T 0558/04 14-03-2006
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Verfahren zur Ermittlung von Gebühren für die Nutzung von Verkehrswegen durch Fahrzeuge
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) richtet ihre am 2. April 2004 unter gleichzeitiger Zahlung der Beschwerdegebühr eingelegte Beschwerde gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung vom 3. Februar 2004 über die Aufrechterhaltung des Europäischen Patents 0 742 890 in geändertem Umfang. Ihre Beschwerde hat sie am 11. Juni 2004 begründet.
II. In der Einspruchsschrift war das Patent durch die in Art. 100 a) EPÜ aufgeführten Einspruchsgründe der fehlenden Neuheit (Art. 54 EPÜ) und der fehlenden erfinderischen Tätigkeit (Art. 56 EPÜ) angegriffen worden. Zum Beleg dieser Einwände wurde folgende Druckschrift genannt:
D1: WO95/14909.
III. In der angegriffenen Entscheidung hatte die Einspruchsabteilung festgestellt, dass diese Entgegenhaltung, die am 1. Juni 1995 veröffentlicht worden war und eine Priorität vom 26. November 1993 beanspruchte, gemäß Artikel 54 (3) und (4) EPÜ als Stand der Technik gelte und bei der Prüfung lediglich auf Neuheit für die Vertragstaaten DE, ES, FR, GB, IT, NL und SE, die in beiden Anmeldungen benannt wurden, zu berücksichtigen sei. Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß dem damaligen Hilfsantrag 1 sei neu gegenüber der Offenbarung der D1. Für die weiteren benannten Vertragsstaaten AT, BE, CH, DK, GR, LI und LU stehe der Aufrechterhaltung des Patents in unveränderter Form nichts entgegen.
IV. In der auf Antrag beider Parteien anberaumten mündlichen Verhandlung vom 14. März 2006, an deren Ende die vorliegende Entscheidung verkündet wurde, beantragte die Beschwerdeführerin die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.
V. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.
VI. Anspruch 1, geltend für die Vertragstaaten DE, ES, FR, GB, IT, NL und SE, lautet wie folgt:
"Verfahren zur Ermittlung von Gebühren für die Nutzung von Verkehrswegen durch Fahrzeuge in Abhängigkeit vom Passieren von an den Verkehrswegen angeordneten Erfassungsste11en, wobei die geographische Position eines Fahrzeugs laufend mit Hilfe von Funkortung, mit dem GPS-System, ermittelt und mit geographischen Positionen von virtuellen Erfassungsstellen, deren Positionen a1s ausgewählte Punkte der Verkehrswege gespeichert sind, verglichen wird,
dadurch gekennzeichnet,
daß die virtuellen Erfassungsstellen jeweils von einem streifenförmigen Erfassungsabschnitt entlang einer Kette von Punkten auf einer vorgegebenen Länge des jeweiligen Verkehrsweges gebildet werden, und daß ein Fahrzeug als die Erfassungsstelle passiert gilt, wenn durch einen Vergleich der laufend ermittelten Positionen mit Punkten innerhalb des Erfassungsabschnitts festgestellt wird, daß das Fahrzeug den Erfassungsabschnitt in seiner gesamten Länge durchfahren hat, wobei die Kette von Punkten aus mehreren durch ihre geografischen Positionen festgelegten Referenzpunkten besteht, deren Abstand k1einer als der Messfehler von etwa 100m des Funkortungssystems ist."
Der Wortlaut des Anspruch 1 für die restlichen Vertragsstaaten ist der des erteilten Patents.
Die Ansprüche 2 bis 7 sind abhängige Ansprüche.
VII. Die Argumente der Beschwerdeführerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Nach Auffassung der Einspruchsabteilung waren sämtliche Merkmale des Anspruchs 1 aus der Druckschrift D1 bekannt mit Ausnahme des Merkmals, dass der Abstand der Referenzpunkte kleiner als der Messfehler von etwa 100 m des Funkortungssystems ist. Ferner wird im Anspruch das Funkortungssystem als ein GPS-System definiert. Das Merkmal, den Abstand zwischen den Referenzpunkten kleiner als den Messfehler des Funkortungssystems (also hier von >0 m bis 100 m) zu machen, ist allerdings entgegen der Auffassung der Einspruchsabteilung ebenfalls der Druckschrift Dl zu entnehmen. So ist auf Seite 5, zweiter Absatz, in dem es um die Festlegung des Abstandes zwischen den Bestimmungspunkten geht, ausgeführt, dass aus dem Bestreben, den Polygonzug näherungsweise dem tatsächlichen Straßenverlauf anzupassen, der Abstand zwischen den Bestimmungspunkten zu verringern ist. Dabei kann, so die D1, die "Verringerung des Abstandes zwischen zwei unmittelbar benachbarten Bestimmungspunkten beliebig weit getrieben werden". Das heißt, dass der Abstand zwischen zwei Bestimmungspunkten nach unten sehr klein sein kann bis zu der Größenordnung des in Anspruch 1 angegebenen Abstands. Damit ist das Ergebnis der Auswahl nach Anspruch 1 und der Lehre der D1 gleich. Dass bei der Auswahl der Abstände zwischen zwei Bestimmungspunkten die Messgenauigkeit des GPS-Funkortungssystems zu berücksichtigen ist, ergibt sich von selbst und ist in der D1 implizit dadurch mitoffenbart, dass an gleicher Stelle für den Schwellenwert des senkrechten Abstandes zwischen der Verbindungsstrecke von zwei benachbarten Bestimmungspunkten und dem tatsächlichen Straßenverlauf ebenfalls ein Wert kleiner als der bei der Fahrzeugpositionsbestimmung maximal auftretende Fehler angegeben ist. Dass sich dabei die Funkortung in Dl auf das GPS-System bezieht, ist der Seite 2, 2. Absatz, zu entnehmen, wo für die Genauigkeit des GPS-Ortungssystems etwa 100 m angegeben werden. Im Ergebnis kann bei einem Straßenverlauf mit engen Kurven nicht nur der Quer-, sondern auch der Längsabstand zwischen zwei Punkten kleiner als etwa 100 m sein. Damit erfüllt die Druckschrift D1 das in der Entscheidung T 0198/84 (Amtsblatt 1985, 209) gestellte Kriterium, dass dieser Stand der Technik "...geeignet ist, dem Fachmann den Erfindungsgegenstand seinem Inhalt nach in Form einer technischen Lehre kundzutun". Gemäß dieser Entscheidung ist Neuheit ein absoluter Begriff und reicht eine allein dem Wortlaut nach unterschiedliche Erfindungsdefinition nicht aus für die Neuheit. Dies wird auch betont im Kommentar "Europäisches Patentübereinkommen" von Singer/Stauder, 2. Auflage, unter Artikel 54, Rdn 6.
VIII. Die Argumente der Beschwerdegegnerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Die Beschwerdeführerin hat für den Einwand mangelnder Neuheit die Passage auf Seite 5, 2. Absatz der D1 genannt. Tatsächlich entnimmt der Fachmann dieser Stelle, dass der Straßenverlauf mittels eines durch die Bestimmungspunkte gebildeten Polygons beliebig weit angenähert werden kann. Genauere Ausführungen über diese Annäherung und die notwendigen Abstände zwischen den Bestimmungspunkten (der sogenannte "Längsabstand") werden nicht gegeben. In diesem Zusammenhang ist der D1 auch nicht zu entnehmen, dass hier die Messgenauigkeit des Funkortungssystems zu berücksichtigen ist. Diese Textpassage der Dl behandelt ferner den maximal noch zulässigen senkrechten oder Querabstand zwischen der Verbindungsstrecke von zwei unmittelbar benachbarten Bestimmungs- bzw. Identifikationspunkten, worauf die Beschwerdeführerin Bezug nimmt. Dies hat jedoch grundsätzlich nichts mit dem gegenseitigen Längsabstand von zwei benachbarten Bezugspunkten zu tun. Dem Dokument Dl ist nicht zu entnehmen, dass der Abstand zwischen zwei Bestimmungspunkten unabhängig vom Straßenverlauf und anderen Kriterien kleiner als 100 Meter sein muss. Es ist in der Dl auch an keiner Stelle erwähnt, dass der Abstand unter Berücksichtigung der Messgenauigkeit des Satellitenortungssystems gewählt werden muss, sondern lediglich, dass der Abstand in ausreichendem Maße an den Straßenverlauf angepasst werden soll. Ein bevorzugter Abstand zwischen zwei Bestimmungspunkten ist in dieser Druckschrift nicht angegeben. Der in Anspruch 1 definierte Abstand von weniger als 100 Metern zwischen zwei Referenzpunkten hilft die Genauigkeit des Systems zu verbessern, denn ein gemessener Positionswert kann immer dem nächsten Referenzpunkt zugeordnet werden, dessen Koordinaten genau festgelegt sind. Somit kann die Genauigkeit der Positionszuordnung verbessert werden, was beim Verfahren nach D1 nicht möglich ist. Das Verfahren nach Anspruch 1 ist damit zweifellos neu gegenüber D1.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Änderungen
Wie in Punkt 5.1 der Entscheidung der Einspruchsabteilung ausgeführt, bestanden weder von der Einspruchsabteilung noch von den Parteien irgendwelche Bedenken gegen den Änderungen in Anspruch 1. Die Kammer schließt sich dem an.
3. Patentierbarkeit - Neuheit
3.1 In Punkt 5 der Entscheidungsgründe hatte die Einspruchsabteilung ausgeführt, dass bis auf das Merkmal "dass die Kette von Punkten aus mehreren durch ihre geografischen Positionen festgelegten Referenzpunkten besteht, deren Abstand k1einer als der Messfehler von etwa 100m des Funkortungssystems ist" und "dass das Funkortungssystem ein GPS-System ist" sämtliche weiteren Merkmale des Anspruchs 1 aus der Druckschrift D1 bekannt seien. Aus dem Vorbringen der Parteien folgt, dass dies die einzigen zwischen den Parteien strittigen Merkmale des Anspruchs 1 sind.
3.2 Die Druckschrift D1 beschreibt auf Seit 5, Absatz 2 die Auswahl der Bestimmungspunkte zwischen den Identifikationspunkten einer Sektion: diese sollen in der Weise ausgewählt werden, dass die linearen Verbindungsstrecken zwischen den unmittelbar benachbarten Punkten einen den tatsächlichen Straßenverlauf der Sektion angenähert wiedergebenden Polygonzug bilden (siehe auch Anspruch 1 der D1). Durch Verringerung des jeweiligen Abstandes zwischen zwei Punkten kann diese Annäherung weiter verbessert werden. Dies beinhaltet jedoch den Nachteil eines erhöhten Speicheraufwandes. Deshalb wird die Vorgabe eines Schwellenwertes vorgeschlagen, der dem maximal noch zulässigen senkrechten Abstand zwischen der Verbindungsstrecke von zwei unmittelbar benachbarten Punkten und dem tatsächlichen Straßenverlauf entspricht. Dieser Schellenwert soll möglichst kleiner gewählt sein als der maximal auftretende Fehler. Auf Seite 2, 2. Absatz der D1 wird offenbart, dass die Genauigkeit der Positionsbestimmung durch die Genauigkeit des GPS-Systems begrenzt wird, welche bei etwa 100m liegt. Daraus ist zu schließen, dass die Größe dieses Schwellenwertes ebenfalls bei etwa 100m liegen soll.
3.3 Nach der Druckschrift D1 hat der Abstand zwischen den Referenzpunkten ("Längsabstand") keinen vorbestimmten festen Wert, vielmehr soll dieser Abstand so gewählt werden, dass die Abweichung zwischen dem senkrechten Abstand und tatsächlichen Straßenverlauf ("Querabstand") kleiner als etwa 100m ist. Der Längsabstand ist deshalb eine Funktion des Straßenverlaufs: bei einer sehr kurvenreicher Strecke ist er kleiner, bei einer gerade Strecke größer zu wählen.
3.4 Demgegenüber wird in Anspruch 1 definiert, dass "die Kette von Punkten aus mehreren ...Referenzpunkten besteht, deren Abstand kleiner als ...etwa 100m ist". Dies bedeutet, dass der Abstand zwischen sämtlichen Punkten des jeweiligen Erfassungsabschnitts kleiner als 100m sein soll. Nach Auffassung der Kammer ist diese Lehre zur Ermittlung der Referenzpunkte der Druckschrift D1 nicht zu entnehmen.
3.5 Die Beschwerdeführerin hat eingewendet, dass je nach Straßenverlauf auch beim Verfahren nach der D1 nicht nur der Quer-, sondern auch der Längsabstand zwischen zwei Referenzpunkten kleiner als etwa 100 m sein könne, in welchem Fall das Ergebnis beider Verfahren identisch sei. Deshalb nehme die Druckschrift D1 die Neuheit des beanspruchten Verfahrens vorweg. Diese Auffassung werde von der Entscheidung T 0198/84 gestützt. Dem vermag sich die Kammer nicht anzuschließen.
3.6 Nach der zitierten Entscheidung "ist bei der Neuheitsprüfung darauf abzustellen, ob der Stand der Technik geeignet ist, dem Fachmann den Erfindungsgegenstand seinem Inhalt nach in Form einer technischen Lehre kundzutun". Im vorliegenden Fall betrifft der Erfindungsgegenstand ein Verfahren zur Ermittlung von Gebühren für die Nutzung von Verkehrswegen, wobei als Teil des Verfahrens eine Kette von Referenzpunkten dadurch festgelegt wird, dass der Längsabstand zwischen sämtlichen Punkten der Kette festgelegt wird und kleiner sein soll als 100m. Wie oben ausgeführt, ist diese Maßnahme aus der Druckschrift D1 nicht bekannt. Es ist nicht auszuschließen, dass bei Anwendung des Verfahrens nach D1 für eine sehr kurvige Strecke, wobei die Polygonsegmente dementsprechend kurz gewählt werden müssen, im Einzelfall als Ergebnis Werte für die Längsabstände auftreten, die ebenfalls kleiner als 100m sind. Jedoch wird im Anspruch 1 ein Verfahren, und nicht das Ergebnis des Verfahrens beansprucht. Deshalb ist bei Überprüfung des Kriteriums aus der zitierten Entscheidung auf dem vorliegendem Fall der Stand der Technik aus D1 nicht geeignet, dem Fachmann das beanspruchte Verfahren seinen Inhalt nach Form einer technischen Lehre kundzutun. Daher hat die Kammer keinen Zweifel an der Neuheit des beanspruchten Verfahrens.
3.7 Das in Anspruch 1 für die Vertragstaaten DE, ES, FR, GB, IT, NL und SE definierte Verfahren ist daher neu gegenüber der Offenbarung in Druckschrift D1.
Bezüglich Anspruch 1 für die restlichen Vertragsstaaten gehört die Druckschrift D1 unbestritten nicht zum Stand der Technik.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.