch die Gesamtheit an Parametern charakterisiert ist, eng gegenüber der Offenbarung von D1. Gemäß T 965/09 dürfen nämlich bei einer Mehrfachauswahl die Bereiche der einzelnen Parameter bei der Beurteilung der Neuheit des Auswahlgegenstands nicht separat betrachtet werden, sondern es ist die Kombination der Bereiche zu beurteilen.
Die Beschwerdeführerin stützte sich nicht nur auf die Offenbarung des Produktanspruchs 1 von D1, sondern explizit auch auf den abhängigen Verfahrensanspruch 8, der auf den Verfahrensanspruch 2 rückbezogen ist. Gemäß diesem Anspruch 8 soll die BET-Oberfläche 200 - 300 m**(2)/g und die CTAB-Oberfläche 154 - 300 ml/100g betragen, die übrigen Bereiche sind wie in Anspruch 1. Nach Ansicht der Kammer kann aber die allgemeine Lehre eines Dokuments nicht durch eine willkürlichen Kombination von Merkmalen aus Ansprüchen modifiziert werden.
Die Kammer hat sich darüber hinaus davon überzeugt, dass keines der konkreten Beispiele der D1 neuheitsschädlich für den Anspruchsgegenstand ist (siehe Punkt 6.3).
Was die Frage betrifft, ob im Überlappungsbereich ein besonderen technischen Effekts auftritt oder nicht, so folgt die Kammer der in T 1233/05 (vom 24. April 2008; siehe Entscheidungsgründe 4.4) und T 230/07 (vom 5. Mai 2010; siehe Headnote) vertretenen Auffassung, wonach ein technischer Effekt für die Beurteilung der Neuheit nicht berücksichtigt und der Frage der erfinderischen Tätigkeit vorbehalten bleiben sollte.
6.5 D9 offenbart in Beispiel 3 eine Fällungskieselsäure mit folgenden Kennzahlen: BET-Oberfläche 184 m**(2)/g, CTAB-Oberfläche 165 m**(2)/g, DBP-Zahl 255 ml/100g und Sears-Index 15,7.
Die Beschwerdeführerin möchte auch hier Fehlergrenzen berücksichtigt wissen, sodass die in D9 genannten, um die Streuung der Messwerte korrigierten Zahlen für BET und CTAB in den Anspruchsbereich des Streitpatents zu fallen kämen. Dieser Argumentation kann die Kammer aus den bereits erwähnten Gründen nicht folgen. Ein weiterer nicht ausgeräumter Unterschied besteht hinsichtlich der Sears-Zahl (im Streitpatent wird die modifizierte Sears-Zahl V2 als Meßgröße verwendet).
6.6 Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 ist daher neu in Hinblick auf D1 und D9. Dasselbe gilt für den unabhängigen Verfahrensanspruch 6, der alle Merkmale des Anspruchs 1 enthält. Die Bestimmungen des Artikels 54 EPÜ sind erfüllt.
7. Erfinderische Tätigkeit
7.1 Das Streitpatent betrifft eine hochdispergierbare Fällungskieselsäure mit einer besonderen Kombination von physikalisch-chemischen Parametern, zur Verwendung als Füllstoff in vulkanisierbaren Kautschukmischungen und Vulkanisaten.
7.2 Als nächstliegender Stand der Technik wird D1 angesehen, da die dort offenbarten Fällungskieselsäuren strukturell vergleichbar sind und ebenfalls als Füllstoffe für vulkanisierbare Kautschukmischungen, insbesondere für Reifen, vorgesehen sind (siehe
Beispiel 9).
7.3 Ausgehend von D1 bestand die Aufgabe des Streitpatents darin, eine hochdispersible, hochoberflächige Kieselsäure bereitzustellen, die in Kautschukvulkanisaten für Reifen verbesserte Eigenschaften wie Abriebwiderstand, eine höhere dynamische Steifigkeit bei 0° und 60° und einen erniedrigten Rollwiderstand (angezeigt durch den tan delta bei 60°) ergibt. Derartige Eigenschaften sind insbesondere bei Nutzfahrzeugsbereifungen und bei Reifen für Hochgeschwindigkeits-Pkw gewünscht (siehe Streitpatent, Abschnitte [0008] bis [0010]).
7.4 Zur Lösung dieser Aufgabe schlägt das Streitpatent eine Fällungskieselsäure vor, gekennzeichnet durch eine
BET-Oberfläche 190 - 302 m**(2)/g
CTAB-Oberfläche >= 170 m**(2)/g
DBP-Zahl 200 - 300 g/(100g)
Searszahl V2 10 - 20 ml/(5g).
7.5 Nach Überzeugung der Kammer wurde die gestellte Aufgabe gelöst, und aus folgenden Gründen. In Beispiel 3 (Abschnitt [0099] und folgende) werden die erfindungsgemäßen gefällten Kieselsäuren mit dem Stand der Technik, exemplifiziert durch die Kieselsäuren Ultrasil 7000 GR und Zeosil 1205 MP als Referenzkieselsäuren verglichen. Die Kammer hält diesen Vergleich für aussagekräftig, da die genannten Vergleichskieselsäuren von der allgemeinen Lehre der D1 umfasst sind und daher repräsentativ für den nächstliegenden Stand der Technik sind. Die BET-Oberflächen von Ultrasil 7000 GR und Zeosil 1205 MP sind aus D7 und D8 bekannt und betragen 170 bzw. <185 m**(2)/g.
Die entsprechenden Vulkanisatdaten aus Tabelle 7 des Streitpatents zeigen nun für die Kautschukmischung B mit der erfindungsgemäßen Fällungskieselsäure in der Tat eine Verbesserung hinsichtlich der Steifigkeit (siehe die dynamischen Moduli E* bei 0° und 60°) und des Rollwiderstands (siehe die tan delta Werte bei 0° und 60°), im Vergleich mit den Referenzmischungen R3 und R4. Die gestellte Aufgabe ist somit gelöst.
Die Kammer kann daher der Ansicht der Beschwerdeführerin nicht folgen, dass die technische Aufgabe in der bloßen Bereitstellung einer Alternative liege.
7.6 Es bleibt zu untersuchen, ob der Anspruchsgegenstand angesichts des Standes der Technik nahelag.
Wie bereits erwähnt, dienen die beanspruchten hochdispersiblen Fällungskieselsäuren als Füllstoffe insbesondere der Herstellung von Reifen mit besonderen Eigenschaften, wie hohe dynamische Moduli E* ohne gesteigerte Härte und Spannungswerte. Es gibt in Dl keinen Hinweis darauf, dass Fällungskieselsäuren mit der beanspruchten Kombination von Parametern für die BET- und die CTAB-Oberfläche, die DBP-Zahl und die modifizierte Sears-Zahl V2 diese Aufgabe lösten.
Die Beschwerdeführerin stützte sich insbesondere auf die konkreten Ausführungsbeispiele 4 und 5 von Dl, welche ihrer Ansicht nach den Anspruchsgegenstand nahelegten. Beispiel 4 offenbart eine Fällungskieselsäure mit einer BET-Oberfläche von 180-200 m**(2)/g und einer Sears-Zahl von 17,0, Beispiel 5 eine Fällungskieselsäure mit einer BET-Oberfläche von 200-300 m**(2)/g und einer hohen Sears-Zahl von 21,6. Die Beschwerdeführerin gab die wk-Werte mit 1,1 (Beispiel 4) und 2,1 (Beispiel 5) an; diese kennzeichnen die Dispergierbarkeit, wobei höhere wk-Werte eine schlechtere Dispergierbarkeit bedeuten. Daraus lässt sich allerdings nach Auffassung der Kammer allenfalls ableiten, dass eine Fällungskieselsäure mit einer Sears-Zahl von 21,6 eine niedrigere Dispergierbarkeit aufweist als eine Kieselsäure mit Sears-Zahl kleiner 17,0. Dies weist den Fachmann möglicherweise auf hochdispergierbare Fällungskieselsäuren mit einem vergleichsweise niedrigen Wertebereich für die Sears-Zahl V2 hin, nicht jedoch auf die anspruchgemäße Kombination von niedrigerer Sears-Zahl V2 mit hoher BET- und CTAB-Oberfläche, welche zu Fällungskieselsäuren mit besonderen Eigenschaften als Füllstoffe bei der Herstellung von Reifen führt.
7.7 Aus diesen Gründen ist der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 durch D1 nicht nahegelegt.
Gegen die unabhängigen Ansprüche 6 und 15 bis 19 hat die Beschwerdeführerin keine spezifischen Einwände unter Artikel 56 EPÜ vorgetragen.
Die Kammer kommt daher zum Schluss, dass die erteilten Ansprüche 1 bis 19 den Erfordernissen des EPÜ genügen.
7.8 Da der Hauptantrag gewährbar ist, brauchen die nachrangigen Anträge nicht berücksichtigt zu werden.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.