T 0272/90 (Zuständigkeit der Juristischen Beschwerdekammer) 06-08-1990
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Sachverhalt und Anträge
I. Durch Zwischenentscheidung einer Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts (EPA) war festgestellt worden, daß das europäische Patent Nr. 74 676 in geändertem Umfang aufrechterhalten werden kann. Nach Rechtskraft dieser Entscheidung wurde der Patentinhaber durch Mitteilung vom 16. Januar 1989 gemäß Regel 58 (5) EPU aufgefordert, innerhalb einer Frist von drei Monaten 1. die Druckkostengebühr für eine neue europäische Patentschrift zu entrichten und 2. die Ubersetzung der geänderten Patentansprüche in die beiden anderen Amtssprachen des EPA einzureichen.
II. Die Druckkostengebühr wurde rechtzeitig gezahlt, die Ubersetzungen der Patentansprüche aber nicht rechtzeitig vorgelegt. Durch Mitteilung gemäß Regel 58 (6) EPU vom 20. September 1989 wurde der Patentinhaber hierauf aufmerksam gemacht und darüber unterrichtet, daß er die erforderliche Handlung noch wirksam vornehmen könne, sofern er innerhalb einer Frist von zwei Monaten nach Zustellung der Mitteilung neben der versäumten Handlung eine Zuschlagsgebühr in Höhe der zweifachen Druckkostengebühr für eine neue europäische Patentschrift entrichte. Nach Darlegung des Patentinhabers wurden die Ubersetzungen mit Schreiben vom 8. November 1989 eingereicht. Die Zuschlagsgebühr wurde allerdings nicht entrichtet.
III. Durch Entscheidung des Formalsachbearbeiters vom 21. Dezember 1989 wurde das europäische Patent nach Artikel 102 (5) EPU widerrufen. In einer Rechtsmittelbelehrung wurde auf die Möglichkeit einer Beschwerde aufmerksam gemacht. Auf die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung nach Artikel 122 EPU wurde in keinem der Schreiben des EPA hingewiesen.
IV. Gegen diese Entscheidung legte der Patentinhaber am 26. Januar 1990 unter Zahlung der Gebühr Beschwerde ein und begründete diese am 20. April 1990. Im wesentlichen wird geltend gemacht, daß die angefochtene Entscheidung jeder Rechtsgrundlage entbehre. Ein Widerruf könne nach Artikel 102 (5) EPU zwar wegen nicht rechtzeitiger Einreichung der Ubersetzungen, nicht aber wegen Versäumung der Nachfrist nach Regel 58 (6) EPU erfolgen. Nach Hinweis durch den Berichterstatter wurde ein Antrag auf Wiedereinsetzung in die Nachfrist nach Regel 58 (6) EPU nachgereicht.
Der Beschwerdeführer und Patentinhaber beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent aufrechtzuerhalten.
V. Der Beschwerdegegner und Einsprechende beantragt, Beschwerde und Wiedereinsetzungsantrag zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist - was die üblichen Erfordernisse anbelangt - zulässig. Allerdings ergibt sich im Hinblick auf Entscheidungen einer anderen Beschwerdekammer die Frage, ob überhaupt eine beschwerdefähige Entscheidung vorliegt oder ob in einem Fall der vorliegenden Art der Rechtsverlust (Widerruf des Patents) bereits kraft Gesetzes eingetreten und eine Beschwerde erst nach Anwendung von Regel 69 Abs. 1 und 2 EPU möglich ist (siehe T 26/88 vom 7. Juli 1989, veröffentlicht in ABl. EPA 1991, 30, wie auch T 522/88 und T 114/89).
2. Neben dieser Rechtsfrage stellen sich im vorliegenden Fall jedoch auch weitere Fragen ausschließlich rechtlicher Art, u. a. die Frage, wie sich allgemein sog. Grundfristen (hier die Frist zur Vorlage der Ubersetzungen) und sog. Nachfristen (hier die Frist zur Zahlung einer Zuschlagsgebühr in Höhe der zweifachen Druckkostengebühr) zueinander verhalten und unter welchen Voraussetzungen eine Wiedereinsetzung in die eine und/oder andere Frist möglich und notwendig ist.
3. Um Fragen ausschließlich rechtlicher Art handelt es sich aber auch in vielen anderen Entscheidungen, die in bisheriger Ubung von Technischen Beschwerdekammern getroffen wurden, nämlich in Entscheidungen, die ebenfalls von Formalsachbearbeitern der Prüfungsabteilungen oder Einspruchsabteilungen erlassen wurden aufgrund der Mitteilungen des EPA vom 15. Juni 1984 (ABl. EPA 1984, 317 und 319), geändert durch die Mitteilung vom 1. Februar 1989 (ABl. EPA 1989, 178), in geltender Fassung dargestellt bei Singer, Kommentar zum EPU, Anhang 7, S. 877, und Anhang 8, S. 880.
3.1. Solche bisher von den Technischen Beschwerdekammern erlassene Entscheidungen behandeln und beschränken sich auf Rechtsfragen. So wurden beispielsweise alle Entscheidungen zu Fragen des "Laufenden Kontos" (vgl. Mitteilung in ABl. EPA 1982, 15) von Technischen Beschwerdekammern erlassen (siehe die Zusammenstellung bei Singer, Kommentar zum EPU, S. 889). Andere Entscheidungen betreffen die Anwendung von Art. 99 in Verbindung mit den Regeln 55 und 56 EPU durch den Formalprüfer, d. h. die rein rechtliche Seite der Zulässigkeit von Einsprüchen.
3.2. Die bisherige Bejahung der Zuständigkeit der Technischen Beschwerdekammern für Beschwerden dieser Art ergab sich aus der bisherigen Auslegung von Artikel 21 (3) und (4) EPU. Dies führte dazu, daß in Einspruchsangelegenheiten schlechthin nur die Technischen Beschwerdekammern für zuständig erachtet wurden. Artikel 21 (4) EPU erwähnt nämlich die Juristische Beschwerdekammer nicht als eine Instanz, die in Angelegenheiten des Einspruchs zuständig sein kann. Nach dieser Auslegung von Artikel 21 (4) EPU würde eine Zuständigkeit der Juristischen Beschwerdekammer selbst dann ausscheiden, wenn es sich um Beschwerden rein rechtlichen Charakters gegen Entscheidungen von Formalsachbearbeitern handelt. In Angelegenheiten der Patentprüfung ist nach dem Wortlaut von Artikel 21 (3) EPU die Zuständigkeit der Juristischen Beschwerdekammer u. a. davon abhängig, ob die angefochtene Entscheidung die "Zurückweisung der europäischen Patentanmeldung oder die Erteilung eines europäischen Patents" betrifft. Dies erlaubte es - nach bisheriger Praxis - die Zuständigkeit der Juristischen Beschwerdekammer im wesentlichen nur dann anzunehmen, wenn es bei der Entscheidung um die Feststellung von Rechtsverlusten (Regel 69 (2) EPU) ging.
3.3. Diese bisherige Anwendung von Artikel 21 EPU führt auch, wenn es um Entscheidungen von Formalsachbearbeitern in Angelegenheiten der Prüfungsabteilungen des EPA geht, zu unbefriedigenden Ergebnissen. Im Katalog der übertragenen Geschäfte betreffen beispielsweise die Nummern 1 bis 6 Zuständigkeiten der Formalsachbearbeiter, die inhaltlich voll denjenigen der Eingangsstelle entsprechen. Dies würde - nach bisheriger Auslegung von Artikel 21 EPU - dazu führen, daß bei Anfechtung von Entscheidungen betreffend Formmängel (z. B. hinsichtlich der Erfindernennung), wie auch betreffend Zahlungen, Vertreterbestellung, Vollmachten und ähnlichem die Juristische Beschwerdekammer nach Artikel 21 (2) EPU zuständig ist, wenn die angefochtene Entscheidung noch von der Eingangsstelle getroffen ist, jedoch eine Technische Beschwerdekammer zuständig wird, sobald die Zuständigkeit für die Prüfung der europäischen Patentanmeldung nach Artikel 18 (1) EPU auf die Prüfungsabteilung übergegangen ist. Bei Nichtvorlage einer Vollmacht wäre eine Technische Beschwerdekammer zuständig, wenn als Rechtsfolge die Zurückweisung der Patentanmeldung vorgesehen ist, jedoch die Juristische Beschwerdekammer, wenn die Rechtsfolge eintritt, daß die europäische Patentanmeldung als zurückgenommen gilt (siehe hierzu Regel 101 (4), Satz 3 EPU). Geht es um die Zahlung der Druckkostengebühr und die Vorlage von Anspruchsübersetzungen vor Erteilung des Patents, so ist die Juristische Beschwerdekammer zuständig. Geht es um die Erfüllung derselben Erfordernisse nach Patenterteilung, also im Einspruchsverfahren, so wird eine Technische Beschwerdekammer als zuständig erachtet. Im übrigen macht ein Blick auf die beiden Kataloge der den Formalsachbearbeitern übertragenen Geschäfte deutlich, daß es sich durchweg um Angelegenheiten rein rechtlicher Art handelt.
3.4. Die vorstehenden Gründe lassen daran zweifeln, ob Artikel 21 Absätze 3 und 4 EPU auch als eine Zuständigkeitsregelung für Beschwerden anzusehen ist, die sich gegen Entscheidungen der Formalsachbearbeiter aufgrund der ihnen übertragenen Geschäfte richten. Die in Regel 9 (3) EPU angesprochenen Geschäfte und die sich aus ihnen ergebenden Beschwerden dürften wohl in Artikel 21 EPU nicht berücksichtigt sein.
3.5. Daher wird die Große Beschwerdekammer mit der in der Entscheidungsformel genannten Rechtsfrage befaßt. Die Formulierung der Rechtsfrage ist so gehalten, daß bei Bejahung der Frage die Juristische Beschwerdekammer auch dann für eine Beschwerde zuständig wäre, wenn es sich zwar um ein übertragenes Geschäft handelt, aber die Prüfungsabteilung oder Einspruchsabteilung selbst entschieden hat. Es ist durchaus denkbar, daß in rechtlich schwierigen Fällen diese Abteilungen die Sache selbst unter Hinzuziehung eines rechtskundigen Mitglieds entscheiden (Beispiele in ABl. EPA 1984, 117; 1984, 565; 1986, 56). In solchen Fällen wäre die Behandlung der Beschwerde durch die Juristische Beschwerdekammer umso mehr berechtigt.
4. Im Zusammenhang mit der vorgelegten Rechtsfrage stellt sich nach Ansicht der vorlegenden Kammer auch die Frage, ob der Präsident des EPA seine Befugnis zur Ubertragung von Zuständigkeiten nach Regel 9 (3) EPU weiterübertragen kann. Aus der Einleitung der genannten Mitteilung über die Ubertragung von Geschäften (ABl. EPA 1984, S. 317 und S. 319) ergibt sich nämlich, daß die Ubertragung der Geschäfte vom Vizepräsidenten der Generaldirektion 2 des EPA aufgrund übertragener Befugnisse vorgenommen wurde, daß also eine Delegation durch den Präsidenten des EPA nach Artikel 10 (2) i) EPU vorliegt.
4.1. Bei der Ubertragung von Geschäften nach Regel 9 (3) EPU handelt es sich um einen Akt der Rechtssetzung und zwar der Setzung von Zuständigkeitsrecht, das von Artikel 18 (1) und Artikel 19 (1) EPU abweicht. Das Ubereinkommen, die Ausführungsordnung und die Gebührenordnung geben dem Präsidenten des EPA verschiedene Rechtssetzungsbefugnisse, wovon als weiteres Beispiel nur die Einrichtung sog. "laufender Konten" nach Artikel 5 (2) GebO-EPU genannt sein soll (siehe ABl. EPA 1982, 15).
4.2. In seinen Aufgaben wird der Präsident des EPA nach dem Ubereinkommen "von mehreren Vizepräsidenten unterstützt" (vgl. Artikel 10 (3) EPU). Dies setzt eigene Verantwortungsbereiche der Vizepräsidenten voraus. Die Ubertragung von Rechtssetzungsbefugnissen an einen von ihnen würde somit die Mitverantwortung der anderen ausschließen. Bei der denkbaren Ubertragung von Rechtssetzungsbefugnissen an nachgeordnete Stellen würden sogar weite Teile des EPA von Mitverantwortung ausgeschlossen. Es erscheint daher bedenklich, wenn - wie gerade hier - die Mitverantwortung des für das Rechtswesen zuständigen Vizepräsidenten ausgeschlossen wird, zumal eine Ubertragung von Geschäften nach Regel 9 (3) EPU eine Prüfung darauf voraussetzt, ob es sich um Geschäfte handelt, die "technisch oder rechtlich keine Schwierigkeiten bereiten". Auch was die "Vorschriften über das laufende Konto" anbelangt, wäre eine Freistellung des für das Rechtswesen zuständigen Vizepräsidenten von Mitverantwortung und eine Ubertragung der Rechtssetzungsbefugnis an Stellen der Generaldirektion 4 nur schwer vorstellbar. Eine Delegation von Rechtssetzungsbefugnis muß umso bedenklicher stimmen, wenn es sich um die Delegation einer dem Präsidenten des EPA in Regel 9 (3) EPU gegebenen Kompetenz-Kompetenz handelt, also der Befugnis, in Abweichung von Artikel 18 (1) und 19 (1) EPU Zuständigkeiten zu bestimmen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Der Großen Beschwerdekammer wird folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
Ist die Juristische Beschwerdekammer zuständig für Beschwerden gegen Entscheidungen, die Formalsachbearbeitern nach Regel 9 (3) EPU übertragen wurden?