T 0442/12 12-04-2016
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Vernetzbare Massen auf der Basis von Organosiliciumverbindungen
Akzo Nobel Coatings International B.V.
Dow Corning Corporation
Spät eingereichter Antrag - zugelassen (ja)
Änderungen - unzulässige Erweiterung (nein)
Änderungen - Erweiterung des Patentanspruchs (nein)
Ausreichende Offenbarung - (ja)
Beschwerdeentscheidung - Zurückverweisung an die erste Instanz (ja)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr - (nein)
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Patentinhaberin/Beschwerdeführerin richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, mit der das europäische Patent 1 884 542 (Anmeldenummer 07 113 472.0) widerrufen wurde.
II. Die ursprüngliche Anmeldung enthielt unter anderem folgende Ansprüche:
"1. Vernetzbare Massen auf der Basis von Organosiliciumverbindungen, dadurch gekennzeichnet, dass sie verkapselte Biozide enthalten.
3. Vernetzbare Massen gemäß Anspruch 1 oder 2, dadurch gekennzeichnet, dass es sich um solche handelt herstellbar unter Verwendung von
(A) Organosiliciumverbindung mit mindestens zwei kondensationsfähigen Gruppen,
(B) verkapselte Biozide,
gegebenenfalls
(C) Vernetzer und
gegebenenfalls
(D) basischen Stickstoff aufweisende Verbindungen.
4. Vernetzbare Massen gemäß einem oder mehreren der Ansprüche 1 bis 3, dadurch gekennzeichnet, dass es sich bei Organosiliciumverbindungen (A) um solche handelt enthaltend Einheiten der Formel
Ra(OR**(1))bYcSiO(4-a-b-c)/2 (I),
wobei
R gleich oder verschieden sein kann und gegebenenfalls substituierte Kohlenwasserstoffreste, die durch Sauerstoffatome unterbrochen sein können, bedeutet,
R**(1) gleich oder verschieden sein kann und Wasserstoffatom oder einwertige, gegebenenfalls substituierte Kohlenwasserstoffreste, die durch Sauerstoffatome unterbrochen sein können, bedeutet,
Y gleich oder verschieden sein kann und Halogenatom, Pseudohalogenrest, Si-N-gebundene Aminreste, Amidreste, Oximreste und Aminoxyreste bedeutet,
a 0, 1, 2 oder 3 ist,
b 0, 1, 2 oder 3 ist und
c 0, 1, 2 oder 3 ist,
mit der Maßgabe, dass die Summe aus a+b+c kleiner oder gleich 4 ist und pro Molekül mindestens zwei kondensationsfähige Reste (OR**(1)) anwesend sind.
5. Vernetzbare Massen gemäß einem oder mehreren der Ansprüche 1 bis 4, dadurch gekennzeichnet, dass es sich bei Komponente (B) um trockene Pulver handelt.
6. Vernetzbare Massen gemäß einem oder mehreren der Ansprüche 1 bis 5, dadurch gekennzeichnet, dass es sich bei dem Biozid der Komponente (B) um 2-n-Octyl-4-isothiazolin-3-on (OIT) und 4,5-Dichloro-2-n-octyl-4-isothiazolin-3-on (DCOIT) handelt.
7. Vernetzbare Massen gemäß einem oder mehreren der Ansprüche 1 bis 6, dadurch gekennzeichnet, dass sie Komponente (B) in Mengen von 0,01 bis 3 Gewichtsteilen, bezogen auf 100 Gewichtsteile Organosiliciumverbindung (A), enthalten.
8. Vernetzbare Massen gemäß einem oder mehreren der Ansprüche 1 bis 7, dadurch gekennzeichnet, dass Komponente (D) in einer solchen Menge eingesetzt wird, dass der Gehalt an basischem Stickstoff 0,01 bis 5 Gewichtsteile, bezogen auf 100 Gewichtsteile Organosiliciumverbindung (A), beträgt.
9. Formkörper, hergestellt durch Vernetzung der Massen gemäß einem oder mehreren der Ansprüche 1 bis 8."
III. Das erteilte Patent enthielt 6 Ansprüche, wobei Anspruch 1 wie folgt lautete (Hinzufügungen und Streichungen gegenüber dem ursprünglichen Anspruch 1 werden in Fett bzw. [deleted: durchgestrichen] angegeben):
"1. Vernetzbare Massen [deleted: auf der Basis von Organosiliciumverbindungen, dadurch gekennzeichnet, dass sie verkapselte Biozide enthalten], dadurch gekennzeichnet, dass es sich um solche handelt herstellbar unter Verwendung von
(A) Organosiliciumverbindung mit mindestens zwei kondensationsfähigen Gruppen,
(B) verkapselte Biozide, gegebenenfalls
(C) Vernetzer und
(D) basischen Stickstoff aufweisende Verbindungen, wobei Komponente (D) in einer solchen Menge eingesetzt wird, dass der Gehalt an basischem Stickstoff 0,01 bis 5 Gewichtsteile, bezogen auf 100 Gewichtsteile Organosiliciumverbindung (A), beträgt."
Der Wortlaut der Ansprüche 2-6 entsprach dem Wortlaut der ursprünglichen Ansprüche 4-7 und 9 (mit angepasstem Rückbezug auf die Unteransprüche).
IV. Zwei Einsprüche gegen das Patent wurden eingelegt, wobei die Einspruchsgründe gemäß Art. 100(a) EPÜ (mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit) und Art. 100(b) EPÜ geltend gemacht wurden.
V. Die angefochtene Entscheidung wurde auf Grundlage eines Hauptantrags und eines Hilfsantrags, welche auf die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang gerichtet waren, getroffen. Im Anspruch 1 beider Anträge
- lautete der nicht charakterisierende Teil von Anspruch 1 "Vernetzbare Massen [deleted: auf der Basis von Organosiliciumverbindungen, dadurch gekennzeichnet, dass sie verkapselte Biozide enthalten], dadurch gekennzeichnet, ..." (wie im erteilten Anspruch 1)
- war die Menge an Komponente (D) gemäß ursprünglichem Anspruch 8 definiert.
In ihrer Entscheidung befand die Einspruchsabteilung unter anderem, dass der Fachmann auf der gesamten Anspruchsbreite nicht in der Lage sei, die Menge an basischem Stickstoff in der Komponente (D) zu messen, da im Fall, dass die Komponenten (A), (D) und gegebenenfalls (C) basischen Stickstoff und mindestens zwei kondensationsfähige Gruppen enthalten, (A) und (D) und ggf. (C) nicht zu unterscheiden seien. Darüber hinaus gebe es keine eindeutige Definition für den Begriff "basischen Stickstoff". Somit sei der Fachmann nicht in der Lage zu wissen, was gemessen werden soll. Des Weiteren gebe das Patent keine Information an, welche Messmethode anzuwenden sei. Die von der Patentinhaberin erwähnten Titrations- oder spektroskopischen Methoden seien so unterschiedlich, dass davon auszugehen sei, dass sie zu unterschiedlichen Ergebnisse führen würden. Aus diesen Gründen entschied die Einspruchsabteilung, dass keiner der geltenden Anträge die Erfordernisse des Art. 83 EPÜ erfüllte.
VI. Am 18. April 2012 wurden die Beschwerdebegründung sowie fünf Anträge eingereicht. Ferner wurde die Rückzahlung der Beschwerdegebühr beantragt. Die folgenden Dokumente wurden inter alia eingereicht:
DW3: Reaktionsverhalten und Syntheseprinzipien, Lehrbuch, VEB Deutscher Verlag für Grundstoffindustrie, Leipzig, 1973, Seiten 211-213
DW4: DE 34 47 636 A1
DW5: WO 2009/128883 A1
DW6: Norm DIN EN 13716:2001 "Bestimmung des Gehalts an gesamt-Basenstickstoff"
DW7: Analytical Chemistry, Volume 25, No. 3, 1953, Seiten 426-432
VII. Die Beschwerdeerwiderungen der Beschwerdegegnerinnen 1 und 2 (Einsprechenden 1 und 2) gingen mit Schreiben vom 1. August 2012 bzw. 6. September 2012 ein, wobei folgende Dokumente eingereicht wurden:
DD16: US 5 661 196
DD17: US 5 409 984
VIII. Am 4. August 2015 erging eine Ladung zur mündlichen Verhandlung zusammen mit einem Bescheid enthaltend die vorläufige Meinung der Kammer über die geltenden Anträge, insbesondere bzgl. Art. 83, 84, 123(2) und 123(3) EPÜ.
IX. Mit Schreiben vom 15. Februar 2016 teilte die Beschwerdeführerin 2 mit, dass sie nicht an der mündlichen Verhandlung teilnehmen würde. Auf die Mitteilung der Kammer wurde nicht eingegangen.
X. Mit Schreiben vom 16. Februar 2016 machte die Beschwerdeführerin weitere Ausführungen und reichte vier Anträge ein, wobei nur der Hauptantrag für die vorliegende Entscheidung von Bedeutung ist.
Der Hauptantrag enthielt 5 Ansprüche, wobei Anspruch 1 wie folgt lautete:
"1. Vernetzbare Massen auf der Basis von Organosiliciumverbindungen, dadurch gekennzeichnet, dass sie verkapselte Biozide enthalten, wobei es sich um solche vernetzbaren Massen handelt herstellbar unter Verwendung von
(A) Organosiliciumverbindung mit mindestens zwei kondensationsfähigen Gruppen,
(B) verkapselte Biozide, wobei es sich bei dem Biozid um 2-n-Octyl-4-isothiazolin-3-on (OIT) und 4,5-Dichloro-2-n-octyl-4-isothiazolin-3-on (DCOIT) handelt
(D) basischen Stickstoff aufweisende Verbindungen, wobei Komponente (D) in einer solchen Menge eingesetzt wird, dass der Gehalt an basischem Stickstoff 0,01 bis 5 Gewichtsteile, bezogen auf 100 Gewichtsteile Organosiliciumverbindung (A), beträgt, und
gegebenenfalls
(C) Vernetzer."
Der Wortlaut der Ansprüche 2-5 entsprach dem Wortlaut der ursprünglichen Ansprüche 4, 5, 7 und 9 (mit angepasstem Rückbezug auf die Unteransprüche).
XI. Am Ende der mündlichen Verhandlung, die am 12. April 2016 in Abwesenheit der Beschwerdeführerin 2 stattfand, verkündete die Kammer ihre Entscheidung.
XII. Die für die vorliegende Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdeführerin lassen sich wie folgt zusammenfassen.
Zulassung des Hauptantrags
a) Der Hauptantrag wurde in Reaktion auf die Mitteilung der Beschwerdekammer, insbesondere um darin zum ersten Mal identifizierte Einwände bzgl. Art. 123(2) EPÜ auszuräumen, eingereicht. Gleichzeitig wurde versucht, auf alle anderen Einwände einzugehen. Der Hauptantrag sei zwei Monate vor der mündlichen Verhandlung eingereicht worden, so dass die Beschwerdegegnerinnen ausreichend Zeit hatten, zu reagieren. Ferner verursache der Hauptantrag keine neue substantiellen Fragestellungen. Die Zulassung des Hauptantrags in das Verfahren entspreche somit der Verfahrensökonomie.
Art. 123(2) EPÜ
b) Grundlage für den Gegenstand von Anspruch 1 seien die ursprünglichen Ansprüche 1, 3, 6 und 8.
Art. 123(3) EPÜ
c) Gemäß dem geltenden Anspruch 1 sei die Verwendung der Komponenten (A), (B) und (D) zwingend, die der Komponente (C) nur optional. Anspruch 1 so zu lesen, dass der Begriff "gegebenenfalls" für die Kombination von (C) und (D) zuzuordnen ist, sei von dem Streitpatent nicht gestützt. Der Wortlaut des geltenden Anspruchs 1 stelle lediglich eine räumliche Umstellung der im erteilten Anspruch 1 angegebenen Merkmale (C) und (D). Somit stellten die vorgenommen Änderungen eine Einschränkung der erteilten Ansprüche dar.
Art. 83 EPÜ
d) Anspruch 1 sei so auszulegen, dass
- mindestens entweder OIT oder DCOIT als verkapseltes Biozid verwendet wird;
- der Gehalt an basischem Stickstoff gemäß Anspruch 1sich nicht auf den Gehalt an basischem Stickstoff in der Komponente (D) alleinbeziehe, sondern auf die Menge an Komponente (D), um einen solchen Gehalt in der Gesamtmasse zu erhalten (siehe Brief vom 16. Februar 2016, Punkt 2.2, ab Absatz 7). Diese Frage sei jedoch für den geltenden Hauptantrag nicht relevant.
e) In der Beschreibung sei eine Vielzahl an konkreten chemischen Verbindungen für die in den Ansprüchen genannten Komponenten (A) bis (D) aufgelistet. Unter anderem enthalten einige dieser Verbindungen auch basischen Stickstoff, d.h. Stickstoff mit einem freien protonierbaren Elektronenpaar, wie aus DW3 bis DW5 wohl bekannt. Die Nacharbeitung erfolge lediglich durch Auswahl und Mischen der jeweiligen Komponenten. Da die genaue Menge der konkret eingesetzten Verbindung bekannt ist, könne der Fachmann den basischen Stickstoffgehalt ohne weiteres bestimmen. Der Gehalt an basischem Stickstoff könne auch gemessen werden, wie in DW6 und DW7 dargelegt.
f) Die Frage, ob ein Dritter überprüfen könne, ob er innerhalb oder außerhalb des Anspruchsgegenstands liegt, sei eine Frage der Verletzung bzw. Klarheit, jedoch nicht der Ausführbarkeit.
g) Somit sei der Fachmann anhand der im Streitpatent angegebenen Informationen ggf. unter Zuhilfenahme seines Fachwissens ohne zumutbaren Aufwand in der Lage, die Erfindung nachzuarbeiten.
Rückzahlung der Beschwerdegebühr
h) Die Beschwerdeführerin sei durch die erst am Tag der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung vorgebrachte Fragestellung bzgl. der Definition und der Messmethode von "basischem Stickstoff" überrascht worden. Hätte sie von dieser Problematik früher Kenntnis gehabt, hätte sie in der mündlichen Verhandlung eine breitere sachliche Argumentation vorbringen können, was den Widerruf des Patents und damit die Einlegung der Beschwerde überflüssig gemacht hätte.
XIII. Die für die vorliegende Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdegegnerinnen lassen sich wie folgt zusammenfassen.
Zulassung des Hauptantrags
a) Die Beschwerdeführerin hätte einen solchen Antrag früher, z.B. in direkter Antwort auf den Bescheid, einreichen können. Einwände bzgl. Art. 123(2) EPÜ seien bereits in Antwort auf die Beschwerdebegründung erhoben worden, welche bis zum Einreichen des Schreibens vom 16. Februar 2016 ungeantwortet geblieben seien. In T 1168/08 wurde entschieden, dass das verspäte Einreichen eines Antrags in Reaktion auf eine Mitteilung der Kammer nicht zwingend zulässig sei.
Art. 123(2) EPÜ
b) Während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer hat die Beschwerdegegnerin 1 ausdrücklich bekannt gegeben, dass sie keine Einwände gegen das Vorliegen der Voraussetzungen nach Art. 123(2) EPÜ habe.
Art. 123(3) EPÜ
c) Der erteilte Anspruch 1 sei so zu lesen, dass der Begriff "gegebenenfalls" der Kombination von (C) und (D) zuzuordnen ist. Somit fielen vernetzbare Massen, herstellbar unter Verwendung der Komponenten (A), (B) und (D), aber die keine Komponente (C) enthalten, unter den Gegenstand des geltenden Anspruchs 1, aber nicht unter den Gegenstand des erteilten Anspruchs 1;
d) Gemäß dem erteilten Anspruch 1 sollen die vernetzbaren Massen unter Verwendung von mehreren Bioziden herstellbar sein (siehe Plural: "Biozide"). Sollte der Argumentation der Beschwerdeführerin gefolgt werden, dass der Wortlaut des geltenden Anspruchs 1 die Verwendung von nur einem Biozid erlaubt, sei der Schutzbereich des Patents durch die vorgenommenen Änderungen erweitert worden.
Art. 83 EPÜ
e) Anspruch 1 sei so auszulegen, dass mehrere verkapselte Biozide verwendet werden müssen. Das Streitpatent enthalte keine Information, was "verkapselte Biozide" bedeutet, insbesondere wenn mehrere Biozide verwendet werden (muss jedes Biozid einzeln verkapselt sein oder müssen beide Biozide zusammen verkapselt sein?). Die Bedeutung von "verkapselt" sei ferner im Streitpatent nicht angegeben (muss es eine durchgehende Umhüllung sein?). Auch gebe das Patent keine Information, wie der Fachmann vorgehen solle, um sicher zu sein, dass die vernetzbaren Massen "verkapselte Biozide" tatsächlich enthalten. Somit wisse der Fachmann nicht, wie er mit Sicherheit vernetzbare Massen gemäß Anspruch 1 vorbereiten kann;
f) Es gebe, wie z.B. aus DW3 und DDD16-DD17 ersichtlich, unterschiedliche Definitionen des Begriffs "basischer Stickstoff" und unterschiedliche Messmethoden für seine Bestimmung, welche nicht zu den gleichen Ergebnissen führen;
g) Die oben angesprochene Mehrdeutigkeit bzgl. der Definition und der Messmethode für den Gehalt an basischem Stickstoff führe dazu, dass es nicht möglich sei, den Gehalt an basischem Stickstoff der Komponente (D) einer beliebigen Zusammensetzung zu bestimmen, insbesondere wenn die Komponenten (A) und ggf. (C) auch basischen Stickstoff enthalten. Aus den gleichen Gründen sei es nicht möglich, dass der von den Beschwerdeführerin betrachtete technische Effekt auf der gesamten Anspruchsbreite vorhanden ist;
h) Das Streitpatent enthalte nicht genug Informationen, um die Beispiele 1 und 2 nachzuarbeiten, z.B. in Bezug auf
- die gemäß Anspruch 1 zwingende Anwesenheit von mehreren verkapselten Bioziden,
- die Vorbereitung des Haftvermittlers, wobei davon auszugehen sei, dass er auch basischen Stickstoff enthält,
- die Bestimmung des Gehalts an basischem Stickstoff gemäß Merkmal (D) von Anspruch 1.
XIV. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Form auf der Grundlage des Hauptantrags, hilfsweise, auf der Grundlage eines der Hilfsanträge 1 bis 3, sämtliche Anträge eingereicht mit Schreiben vom 16. Februar 2016.
Sie beantragte weiterhin, die Angelegenheit an die erste Instanz zurückzuverweisen, falls die Beschwerdekammer der Auffassung ist, dass einer der Anspruchssätze den Anforderungen der Artikel 83, 84 sowie 123(2)(3) EPÜ entspricht.
Sie beantragte außerdem die Rückzahlung der Beschwerdegebühr.
XV. Die Beschwerdegegnerinnen 1 und 2 (Einsprechenden 1 und 2) beantragten die Zurückweisung der Beschwerde.
Entscheidungsgründe
1. Die ordnungsgemäß geladene Beschwerdeführerin 2 war bei der mündlichen Verhandlung nicht anwesend. Die mündliche Verhandlung wurde gemäß Regel 115(2) EPÜ fortgesetzt. Während der Verhandlung wurde die Beschwerdeführerin so behandelt, als stützte sie sich lediglich auf ihr schriftliches Vorbringen (Art. 15(3) VOBK).
Hauptantrag
2. Zulässigkeit des Hauptantrags
2.1 Gemäß Art. 13(1) VOBK steht es im Ermessen der Kammer, Änderungen des Vorbringens der Beschwerdeführerin nach Einreichung ihrer Beschwerdebegründung zuzulassen, wobei insbesondere die Komplexität des Vorbringens, der Verfahrensstand und die Verfahrensökonomie zu berücksichtigen sind. Ferner sind nach Art. 13(3) VOBK Änderungen des Vorbringens nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung nicht zuzulassen, wenn sie Fragen aufwerfen, deren Behandlung der Kammer oder dem anderen Beteiligten ohne Verlegung der mündlichen Verhandlung nicht zuzumuten ist.
2.2 Der Hauptantrag wurde erst mit Schreiben vom 16. Februar 2016 eingereicht, also mehr als drei Jahre nach Einreichung der Beschwerdebegründung, ca. sieben Monate nach Erhalt des Bescheids der Kammer nach Art. 15(1) VOBK und ca. zwei Monate vor der mündlichen Verhandlung vor der Kammer. Somit liegt seine Zulassung im Ermessen der Kammer (Art. 13(1) VOBK) und es ist zu prüfen, ob seine Zulassung eine Verlegung der mündlichen Verhandlung verursachen würde (Art. 13(3) VOBK).
2.3 a) Unter Punkt 5.2 und 5.3 des Bescheids der Kammer wurde die Frage zum ersten Mal im Verfahren aufgeworfen, ob die dann geltenden Anträge die Erfordernisse des Art. 123(2) EPÜ erfüllen, wenn die geltenden Ansprüche so definiert sind, dass es nicht mehr erforderlich ist, dass die beanspruchten Massen, die unter Verwendung von mindestens (A) und (B) hergestellt "auf der Basis von Organosiliciumverbindungen" sind, wie es für den ursprünglichen Anspruch 3 (durch den Rückbezug auf Anspruch 1) den Fall war (siehe Absätze III und V).
Ferner wurde auch zum ersten Mal die Frage gestellt, ob aus dem Wortlaut des Anspruchs 1 der jeweiligen geltenden Anträge zwangsläufig resultierte, dass die hergestellten Massen "verkapselte Biozide" enthalten, was von Ansprüchen 1 und 3 wie ursprünglich eingereicht definiert wurde.
Aus diesen Gründen enthielt die Mitteilung der Kammer eine vorläufige Meinung, der nicht ausschließlich die von den Parteien angesprochenen Punkte und deren Argumente zugrunde lagen. Somit gab es für die Beschwerdeführerin, bevor Sie die Mitteilung der Kammer erhalten hat, keine Veranlassung, sich mit diesen "neuen" Fragestellungen zu beschäftigen und darauf zu reagieren. Die Tatsache, dass es auch andere Einwände gab, insbesondere bzgl. Art. 123(2)(3) EPÜ, welche in der Erwiderung an die Beschwerdebegründung von den Beschwerdegegnerinnen vorgebracht worden waren, ändert an dieser Sachlage nichts. Das Einreichen eines neuen Antrags wäre auf jeden Fall erforderlich gewesen, sobald die Beschwerdeführerin anerkannt hat, dass die im Bescheid gestellten neuen Fragestellungen für die Aufrechterhaltung des Streitpatents hoch relevant waren. Somit ist die Kammer der Auffassung, dass im vorliegenden Fall die im Hauptantrag vorgenommenen Änderungen durch die Entwicklung während des Verfahrens mindestens teilweise bedingt waren.
b) In T 1168/08 ließ die Kammer die Begründung für die verspätete Einreichung der neuen Anträge - nämlich dass sie als Reaktion auf die Mitteilung der Kammer eingereicht worden seien - nicht gelten, weil die Argumentation in der vorläufigen Stellungnahme der Kammer inhaltlich mit der Argumentation des Beschwerdegegners in seiner Erwiderung auf die Beschwerdebegründung übereinstimmte.
Wie unter Punkt a) dargelegt, enthielt im vorliegenden Fall die Mitteilung der Kammer mindestens zwei für die Beschwerdeführerin neue Fragestellungen bzgl. Art. 123(2) EPÜ. Somit ist die vorliegende Sachlage eine andere als in T 1168/08, so dass die dort getroffenen Schlussfolgerungen für den vorliegenden Fall nicht zutreffend sind.
2.4 Im vorliegenden Fall wurde ferner berücksichtigt, dass der Hauptantrag prima facie einen erfolgsversprechenden Versuch, alle die im Bescheid der Kammer identifizierten Einwände auszuräumen, darstellte. Darüber hinaus wurde in Betracht gezogen, dass die Beschwerdeführerin in ihrem Brief vom 16. Februar 2016, also zusammen mit dem Einreichen des Hauptantrags, eine ausführliche Begründung mitgeliefert hatte, warum der geltende Hauptantrag die Bedingungen der Art. 83, 84, 123(2) und 123(3) EPÜ erfüllte, so dass sowohl die Beschwerdegegnerinnen, als auch die Kammer sich rechtzeitig vorbereiten konnten. Was dieses betrifft, wurde insbesondere von den Beschwerdegegnerinnen nicht gezeigt, dass der Hauptantrag zu einer neuen Sachlage führt, so dass die Kammer zum Schluss gekommen ist, dass die durchgeführten Änderungen den bis dahin geltenden Diskussionsrahmen nicht ausgedehnt haben.
2.5 Zwar hätte der Hauptantrag von der Beschwerdeführerin vorher eingereicht werden können, insbesondere in einer kürzeren Zeit nach Erhalt des Bescheids der Kammer (anstatt von erst nach ca. sieben Monaten). Da der Hauptantrag ca. 2 Monate vor dem geplanten Tag der mündlichen Verhandlung eingereicht wurde, hatten die Beschwerdegegnerinnen jedoch genug Zeit, seinen Gegenstand zu studieren und zu reagieren.
2.6 Es wurde im vorliegenden Fall nicht gezeigt, dass die Änderungen des Vorbringens der Beschwerdeführerin Fragen aufwerfen, deren Behandlung der Kammer oder der Beschwerdegegnerinnen ohne Verlegung der mündlichen Verhandlung nicht zuzumuten ist. Somit gab es keinen Grund, den Hauptantrag gemäß Art. 13(3) VOBK nicht zuzulassen.
2.7 Aus diesen Gründen wurde der Hauptantrag zugelassen (Art. 13(1) VOBK).
3. Art. 123(2) EPÜ
3.1 Wie in der Entscheidung G 2/10 (ABl. EPA 2012, 376) dargelegt (siehe insbesondere die Punkte 4.5.1, 4.5.2 und 4.5.4 der Entscheidungsgründe), ist für die Frage, ob eine Änderung ein Verstoß gegen Art. 123(2) EPÜ darstellt, zu prüfen, ob die durchgeführte Änderung dazu führt, dass der Fachmann neue technische Informationen erhält, die er der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens nicht unmittelbar und eindeutig entnehmen würde. Ob der Fachmann neue Informationen erhält, hängt davon ab, wie er den geänderten Anspruch verstehen würde und ob er unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens diesen Gegenstand als zumindest implizit in der Anmeldung offenbart ansehen würde.
3.2 Anspruch 1 entspricht der Kombination der ursprünglichen Ansprüche 3, 6 und 8, wobei der Begriff "gegebenenfalls" vor der Komponente (D) gestrichen wurde und die Komponenten (C) und (D) räumlich ausgetauscht wurden.
3.3 Die vernetzbaren Massen gemäß dem ursprünglichen Anspruch 3 waren dadurch gekennzeichnet, dass sie unter Verwendung von zwei obligatorischen Komponenten (A) und (B) und zwei optionalen Komponenten (C) und (D) herstellbar waren, wobei die Verwendung anderer Komponenten nicht ausgeschlossen war.
Durch die jetzige Formulierung ist der Gegenstand des geltenden Anspruchs 1 auf vernetzbare Massen, die herstellbar unter Verwendung von drei obligatorischen Komponenten (A), (B) und (D) und einer optionalen Komponente (C), wobei andere Komponenten nicht ausgeschlossen sind, gerichtet.
Obwohl die Kombination der ursprünglichen Ansprüche 3, 6 und 8 in der ursprünglichen Offenbarung nicht explizit offenbart wurde, war sie durch den Rückbezug des ursprünglichen Anspruchs 6 auf "einen oder mehrere der Ansprüche 1 bis 5" und des ursprünglichen Anspruchs 8 auf "eine oder mehrere der Ansprüche 1 bis 7" mindestens implizit angedeutet.
Es ist ferner aus der Passage auf Seite 2, Zeilen 25-33 der ursprünglichen Offenbarung zu entnehmen, dass die vernetzbaren Massen gemäß dem ursprünglichen Anspruch 3, d.h. wofür sowohl die Komponente (C) als auch die Komponente (D) optional waren, besonders bevorzugt waren. Auf Seite 18, Zeilen 21-25 der ursprünglichen Offenbarung ist ferner angegeben, dass die Verwendung von (D) in einer Menge gemäß dem ursprünglichen Anspruch 8 auch bevorzugt war.
Gemäß Seite 7, Zeilen 23-24 der ursprünglichen Offenbarung sind ferner die im ursprünglichen Anspruch 6 genannten Biozide OIT und DCOIT besonders bevorzugt. Dieses widerspiegelt sich auch dadurch, dass OIT in den erfindungsgemäßen Beispiele der ursprünglichen Offenbarung verwendet wird (Seite 25, Zeile 24; Seite 27, Zeile 6; Seite 24, Zeile 30).
Somit ist festzustellen, dass im vorliegenden Fall die ursprüngliche Offenbarung zum jetzt beanspruchten Gegenstand hinweist. Ferner ist es im vorliegenden Fall weder ersichtlich noch wurde es gezeigt, dass der jetzt beanspruchte Gegenstand im Vergleich zu der ursprünglichen Offenbarung dem Fachmann neue Informationen liefert.
3.4 Somit erfüllt der Hauptantrag die Erfordernisse des Art. 123(2) EPÜ.
4. Art. 123(3) EPÜ
4.1 Nach Art. 123(3) EPÜ darf das europäische Patent nicht in der Weise geändert werden, dass der Schutzbereich erweitert wird. Ferner ist gemäß Art. 69(1), Satz 2 EPÜ und dem Protokoll über die Auslegung des Art. 69 EPÜ der Schutzbereich des europäischen Patentes im Lichte der Beschreibung auszulegen (Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPAs, 7. Auflage, 2013, II.E.2.1.1).
4.2 Die Parteien waren nicht einig, wie das Merkmal (B) gemäß dem erteilten Anspruch 1 und dem geltenden Anspruch 1 ausgelegt werden soll, insbesondere ob dadurch definiert wird, dass mehrere verkapselte Biozide zur Herstellung der beanspruchten Massen zwingend verwendet werden müssen. Ferner wurde es diskutiert, ob der Wortlaut des geltenden Anspruchs 1 definiert, dass es sich bei der Komponente (B) entweder um "OIT oder DCOIT" oder um "OIT und DCOIT" handelt.
4.2.1 a) Sowohl in der ursprünglichen Offenbarung, als auch im Streitpatent oder im geltenden Hauptantrag, wird der beanspruchte Gegenstand im Plural definiert ("Vernetzbare Massen...") und für die Komponente (B) sowohl ein Plural ("verkapselte Biozide") als auch ein Singular ("bei dem Biozid") verwendet.
Zusätzlich wird im ursprünglichen Anspruch 7, welcher dem geltenden Anspruch 4 und dem erteilten Anspruch 6 entspricht, definiert, dass die Komponente (B) "in Mengen von..." (also Plural) enthalten, was hindeutet konnte, dass die Komponente (B) mehrere Verbindungen enthält. Jedoch wird für die Komponente (D), welche als Plural definiert wird ("Verbindungen"), der Wortlaut "in einer solchen Menge" (also Singular) verwendet (ursprünglicher Anspruch 8; erteilter Anspruch 1; Anspruch 1 des Hauptantrags).
Darüber hinaus kann man den in den Ansprüchen vorhandenen Wortlaut "verkapselte Biozide" nicht nur als ein Plural, sondern auch lediglich als eine sprachliche Gestaltung, welche z.B. durch die Definition des Anspruchsgegenstands im Plural ("vernetzbare Massen") ausgewählt wurde, betrachten. Die letztere Interpretation würde auch die Verwendung eines einzigen Biozids zulassen. Was diese Interpretation untermauert, ist, dass ein verkapseltes Biozid als feinteiliger Stoff vorhanden ist, so dass die beanspruchten Massen zwangsläufig mehrere Biozidteilchen (also Plural) enthalten müssen.
b) Ein Plural ("Biozide") wird für die Komponente (B) auch in der ganzen Beschreibung verwendet (Seite 1, Zeile 4; Seite 2, Zeilen 5 und 29; Seite 6, Zeile 29; Seite 7, Zeilen 11 und 26; Seite 8, Zeile 2).
Jedoch wurden die Beispiele 1 und 2, welche mit den Vergleichsbeispielen 1-2 verglichen werden und somit mindestens implizit als gemäß der Erfindung anzusehen sind, eindeutig mit einem einzigen Biozid durchgeführt (nämlich OIT: siehe Seite 24, Zeile 28; Seite 25, Zeile 24; Seite 27, Zeile 6).
c) Unter solchen Umständen stellt der Wortlaut der Komponente (B) des geltenden Anspruchs 1, sowie des erteilten Anspruchs 4 und des ursprünglichen Anspruchs 6, sowohl per se, als auch nach den Ansprüchen oder der Beschreibung nicht klar, ob ein oder mehrere Biozid(e) zur Herstellung der beanspruchten Massen zwingend zu verwenden ist/sind.
Aus dem gleichen Grund ist auch nicht klar, ob es sich bei der Komponente (B) entweder um "OIT oder DCOIT" oder um "OIT und DCOIT" handelt.
Daher sollte das Merkmal (B) des geltenden Anspruchs 1, sowie des erteilten Anspruchs 1 oder des ursprünglichen Anspruchs 7, in seiner breitesten Sinne gelesen werden, was im vorliegenden Fall bedeutet, dass die so definierten Massen unter Verwendung von mindestens OIT oder DCOIT in verkapselter Form, ggf. zusammen mit weiteren verkapselten Bioziden (wobei OIT oder DCOIT nicht ausgeschlossen sind) hergestellt werden müssen. In anderen Worten wird nur ein Biozid, welches OIT oder DCOIT sein muss, zwingend verwendet, wobei der Plural "verkapselte Biozide" im Anspruch sowohl vom Streitpatent als vom geltenden Hauptantrag so gelesen wird, dass es sich lediglich um eine sprachliche Gestaltung handelt.
4.2.2 Wie im vorherigen Absatz dargelegt, kann zur Herstellung der beanspruchten Massen gemäß dem geltenden Hauptantrag, als auch gemäß den erteilten Ansprüchen nur ein Biozid, welches OIT oder DCOIT sein muss, verwerdet werden. Somit führen die im Merkmal (B) von Anspruch 1 des Streitpatents durchgeführten Änderungen, entgegen der Meinung der Beschwerdegegnerinnen, zu keiner Erweiterung des Schutzbereiches.
4.3 Von den Beschwerdegegnerinnen wurde der Einwand vorgebracht, dass der erteilte Anspruch 1 so zu lesen ist, dass der Begriff "gegebenenfalls" der Kombination von (C) und (D) zuzuordnen ist, was dazu führen würde, dass entweder (C) zusammen mit (D) oder keine der Komponenten (C) und (D) zur Herstellung der Massen gemäß dem erteilten Anspruch 1 verwendet werden soll. Insbesondere würde der erteilte Anspruch 1 Ausführungsformen, bei denen nur (D) aber ohne (C) (und nur (C) aber ohne (D)) nicht abdecken.
4.3.1 Jedoch ergibt sich eine solche Interpretation aus dem Wortlaut des Anspruchs 1 per se nicht eindeutig. Die Beschwerdegegnerinnen haben auch nicht gezeigt, dass eine solche Auslegung von dem Inhalt der Patentspezifikation gestützt ist. Insbesondere wird an keiner Stelle angegeben, dass nur die Kombination von (C) und (D) (in Unterschied zu entweder (C) oder (D)) optional ist.
Darüber hinaus, durch die räumliche Anordnung des Begriffs "gegebenenfalls" und der Komponenten (C) und (D), kann der erteilte Anspruch 1 auch so gelesen werden, dass der Begriff "gegebenenfalls" nur der Komponente (C) zuzuordnen ist. Es ist im vorliegenden Fall besonders von Bedeutung, dass diese Auslegung des erteilten Anspruchs 1 die einzige ist, die von der Patentspezifikation gestützt ist. Aus dem Absatz 83 ergibt sich z.B., dass in einer bevorzugten Ausführungsform nur die Komponenten (A), (B) und (D) zwingend verwendet werden, während u.a. die Komponente (C) optional ist. Auch aus der Formulierung der Absätze 45, 46 und 55 ergibt sich, dass die Komponente (C) optional ist (siehe Begriff "gegebenenfalls"), während die Komponente (D), aufgrund der Abwesenheit des Begriffs "gegebenenfalls" als zwingend anwesend zu verstehen ist.
Aus diesen Gründen wurde die von den Beschwerdegegnerinnen vorgeschlagene Auslegung des erteilten Anspruchs 1 von der Kammer nicht akzeptiert. Im Gegenteil ist die Kammer der Auffassung, unter Berücksichtigung von Art. 69(1), Satz 2 EPÜ und dem Protokoll über die Auslegung des Art. 69 EPÜ, dass sich der Schutzumfang des erteilten Patents auf vernetzbare Massen erstreckt, die herstellbar unter Verwendung von den Komponenten (A), (B), (D) und gegebenenfalls (C) sind.
4.3.2 Die gemäß geltendem Anspruch 1 definierten Massen sind im Vergleich zu den Massen gemäß erteiltem Anspruch 1 zusätzlich dadurch definiert, dass
a) sie "auf der Basis von Organosiliciumverbindungen" sein müssen;
b) sie "verkapselte Biozide enthalten" müssen;
c) für die Komponente (B) angegeben wird, dass "es sich bei dem Biozid um 2-n-Octyl-4-isothiazolin-3-on (OIT) und 4,5-Dichloro-2-n-octyl-4-isothiazolin-3-on (DCOIT) handelt";
d) für die Komponente (D) angegeben wird, dass "Komponente (D) in einer solchen Menge eingesetzt wird, dass der Gehalt an basischem Stickstoff 0,01 bis 5 Gewichtsteile, bezogen auf 100 Gewichtsteile Organosiliciumverbindung (A), beträgt".
Jede dieser Änderungen a) bis d) stellt eine Einschränkung des Gegenstands des erteilten Anspruchs 1 dar.
4.3.3 Aus diesen Gründen fallen vernetzbare Massen, welche unter Verwendung von (A), (B), (D) aber ohne (C) hergestellt werden, sowohl unter den Gegenstand des erteilten Anspruchs 1, als auch des geltenden Anspruchs 1. Der Einwand der Beschwerdegegnerinnen wird daher zurückgewiesen.
4.4 Somit erfüllt der Hauptantrag die Erfordernisse des Art. 123(3) EPÜ.
5. Art. 84 EPÜ
In Ihrem Schreiben vom 1. August 2012 (Seite 5) hatte die Beschwerdegegnerin 1 einen Einwand gemäß Art. 84 EPÜ in Bezug auf die Verwendung eines Plurals und eines Singulars für das/die Biozid/e gemäß Merkmal (B) der dann geltenden Anträgen erhoben.
Dieser Einwand, mit welchem die Beschwerdegegnerin 2 einverstanden war (Brief vom 6. September 2012, Absatz 3), betrifft gleichermaßen das Merkmal (B) von Anspruch 1 des geltenden Hauptantrags.
In dem Bescheid der Kammer (Punkt 7.2) wurde jedoch die Frage gestellt, ob der von den Beschwerdegegnerinnen vorgebrachte Einwand bzgl. Art. 84 EPÜ auf die vorgenommene Änderung zurückzuführen ist (wie aus der Entscheidung G 3/14 erforderlich).
Die Beschwerdeführerin 2 hat auf diese Frage nicht reagiert. Während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer hat die Beschwerdegegnerin 1 erklärt, dass sie zwar den Anspruch 1 des jetzt geltenden Hauptantrags als unklar ansieht, aber die Unklarheiten nicht auf die im erteilten Patent vorgenommenen Änderungen zurückzuführen sind, so dass die Frage der Klarheit nach Art. 84 EPÜ nicht angesprochen werden konnte (siehe Protokoll der mündlichen Verhandlung).
Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass kein Einwand nach Art. 84 EPÜ von den Beschwerdegegnerinnen erhoben wurde, welcher auf die vorgenommene Änderung zurückzuführen ist (siehe G 3/14).
Die Kammer selbst sieht auch keinen Grund, anderer Meinung in Bezug auf Art. 84 EPÜ zu sein.
6. Art. 83 EPÜ
6.1 Gemäß Art. 83 EPÜ ist die Erfindung so deutlich und vollständig zu offenbaren, dass ein Fachmann sie ausführen kann. Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist diese Vorschrift so zu verstehen, dass der im Anspruch definierte Gegenstand anhand der Lehre der Patentschrift und unter Mithilfe des allgemeinen Fachwissens ohne unzumutbaren Aufwand, wozu auch die Durchführung üblicher Versuche gehört, vollständig, d.h. innerhalb des gesamten beanspruchten Bereiches, ausführbar sein muss.
6.2 Im vorliegenden Fall ist somit zu klären, ob der Fachmann dem Patent ggf. mit Hilfe seines allgemeinen Fachwissens genügend Informationen entnehmen kann, um die beanspruchten
- vernetzbaren Massen gemäß Anspruch 1;
- Formkörper gemäß Anspruch 5 (rückbezogen auf Anspruch 1);
herzustellen.
6.3 Diesbezüglich werden unter anderem folgende allgemeine Informationen im Streitpatent offenbart:
- die notwendig zu verwenden Komponenten (A), (B) und (D) werden in Absätze 12-27, 28-44 und 55-71 beschrieben;
- die ggf. zu verwenden Komponenten (C) sowie andere optionale Komponenten werden in Absätze 45-54 und 72-82 beschrieben;
- alle Bestandteile der zur Bereitung der Massen nötigen Komponenten können gemäß Absatz 85 miteinander vermischt und gemäß Absatz 87 vernetzt werden;
- konkrete Ausführungsformen sind in den Beispielen 1-2 angegeben.
6.4 Wie im Absatz 4.3 dargelegt, definiert das Merkmal (B) von Anspruch 1, dass die beanspruchten Massen unter Verwendung von mindestens OIT oder DCOIT in verkapselter Form, ggf. zusammen mit weiteren verkapselten Bioziden (wobei OIT oder DCOIT nicht ausgeschlossen sind), hergestellt werden. Somit liefert das Patent genügend Informationen, um zu identifizieren, welche Komponente(n) gemäß Merkmal (B) von Anspruch 1 eingesetzt werden können.
6.5 Die Beschwerdegegnerinnen haben in Bezug auf Art. 83 EPÜ argumentiert, dass es unterschiedliche Definitionen des Begriffs "basischer Stickstoff" und unterschiedliche Messmethoden für seine Bestimmung, welche nicht zu den gleichen Ergebnissen führen, gibt.
6.5.1 In Anbetracht des Inhalts der Dokumente DW3 (Absätze 3.2.1 und 3.2.2), DW6, DW7, DD16 (Spalte 1, Zeilen 52-53) und DD17 (Spalte 1, Zeilen 44-46) ist den Beschwerdegegnerinnen zuzustimmen. Jedoch haben die Beschwerdegegnerinnen nicht gezeigt, inwiefern diese Mehrdeutigkeit bzgl. der Definition und der Messmethode dazu führt, dass es für den Fachmann nicht möglich ist, geeignete Komponenten (A), (B), (D) und ggf. (C) zu identifizieren, um die beanspruchten vernetzbaren Massen vorzubereiten bzw. um die beanspruchten Formkörper herzustellen. Gemäß der Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA reicht es nicht notwendigerweise aus, zu zeigen, dass der Fachmann nicht weiß, ob er innerhalb oder außerhalb des Anspruchs arbeitet, um die nach Art. 83 EPÜ vorgeschriebene ausreichende Offenbarung zu verneinen (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 7. Auflage, 2013, II.C.7.2).
Da dieser Einwand durch Fakten nicht belegt ist, hat er die Kammer nicht überzeugt. Jedoch ist anzumerken, dass für die Auslegung von Anspruch 1 das Merkmal "Gehalt an basischem Stickstoff" in seiner breitesten Sinne zu lesen ist.
6.5.2 Die Beschwerdegegnerinnen haben ferner argumentiert, dass die oben angesprochene Mehrdeutigkeit bzgl. der Definition und der Messmethode für den Gehalt an basischen Stickstoff dazu führt, dass es nicht möglich ist, dass der von den Beschwerdeführerin betrachtete technische Effekt auf der gesamten Anspruchsbreite vorhanden ist.
Jedoch stellt ein solcher Effekt kein Merkmal der geltenden Ansprüche dar. Somit kann dieser Einwand, wenn überhaupt, nur für die Frage der erfinderischen Tätigkeit bzgl. der tatsächlich gelösten Aufgabe relevant sein, aber nicht für die Frage der ausreichenden Offenbarung.
6.6 Die Beschwerdegegnerin 1 hat während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer vorgebracht, dass das Streitpatent nicht genug Informationen enthalte, um die Beispiele 1 und 2 nachzuarbeiten.
6.6.1 Die Beschwerdegegnerin 1 war u.a. der Meinung, dass die Beispiele 1 und 2 dem Gegenstand des Anspruchs 1 nicht entsprechen, weil sie mit nur einem Biozid durchgeführt wurden.
Wie im Absatz 6.4 dargelegt, ist die Kammer zum Schluss gekommen, dass der geltende Anspruch 1 die Verwendung von mindestens einem verkapselten Biozid, wobei mindestens eines davon OIT oder DCOIT sein muss, beinhalte. Da die Beispiele 1 und 2 des Streitpatents mit verkapseltem OIT durchgeführt wurden (Seite 9, Zeilen 36, 39-40 und 56; Seite 10, Zeile 27), greift das Argument der Beschwerdegegnerin 1 nicht zu.
6.6.2 Der Einwand der Beschwerdegegnerin 1 bzgl. der Bedeutung des Begriffs "verkaspselte Biozide" hängt damit zusammen, ob der Fachmann in der Lage ist, zu wissen, ob er außerhalb oder innerhalb des Anspruchsschutzbereichs arbeitet, was eine Frage der Klarheit nach Art. 84 EPÜ ist. Das gleiche gilt für den Einwand bzgl. der Bedeutung des Begriffs "verkapselt", insbesondere im Fall der Verwendung von mehreren Bioziden. Was dieses betrifft, hat die Beschwerdegegnerin 1 insbesondere weder durch Beweismitteln gezeigt noch mit Argumenten glaubhaft gemacht, dass die Verwendung von mehr als einem Biozid, anstatt von nur von einem Biozid, wie es in den Beispielen 1-2 des Streitpatents gemacht wurde, mit irgendwelcher Schwierigkeit in der Vorbereitung einer vernetzbaren Masse verbunden ist. Somit ist davon auszugehen, dass die gleiche Prozedur wie in den Beispielen 1-2 auch für die Vorbereitung von vernetzbaren Massen unter Verwendung von mehreren Bioziden geeignet ist.
6.6.3 Während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer hat die Beschwerdegegnerin 1 eingewandt, dass es nicht möglich sei, die Beispiele nachzubereiten, weil es nicht klar sei, wie der Haftvermittler vorbereitet wurde. Ferner sei es nicht klar, ob der Haftvermittler basischen Stickstoff aufweist (und wenn ja, wie viel), so dass man den Gehalt an basischem Stickstoff gemäß Merkmal (D) von Anspruch 1 nicht bestimmen konnte.
a) Im Beispiel 1 des Streitpatents wird ein Haftvermittler verwendet, welcher "durch Umsetzung von 1 Teil Aminopropyltriethoxsilan mit 1 Teil Methyltriethoxsilan-Hydrolisat mit einem Ethoxygehalt von 37%, und 4,5 g minopropyltrimethoxysilan" (Seite 9, Zeilen 49-52) hergestellt wird. Zwar wird die genaue Synthese des Haftvermittlers im Streitpatent nicht angegeben. Jedoch hat die Beschwerdegegnerin nicht gezeigt, dass es nicht möglich ist, den Haftvermittler anhand üblicher Labormethoden und/oder gängiger Verfahrensbedingungen herzustellen. Unter solchen Umstände wurde es nicht gezeigt, dass der Haftvermittler unter Mithilfe des allgemeinen Fachwissens und ohne unzumutbaren Aufwand vorzubereiten ist.
b) Was die Ermittlung des Gehalts an basischem Stickstoff betrifft, hat die Beschwerdeführerin unter Punkt 4 der Beschwerdebegründung gezeigt, dass er sich direkt und auf einfache Weise über den Gehalt an basischem Stickstoff jeder zur Herstellung der vernetzbaren Massen verwendeten "basischen Stickstoff aufweisenden Verbindungen" ergibt. Es ist ferner glaubhaft, wie von der Beschwerdeführerin argumentiert, dass Messmethoden für die Bestimmung des Gehalts an basischem Stickstoff, welcher ein üblicher Parameter ist (siehe DW4, Anspruch 1 und DW5, Anspruch 13, die keine Information bzgl. der Definition von "basischem Stickstoff" angegeben; DW5 ist sogar im Namen der Beschwerdegegnerin 2), wohl bekannt sind, wie aus DW 6 und DW7 auch ersichtlich. Unter solchen Umständen ist die Kammer der Auffassung, dass der Fachmann unter Mithilfe seines allgemeinen Fachwissens in der Lage ist, zu identifizieren, ob eine zur Herstellung einer vernetzbaren Masse gemäß Anspruch 1 verwendete Komponente "basischen Stickstoff" aufweist und den Gehalt an solchem basischen Stickstoff zu bestimmen.
Somit kann der Fachmann bestimmen, wie viel an Komponente (D) einzusetzen ist.
6.6.4 Obwohl nicht alle Details des Herstellungsverfahrens der in den Beispielen hergestellten vernetzbaren Massen im Streitpatent angegeben sind (z.B. Reaktionstemperatur, Zinnkatalysatorvorbereitung), ist davon auszugehen, dass sie anhand der in den Beispielen 1 und 2 angegebenen Informationen und unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens hergestellt werden können.
6.7 Ob der Fachmann in der Lage ist, den Gehalt an basischem Stickstoff einer beliebigen Zusammensetzung zu bestimmen, wie in der Entscheidung angesprochen (Punkt 4.3.2), ist, nach Meinung der Kammer lediglich eine Frage der Verletzung und nicht der Offenbarung. Die Frage der Ausführbarkeit hängt damit zusammen, ob der Fachmann in der Lage ist, eine Erfindung nachzuarbeiten, d.h. die beanspruchten vernetzbaren Massen und Formkörper vorzubereiten bzw. herzustellen. Dass dieses der Fall ist, wurde, wie oben erklärt, von den Beschwerdegegnerinnen nicht gezeigt.
6.8 Aus diesen Gründen ist festzustellen, dass es nicht gezeigt wurde, dass es anhand der im Streitpatent angegebenen Informationen nicht möglich ist, die beanspruchten Massen und Formkörper vorzubereiten. Somit erfüllt der Hauptantrag die Erfordernisse des Art. 83 EPÜ.
7. In der Entscheidung wurden die Einspruchsgründe nach Art. 100(a) EPÜ (Neuheit und erfinderische Tätigkeit) nicht behandelt. Somit findet die Kammer es angebracht, die Sache zur weiteren Behandlung auf der Grundlage des mit Schreiben vom 16. Februar 2016 eingereichten Hauptantrags gemäß Art. 111(1) EPÜ zurückzuverweisen.
8. Im Rahmen der Zurückverweisung könnte sich die Frage stellen, wie im Schreiben von 16. Februar 2016 (Seite 3: Punkt 2.2, ab dem siebten Absatz) von der Beschwerdeführerin argumentiert, ob es sich bei dem im Anspruch 1 angegebenen Gehalt an basischem Stickstoff von 0.01 bis 5 Gewichtsteile "nicht nur um den Gehalt an basischem Stickstoff in der Komponente (D), sondern um den Gehalt an basischem Stickstoff in der gesamten vernetzbaren Masse, d.h. in allen Komponenten zusammen, bezogen auf 100 Gewichtsteile Organosiliciumverbindung (A) handelt". Es könnte zu beantworten sein, ob es einen Grund gibt, von dem an sich eindeutigen Wortlaut des Anspruchs 1 abzuweichen, d.h., dass der Gehalt von 0.01 bis 5 Gewichtsteile den Gehalt an basischem Stickstoff bzgl. der unter der Komponente (D) definierten "basischen Stickstoff aufweisende Verbindung" definiert ist (wie z.B. andere Passagen des Streitpatents, die auf eine andere Auslegung hindeuten).
9. Rückzahlung der Beschwerdegebühr
9.1 Dem Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr kann nur stattgegeben werden, wenn i) der Beschwerde stattgegeben wird und ii) ein wesentlicher Verfahrensmangel vorliegt (Regel 103 EPÜ).
9.2 Die Beschwerdeführerin argumentierte, dass sie durch die erst am Tag der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung vorgebrachte Fragestellung bzgl. der Definition und der Messmethode von basischem Stickstoff überrascht wurde.
Auch wenn es aufgrund der in der Akte vorhandenen Informationen scheint, dass diese Frage zum ersten Mal während der mündlichen Verhandlung angesprochen wurde, ist die Entscheidung das Patent wegen unausreichender Offenbarung zu widerrufen, nicht nur auf diesen Aspekt zurückzuführen. Zum Beispiel werden unter Punkte 4.3.2 bis 4.3.4 (für den Hauptantrag) und unter Punkt 5.5.1.1 (für den Hilfsantrag) andere Mängel identifiziert, welche auch für sich allein zur gleichen Entscheidung geführt hätten. Aus diesen Grund ist die erforderliche Kausalität zwischen behauptetem Verfahrensmangel und der Notwendigkeit der Beschwerde nicht gegeben. Somit liegt im vorliegenden Fall kein wesentlicher Verfahrensmangel vor.
9.3 Unter diesen Umstände ist der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr zurückzuweisen (siehe Absatz 9.1, Punkt ii)).
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung auf der Grundlage des mit Schreiben vom 16. Februar 2016 eingereichten Hauptantrags zurückverwiesen.
3. Der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird zurückgewiesen.