T 1309/07 23-06-2009
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Kolben für einen Verbrennungsmotor
Mahle International GmbH
Federal-Mogul Holding Deutschland GmbH
Offenkundige Vorbenutzung (ja)
Lieferung einer Vielzahl von Kfz-Teilen an einen Kfz-Hersteller
Lieferung unter stillschweigend vereinbarter Geheimhaltungsverpflichtung (nein)
Neuheit, erfinderische Tätigkeit (verneint) - alle Anträge
I. Eine stillschweigend vereinbarte Geheimhaltungsverpflichtung ist im Prinzip dann anzunehmen, wenn ein Kfz-Zulieferer sein Produkt an einen Kfz-Hersteller nur zu Versuchs- oder Erprobungszwecken liefert.
II. Es waren im vorliegenden Fall mehr als 17000 Kolben an einen Kfz-Hersteller ausgeliefert worden. Angesichts dieser hohen Stückzahl und der Tatsache, dass Kolben dieser Art in einem vorveröffentlichten Ersatzteilkatalog angeboten waren, wurde angenommen, dass die Kolben nicht zu Versuchszwecken sondern vielmehr zum normalen Einsatz in der Serienproduktion ausgeliefert worden waren. Ab diesem Zeitpunkt kann nicht mehr von einer stillschweigend vereinbarten Geheimhaltungsverpflichtung ausgegangen werden.
Sachverhalt und Anträge
I. Die Einspruchsabteilung hat mit der Entscheidung vom 19. Juni 2007 das europäische Patent EP-B-1 063 409 widerrufen. Dabei hat sie insbesondere die folgenden Beweismittel berücksichtigt:
E1: JP 62-111925 U (mit Übersetzung)
E4: Zeichnung 80V191A8, MAHLE GmbH;
E5a: Zeichnung 80V191A8B1, MAHLE GmbH;
E5b: Zusammenstellung der Zeichnungsnummern für Rohteil-Zeichnungen, MAHLE GmbH;
E6: Zeichnung 1K42147/23, MAHLE GmbH;
E7: Lieferscheine, MAHLE Pistons France SARL (10 Seiten).
Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass durch die Lieferung einer großen Stückzahl der in den Zeichnungen E4, E5a und E6 dargestellten Kolben (nachfolgend "Vorbenutzung"), diese der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden seien. Sie folgte nicht dem Argument der Patentinhaberin, dass es sich bei den gelieferten Kolben um Versuchskolben gehandelt hätte, weil es nicht glaubwürdig sei, dass mehrere tausend Versuchskolben benötigt würden. Da diese Vorbenutzung somit zum Stand der Technik gehöre, würde sie dem Gegenstand des Anspruchs 1 sämtlicher Anträge die Neuheit nehmen.
II. Gegen diese Entscheidung hat die Patentinhaberin am 6. August 2007 Beschwerde eingelegt und gleichzeitig die Beschwerdegebühr entrichtet. Die Beschwerdebegründung ist am 26. Oktober 2007 eingegangen.
Mit der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung hat die Beschwerdegegnerin I (Einsprechende I) zwei Seiten aus einem Katalog (B1) vorgelegt zum Nachweis der Offenkundigkeit der Vorbenutzung.
III. Am 23. Juni 2009 hat eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer stattgefunden.
IV. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents wie erteilt (Hauptantrag), oder hilfsweise die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Aufrechterhaltung des Patents auf Basis einer der Anspruchssätze, jeweils mit geänderten Beschreibungen, überreicht in der mündlichen Verhandlung als Hilfsanträge 1 bis 3.
Die Beschwerdegegnerinnen I und II (Einsprechende I und II) beantragten die Zurückweisung der Beschwerde.
V. Der unabhängige Anspruch 1 des Hauptantrags (erteilte Fassung) hat folgenden Wortlaut:
"Kolben für einen Verbrennungsmotor mit einem ringförmig angeordneten Kühlkanal, der Zulauf- und Ablauföffnungen aufweist, wobei Kühlöl durch eine Kühlöldüse als freier Ölstrahl über einen Zulaufkanal in die Zulauföffnung und damit in den Kühlkanal zuführbar ist und durch mindestens eine Ablauföffnung über einen Ablaufkanal abführbar ist, dadurch gekennzeichnet, daß der Kühlkanal (2) zumindest drei Öffnungen (3, 4, 5) aufweist, wobei in der Kühlkanalebene gesehen der einen Ablauföffnung (4) gegenüberliegend zwei wechselseitig zu nutzende Zulauföffnungen (3, 5) derart angeordnet sind, daß die Öffnungen (3, 5) in Bezug auf eine durch die Ablauföffnung (4) verlaufende Mittelachse symmetrisch angeordnet sind".
In Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 wurde zusätzlich angegeben, dass die symmetrisch angeordneten "Öffnungen (3,5)" "Zulauföffnungen (3,5)" sind und das Merkmal hinzugefügt "und diejenige Zulauföffnung (3,5), die nicht durch eine Kühlöldüse mit Kühlöl versorgt werden kann, als zusätzliche Ablauföffnung dient".
Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 hat folgenden Wortlaut:
"Verwendung eines Kolbens für einen Verbrennungsmotor mit einem ringförmig angeordneten Kühlkanal, der Zulauf- und Ablauföffnungen aufweist, wobei Kühlöl durch eine Kühlöldüse als freier Ölstrahl über einen Zulaufkanal in die Zulauföffnung und damit in den Kühlkanal zuführbar ist und durch mindestens eine Ablauföffnung über einen Ablaufkanal abführbar ist, wobei der Kühlkanal (2) zumindest drei Öffnungen (3, 4, 5) aufweist, wobei in der Kühlkanalebene gesehen der einen Ablauföffnung (4) gegenüberliegend zwei Zulauföffnungen (3, 5) derart angeordnet sind, dass die Zulauföffnungen (3, 5) in Bezug auf eine durch die Ablauföffnung (4) verlaufende Mittelachse symmetrisch angeordnet sind, dadurch gekennzeichnet, dass die Zulauföffnungen (3, 5) derart wechselseitig zu nutzen sind, dass entweder nur die eine Zulauföffnung (3) oder nur die andere Zulauföffnung (5) mit Kühlöl beaufschlagt wird und diejenige Zulauföffnung (3, 5), die nicht durch eine Kühlöldüse mit Kühlöl versorgt werden kann, als zusätzliche Ablauföffnung für das Kühlöl genutzt wird".
Demgegenüber wurde in Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 die Formulierung "wechselseitig zu nutzen sind" durch "wechselseitig genutzt werden" ersetzt und die Formulierung "mit Kühlöl versorgt werden kann" durch "mit Kühlöl versorgt wird".
VI. Die Beschwerdeführerin argumentierte im Wesentlichen wie folgt:
a) Im Einspruchsschriftsatz würde kein konkreter technischer Zusammenhang zwischen den aufgeführten Merkmalen des Anspruchs 1 des Streitpatents und dem entgegengehaltenen Stand der Technik angegeben. Eine pauschale Bezugnahme auf den Stand der Technik hinsichtlich des beanspruchten Gegenstands mache aber einen Einspruch nicht zulässig. Deshalb solle die Beschwerdekammer die Zulässigkeit des Einspruchs I überprüfen.
b) Der Vortrag der Beschwerdegegnerin I zu der Vorbenutzung gemäß der Beweismittel E4 bis E7 sei nicht schlüssig, weil zwischen den Zeichnungen E4 bis E6 und den Lieferscheinen E7 kein eindeutiger Bezug herstellbar sei. So würde die Artikelbezeichnung in den Lieferscheinen E7 "080V191X7A08B1" keine Entsprechung in den Zeichnungen E4 bis E6 finden, weil dort die Bezeichnung "X7" fehle.
c) Darüber hinaus sei die Vorbenutzung nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden, weil es sich bei der Lieferung um Kolben für Versuchszwecke gehandelt hätte, oder zumindest gehandelt haben könnte, für die eine Geheimhaltungsverpflichtung angenommen werden müsste. Dies ergäbe sich schon daraus, dass in den Zeichnungsnummern 80V191 der Buchstabe "V" für eine Versuchsausführung stünde, wie anhand Beweismittel E5b nachvollzogen werden könnte.
Es gäbe keinen Nachweis, dass die gelieferten Kolben tatsächlich in Fahrzeuge von Renault eingebaut und diese Fahrzeuge tatsächlich in Verkehr gebracht worden sind.
Dass es sich um Kolben für die Serienfertigung gehandelt hätte, könnte auch nicht mit dem im Beschwerdeverfahren eingereichten Beweismittel B1 nachgewiesen werden. Da dieses Beweismittel bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätte eingereicht werden können, sei es als verspätetes Vorbringen zu werten. Es sei prima facie nicht hochrelevant, weil die technischen Details darin nicht erkennbar seien und es sich um einen Ersatzteilkatalog handeln würde. Insbesondere würde sich daraus nicht ergeben, dass diese Kolben denjenigen der Zeichnungen E4 bis E6 entsprächen. Die Angabe "80V191" würde dazu nicht reichen. Außerdem wurde bestritten, dass Beweismittel B1 öffentlich zugänglich war. Deshalb sei dieses Beweismittel nicht geeignet, die Zweifel hinsichtlich der Offenkundigkeit der Vorbenutzung auszuräumen.
Wenn die gelieferten Kolben tatsächlich für die Vierzylindermotoren der Renaultmodelle R19 und Mégane bestimmt waren, waren also immer 4 Kolben pro Motortest nötig. Dies erkläre die relativ große Anzahl der gelieferten Kolben, bei denen es sich deshalb nur um Versuchskolben gehandelt haben konnte.
Auch wenn die Serienfertigung der Kolben 1997 bereits begonnen hätte, so könnte es sich bei den gelieferten Kolben dennoch um Versuchskolben gehandelt haben, um damit eine Modifikation der Kolben zu testen. Dafür spräche auch, dass die Zeichnungen aus dem Jahre 1993 stammen, die Lieferscheine aber erst aus den Jahren 1997/98.
d) Da aus der Vorbenutzung das Merkmal nicht bekannt sei, dass das Kühlöl durch eine Kühlöldüse als freier Ölstrahl über einen Zulaufkanal in die Zulauföffnung und damit in den Kühlkanal zuführbar ist und durch mindestens eine Ablauföffnung über einen Ablaufkanal abführbar ist, und aus dem gesamten Stand der Technik auch nicht die Merkmale zweier wechselseitig zu nutzender Zulauföffnungen und einer zusätzlichen Ablauföffnung, sei der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags und des Hilfsantrags 1 patentfähig.
Dies gelte auch für den Gegenstand des Anspruchs 1 der Hilfsanträge 2 und 3, da die Zeichnungen E4 bis E6 nicht die beanspruchte Verwendung offenbaren würden.
VII. Dem hielten die Beschwerdegegnerinnen entgegen:
e) Aus den vorgelegten Beweismitteln E4 bis E7 ergäbe sich bereits schlüssig, dass es sich um eine Lieferung von Kolben für die Serienproduktion gehandelt habe. Schon die Anzahl der gelieferten Kolben spräche gegen die Annahme, dass es sich um Versuchskolben gehandelt haben könnte.
Dies würde durch Beweismittel B1 bestätigt, aus dem sich ergäbe, dass die Kolben gemäß den Zeichnungen E4 bis E6 keine Versuchskolben sondern Kolben für die Serienproduktion der Autotypen R19 und Mégane waren.
Da das Beweismittel B1 einen Copyrightvermerk aus dem Jahr 1997 aufweise, könne nach der Lebenserfahrung davon ausgegangen werden, dass dieser Katalog zu dieser Zeit auch öffentlich zugänglich war. Da es sich um einen Auszug aus einem Ersatzteilkatalog handelt, müsse davon ausgegangen werden, dass die gelieferten Kolben bereits für die Serienproduktion geliefert worden sind. Im übrigen wurde darauf hingewiesen, dass Versuchskolben nicht in einem Ersatzteilkatalog angeboten würden.
f) Da Hilfsantrag 3 erst sehr spät im Beschwerdeverfahren vorgelegt worden ist, könne er nur zugelassen werden, wenn damit die Bedenken der Beschwerdekammer eindeutig ausgeräumt würden und es ansonsten keine weiteren Probleme gäbe. Dies sei aber nicht der Fall.
g) Im Hinblick auf die zum Stand der Technik gehörende Vorbenutzung wäre der Gegenstand des Anspruchs 1 sämtlicher Anträge nicht patentfähig.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist form- und fristgerecht eingereicht worden und deshalb zulässig.
2. Zulässigkeit des Einspruchs der Einsprechenden I
2.1 Gemäß der gefestigten Rechtssprechung der Beschwerdekammern zu Regel 55c EPÜ 1973 müssen die zur Begründung eines Einspruchs vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel so ausreichend angegeben sein, dass die Einspruchsabteilung und der Patentinhaber das Vorbringen ohne weitere Ermittlungen verstehen können (T 2/89, Leitsatz 1; Abl. EPA 1991, 51). Das erfordert in der Regel, dass die technischen Zusammenhänge zwischen dem entgegengehaltenen Stand der Technik und dem beanspruchten Gegenstand aufgezeigt werden (T 28/93, Gründe Nr. 4.1, nicht im ABl. EPA veröffentlicht).
2.1.1 In der Einspruchsschrift wird zunächst behauptet, dass sämtliche Merkmale des Anspruchs 1 aus Druckschrift E1 bekannt seien. Dann werden kurze Ausführungen zur Position der Kühlölzuläufe 21a und 21b und des Kühlölauslaufs 15 gemacht.
Da Kühlölzuläufe und ein Kühlölauslauf mit diesen Bezugszeichen nur für das in den Figuren 1 und 2 dargestellte Ausführungsbeispiel eines Kolbens verwendet werden, ist für den Fachmann eindeutig zu erkennen, dass der Kolben dieses Ausführungsbeispiels dem Gegenstand des Anspruches 1 entgegengehalten wird.
2.1.2 Zwar enthält die Einspruchsschrift keine konkreten Angaben, wo jedes einzelne Merkmal des Anspruchs 1 in dieser Druckschrift offenbart ist. Dies ist jedoch im vorliegenden Fall nicht unbedingt erforderlich, weil es sich um eine kurze Druckschrift handelt mit für einen Fachmann leicht verständlichem Inhalt.
Der technische Zusammenhang zwischen dem entgegengehaltenen Ausführungsbeispiel und dem beanspruchten Gegenstand wird dem Fachmann deshalb nach Überzeugung der Kammer bereits beim Betrachten der Figuren 1 und 2 ggfs. in Verbindung mit der diesbezüglichen Beschreibung aufgezeigt.
2.1.3 Somit sind die zur Begründung des Einspruchs vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel so ausreichend in der Einspruchsschrift angegeben, dass die Einspruchsabteilung, die Beschwerdekammer und die Patentinhaberin das Vorbringen ohne weitere Ermittlungen verstehen können.
2.2 Auch die weiteren Voraussetzungen der Regel 55c EPÜ 1973 sind erfüllt, weil die Einspruchsschrift eine Erklärung darüber enthält in welchem Umfang gegen das europäische Patent Einspruch eingelegt wird (im gesamten Umfang) und auf welche Einspruchsgründe der Einspruch gestützt wird (mangelnde Neuheit und erfinderische Tätigkeit).
2.3 Da keine weiteren Bedenken gegenüber der Zulässigkeit dieses Einspruchs geltend gemacht worden sind und auch nicht ersichtlich sind, stellt die Beschwerdekammer fest, dass der Einspruch der Einsprechenden I zulässig ist.
3. Vorbenutzung durch Kolbenlieferung
3.1 Was wurde geliefert?
3.1.1 Zeichnungen E4, 5A, E6
Sowohl Zeichnung E4 als auch Zeichnung E5a verweisen in der rechten oberen Ecke auf Zeichnung E6 (Zeichnungs-nummer 1K42147/23). Bei der in der rechten oberen Ecke der Zeichnung E6 angegebenen Rohlings- bzw. Vorproduktnummer, beschreibt "A8" einen "Kolbenrohling mit Abweichungen" (siehe Beweismittel E5b), "+" bestimmte Kernformverfahrensschritte und "B1" weitere Bearbeitungsschritte (siehe die "Vorbearbeitungs-zeichnung für Salzkernkolben" E5a). Darüber hinaus geben alle Zeichnungen E4, E5a und E6 die gleiche Auftragsnummer 85271 an. Die Kammer hat deshalb keine Zweifel, dass die Zeichnungen E4 und E5a bestimmte Fertigungsschritte bei der Herstellung des in Zeichnung E6 dargestellten Kolbens darstellen.
3.1.2 Zuordnung der Zeichnungen E4 bis E6 zu den Lieferscheinen E7
a) In der Spalte "Désignation Article No Commande - Pays d'Origine" wird übereinstimmend "080V191X7A08B1-1 CL" aufgeführt. Die Erklärung der Beschwerdegegnerin I, dass in den Lieferscheinen statt der in den Zeichnungen verwendeten Bezeichnung der Kernformverfahrensschritte mit einer bestimmten Anzahl von Pluszeichen, die Abkürzung "X7" gewählt wurde, hält die Kammer für überzeugend. Dies gilt insbesondere auch, weil die besondere graphische Anordnung der Pluszeichen in diesen Zeichnungen mit einer Schreibmaschinentastatur nur schwer zu wiederholen ist. Darüber hinaus scheint es der Kammer auch plausibel zu sein, dass aus Datenverarbeitungsgründen Führungsnullen eingefügt worden sind, so dass die in den Zeichnungen verwendete Bezeichnung "80V191A8" in den Lieferscheinen als "080V191X7A08" erscheint.
b) Zu dieser Überzeugung der Kammer hat auch beigetragen, dass die folgenden Angaben in den Lieferscheinen der Zeichnung E6 zugeordnet werden können. In der Mitte der Zeichnung auf der rechten Seite ist eine waagrechte Tabelle angegeben in der der Bezeichnung "KH" bestimmte Maße zugeordnet werden. Diese Maße finden ihre Entsprechung in den Lieferscheinen, wo das Maß "KH", also Kolbenhöhe (siehe linksseitige Abbildung des Kolbens) als "HA", die Abkürzung der französischen Bezeichnung für Höhe angegeben ist. Da die Maße für die Kolbenhöhe und auch den Zylinderquerschnitt in E7 und E6 korrespondieren, bezieht sich die Artikelbezeichnung in den Lieferscheinen eindeutig auf die Kolben gemäß den Zeichnungen E4 - E6.
3.1.3 Zusammenfassend stellt die Kammer deshalb fest, dass es sich aus diesen Unterlagen eindeutig ergibt, dass 17.520 Stück Kolben gemäß der Zeichnung E6, ausgeführt gemäß den Zeichnungen E5a und E4, an Renault vor dem Prioritätstag des vorliegenden Patents geliefert worden sind.
3.2 Macht diese Lieferung die Kolben der Öffentlichkeit zugänglich?
3.2.1 Grundsätzlich ist nach der Rechtssprechung der Beschwerdekammern eine Information dann als der Öffentlichkeit zugänglich gemacht anzusehen, (a) wenn zumindest ein einziges Mitglied der Öffentlichkeit in der Lage ist, sich diese Information zu verschaffen und sie zu verstehen, und (b) wenn keine Geheimhaltungsverpflichtung besteht (siehe T 1081/01, Nr. 5; nicht im ABl. EPA veröffentlicht).
3.2.2 Die Beschwerdegegnerin I ist ein typischer Zulieferer für die Kfz-Industrie. Sie belieferte den Kfz-Hersteller Renault mit Kolben für die Fahrzeuge R19 und Mégane.
Renault wäre bei einem vorbehaltslosen Verkauf der Kolben als Mitglied der Öffentlichkeit anzusehen, weil es uneingeschränkt darüber verfügen könnte. Zu den Lieferungsbedingungen ist im vorliegenden Fall jedoch nichts vorgetragen wurde, insbesondere ob eine Geheimhaltung vereinbart wurde oder nicht. Deshalb war zu prüfen, ob sich aus den Umständen der Geschäftsbeziehung eine Geheimhaltungsverpflichtung als stillschweigend vereinbart ergibt.
3.2.3 Bestand zum Zeitpunkt der Lieferung der Kolben eine stillschweigend vereinbarte Geheimhaltungsverpflichtung?
a) Eine stillschweigend vereinbarte Geheimhaltungsverpflichtung kann nach der Rechtssprechung der Beschwerdekammern unter anderem dann angenommen werden, wenn Geschäftspartner ein gemeinsames Interesse an einer Geheimhaltung haben.
Dies wäre beispielsweise dann der Fall, wenn sich Entwicklungspartner Muster einer gemeinsamen Entwicklung für Versuchszwecke überlassen. Allerdings könnte ein solches Interesse nur bis zur Lieferung der Kolben für die Serienproduktion angenommen werden, weil ab diesem Zeitpunkt die Kolben dazu bestimmt sind in Fahrzeugen für den Verkauf eingebaut zu werden und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu werden. In anderen Worten ausgedrückt, ab der Lieferung der Kolben für die Serienproduktion kann kein gemeinsames Interesse an einer Geheimhaltung mehr angenommen werden (T 1512/06, Gründe 4.2.5.a); nicht im ABl. EPA veröffentlicht).
Im vorliegenden Fall kommt es deshalb entscheidend darauf an, ob es sich bei den gelieferten Kolben um Versuchskolben oder um Kolben für die Serienproduktion von Fahrzeugen gehandelt hat.
b) Aus den Lieferscheinen E7 ergibt sich, dass zwischen dem 14. November 1997 und 5. Januar 1998, also in einem Zeitraum von weniger als 2 Monaten, mehr als 17.000 Kolben geliefert worden sind. Eine solch große Anzahl spricht schon gegen die Annahme, dass es sich um Versuchskolben gehandelt haben könnte. Darüber hinaus ist auf dem Lieferschein vom 14. November 1997 explizit angegeben, dass es sich um die erste Serienlieferung handele.
Selbst wenn, wie die Beschwerdeführerin vorgetragen hat, für einen Motortest jeweils 4 Kolben notwendig wären, so würde das bedeuten, dass über 4.000 Motorentests erforderlich gewesen wären. Da, wie die Beschwerdeführerin vorgetragen hat, ein Motorentestlauf ca. 70.000 EUR kostet, blieb diese Argumentation wenig überzeugend. Dies gilt erst recht hinsichtlich der Argumentation der Beschwerdeführerin, dass es sich bei den gelieferten Kolben um Versuchskolben gehandelt haben könnte, mit denen eine Modifikation der Serienkolben getestet werden sollte.
Auch aus der Kolbenbezeichnung "80V191" ergibt sich nicht, dass es sich um Kolben für Versuche gehandelt haben könnte. Denn aus Beweismittel E5b ist ersichtlich, dass es sich um einen "Kolbenrohling mit Abweichungen" gehandelt hat. Zwar ist dort in der dritten Reihe auch ein "Kolbenrohling für Versuchsausführung" mit dem Kennzeichen V genannt, jedoch ist das Kennzeichen an einer anderen Stelle vorgesehen als in den Beweismitteln E4 bis E7.
c) Katalog B1
i) Mit der Beschwerdebegründung hat die Beschwerdeführerin ihren Vortrag aus dem Einspruchsverfahren nochmals wiederholt, dass die Vorbenutzung nicht der Öffentlichkeit zugänglich gewesen sei, weil es sich nicht um Kolben für den Serieneinsatz sondern um Versuchskolben gehandelt hätte. Darüber hinaus hat sie von der Beschwerdegegnerin I gefordert nachzuweisen, dass es sich bei den gelieferten Kolben nicht um Versuchskolben gehandelt hätte.
Mit der Einreichung dieses Beweismittels hat die Beschwerdegegnerin I (Einsprechende I) somit auf den Vortrag der Beschwerdeführerin in der Beschwerdebegründung reagiert. Sie diente dazu, den Einwendungen der Beschwerdeführerin betreffend einem möglicherweise fehlenden Glied in der Argumentationskette zu begegnen.
Da dieses Beweismittel somit nicht als verspätetes Vorbringen zu werten ist, ist es zum Verfahren zugelassen worden.
ii) Dieses Beweismittel B1 trägt einen Copyrighthinweis des Jahres 1997 und es handelt sich offensichtlich um einen Auszug aus einem Katalog beträchtlichen Umfangs. Deshalb erscheint es der Kammer nicht plausibel, dass ein Katalog dieses Umfangs nicht in Verkehr gebracht worden sein soll.
Das Beweismittel B1 ist deshalb nach Überzeugung der Kammer der Öffentlichkeit im Jahr 1997 zugänglich gemacht worden.
iii) Der zweiten Reihe auf Seite 580 ist entnehmbar (unter "Renault"), dass die Kolben mit der Bezeichnung 80 V 191 die Dieselreihenmotoren F 8 QT-610/740/768/784/785 der Fahrzeuge R19 und Mégane betreffen. Da in Zeichnung E6 ein Kolben des Typs F8QT740 dargestellt ist (siehe rechts unten), ergibt sich aus Beweismittel B1, dass dort Kolben dieser Bauart angeboten werden. Da es sich nach den Aussagen der Beschwerdeführerin um einen Ersatzteilkatalogauszug handelt, musste die Serienfertigung der Motoren F8QT-740 bereits zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Katalogs begonnen haben. Zu diesem Zeitpunkt kann kein gemeinsames Geheimhaltungsinteresse mehr angenommen werden.
d) Aufgrund dieser Umstände ist die Kammer der festen Überzeugung, dass es sich bei den gelieferten Kolben um Kolben für die Serienfertigung der Fahrzeuge gehandelt hat und kein Geheimhaltungsinteresse mehr angenommen werden kann.
3.2.4 Deshalb sind die Kolben gemäß den Zeichnungen E4 bis E6 der Öffentlichkeit vor dem Prioritätstag dieser Anmeldung zugänglich gemacht worden.
4. Neuheit - Haupt- und Hilfsantrag 1
4.1 Aus den Zeichnungen E4 bis E6 ist ein Kolben für einen Verbrennungsmotor bekannt mit einem ringförmig angeordneten Kühlkanal, der Zulauf- und Ablauföffnungen aufweist (E4: A-A; E6: A-B). Kühlöl ist durch eine Kühlöldüse als freier Ölstrahl über einen Zulaufkanal (E4: B-B) in die Zulauföffnung und damit in den Kühlkanal zuführbar und durch mindestens eine Ablauföffnung (E4: Schnitt A-A und oberste Schnittdarstellung des Kolbens, rechts) abführbar.
Daraus ist auch ersichtlich, dass der Kühlkanal drei Öffnungen aufweist (nämlich zwei Zuläufe und einen Ablauf). In der Kühlkanalebene gesehen, sind einer Ablauföffnung gegenüberliegend zwei Zulauföffnungen derart angeordnet, dass sie in Bezug auf eine durch die Ablauföffnung verlaufende Mittelachse symmetrisch angeordnet sind (E4: A-A; E6: A-B). Die beiden Zulauföffnungen können wechselseitig genutzt werden, d. h., dass das Kühlöl entweder über die eine oder die andere Öffnung zuführbar ist.
Somit offenbaren die Zeichnungen sämtliche Merkmale des Anspruchs 1 gemäß dem Hauptantrag.
4.2 Aus dem Vergleich der obersten Schnittdarstellung des Kolbens und des Schnitts A-A mit dem Schnitt B-B in E4 ist ersichtlich, dass der Mündungsquerschnitt des Ablaufkanals an der Ablauföffnung deutlich kleiner ist als der Mündungsquerschnitt des Zulaufkanals an der Zulauföffnung. Wird das Kühlöl über den einen Zulauf zugeführt, so kann derjenige Anteil, der nicht über den Ablauf abströmt (wegen des kleineren Mündungsquerschnitts) zur zweiten Zulauföffnung weiterströmen und dort abströmen.
Die andere Zulauföffnung dient somit als zusätzliche Ablauföffnung. Deshalb offenbart diese Zeichnung auch sämtliche Merkmale des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1.
4.3 Der Gegenstand des Anspruchs 1 dieser Anträge ist somit nicht neu und erfüllt nicht die Anforderungen des Artikels 54 (2) EPÜ 1973.
5. Erfinderische Tätigkeit - Hilfsanträge 2 und 3
5.1 Die Kammer hat den in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Hilfsantrag 3 zum Verfahren zugelassen, weil damit auf einen neuen Einwand in der Verhandlung reagiert wurde und die beanspruchte Verwendung im Vergleich zu Hilfsantrag 2 eindeutiger angegeben wird.
5.2 Wie die Kolben gemäß den Zeichnungen E4 bis E6 tatsächlich verwendet werden, insbesondere, ob die Zulauföffnungen derart wechselseitig genutzt werden, dass entweder nur die eine oder nur die andere Zulauföffnung mit Kühlöl beaufschlagt wird, ist diesen Zeichnungen nicht unmittelbar entnehmbar.
Deshalb unterscheidet sich die beanspruchte Verwendung von diesem Stand der Technik durch die kennzeichnenden Merkmale des Anspruches 1.
Damit soll die in der Patentschrift, Absatz [0004] genannte Aufgabe gelöst werden. Da die vorbenutzten Kolben bereits universell im Sinne des Patents einsetzbar und herstellbar sind, bleibt als zu lösender Aufgabenbestandteil für die beanspruchte Verwendung, die in Absatz [0006] genannte verbesserte Kühlwirkung.
Es gibt nur zwei Möglichkeiten, dem Kühlkanal Kühlöl zuzuführen, entweder über eine der Zulauföffnungen oder über beide. Die gleichzeitige Zuführung über beide Öffnungen würde aber ein effektives Kühlen des Kolbens verhindern, weil der Mündungsquerschnitt des Ablaufs die zugeführte Kühlölmenge nicht bewältigen könnte und so eine anhaltende Durchströmung des Kühlkanals verhindern würde. Der Kolben ist nicht zur gleichzeitigen Zufuhr von Kühlöl über beide Zuläufe geeignet. Demgegenüber ist die Zufuhr von Kühlöl über eine Zulauföffnung dem Fachmann bestens bekannt, siehe beispielsweise Patentschrift [0003].
Deshalb ist es für den Fachmann naheliegend, die einzige Möglichkeit für eine effiziente Kühlung zu verwenden, nämlich Öl nur über die eine Zulauföffnung zuzuführen. Dies entspricht der beanspruchten Verwendung.
5.3 Der Gegenstand des Anspruchs 1 der Hilfsanträge 2 und 3 beruht somit nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit und erfüllt nicht die Erfordernisse des Artikels 56 EPÜ 1973.
6. Somit konnte weder dem Haupt- noch den Hilfsanträgen 1 bis 3 stattgegeben werden.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.