T 0952/92 (Vorbenutzung) 17-08-1994
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1. Unabhängig vom Mittel der Offenbarung (schriftliche oder mündliche Beschreibung, Benutzung in Form von Verkauf usw.) sind bei der Zugänglichkeit im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ zwei getrennte Stufen zu unterscheiden: die Zugänglichkeit des Offenbarungsmittels selbst und die Zugänglichkeit von Informationen, die sich daraus erschließen und herleiten lassen.
2. Informationen über die Zusammensetzung oder innere Struktur eines vorbenutzten Erzeugnisses werden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und gehören damit zum Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ, wenn der Fachmann unter Verwendung bekannter Analysetechniken, die ihm vor dem maßgeblichen Anmeldetag zur Verfügung standen, unmittelbaren, eindeutigen Zugang zu ihnen hatte.
3. Wie wahrscheinlich es ist, daß der Fachmann ein früher im Handel erhältliches Erzeugnis analysiert, ist dabei - ebenso wie der dafür erforderliche Aufwand (d. h. die Investition an Arbeit und Zeit) - für die Ermittlung des Stands der Technik grundsätzlich ohne Bedeutung.
4. Eine beanspruchte Erfindung ist neuheitsschädlich getroffen, wenn eine unter den Anspruch fallende Ausführungsform durch eine frühere Offenbarung (gleich welcher Art) vorweggenommen wird. Es ist nicht erforderlich, daß ein früher im Handel erhältliches Erzeugnis vollständig analysiert werden kann. Die Neuheit eines Anspruchs wird zerstört, wenn sich dem Fachmann bei einer Analyse eines solchen Erzeugnisses Informationen über eine Ausführungsform erschließen, die unter den Patentanspruch fällt.
5. Für die Auslegung des amtlichen Textes einer Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer nach Artikel 22 (1) b) EPÜ ist der Wortlaut seiner im Amtsblatt des EPA veröffentlichten Übersetzung nicht rechtserheblich.
Vorbenutzung (bejaht)
Analysierbarkeit eines bereits im Handel erhältlichen Erzeugnisses (bejaht)
Erfinderische Tätigkeit (bejaht)
Sachverhalt und Anträge
I. Das europäische Patent Nr. 0 138 252 wurde auf eine Anmeldung erteilt, die eine Priorität von September 1983 in Anspruch nahm. Es bezieht sich auf eine flüssige Mischung zur Verwendung in der Flüssigszintillationszählungs-Analysentechnik und weist fünf Ansprüche auf.
Der einzige unabhängige Anspruch lautet wie folgt:
"Flüssige, homogene Mischung zur Verwendung in der Flüssigszintillationszählungs-Analysentechnik, umfassend eine Szintillationsflüssigkeit, einen Szintillator und ein oberflächenaktives Mittel, dadurch gekennzeichnet, daß die Mischung ebenfalls ein oder mehrere Mono- und/oder Diester der Phosphorsäure einschließt, wobei die Phosphorsäureester mit einer alkalischen Substanz mit einem pKa von wenigstens 5 bis zu einem pH-Wert neutralisiert worden sind, bei dem das Neutralisationsprodukt ein Mono- und/oder Diphosphatsalz enthält."
II. Gegen das Patent wurde Einspruch wegen mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit eingelegt. Zur Begründung machte der Einsprechende unter anderem geltend, daß im Vereinigten Königreich seit 1980 ein (im folgenden "Supersolve" genanntes) Erzeugnis im Handel sei, dessen Zusammensetzung mit den Ansprüchen 1, 2, 4 und 5 des Patents übereinstimme. Es wurde behauptet, daß die Zusammensetzung des Erzeugnisses der Öffentlichkeit bereits vor dem Anmeldetag des Patents zugänglich gewesen sei und somit zum Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 EPÜ gehöre. ...
Der Patentinhaber brachte in seiner Einspruchserwiderung vor, daß die Zusammensetzung von Supersolve am Prioritätstag des Patents nicht zum Stand der Technik gehört habe und der Einspruch zurückgewiesen werden sollte. Zur Untermauerung seiner Behauptung, wonach die Zusammensetzung von Supersolve zu komplex sei, als daß ein Fachmann sie ohne unzumutbaren experimentellen Aufwand analysieren könnte, reichte er eine Erklärung von Dr. E. Ch. Th. Gevers ein.
III. ...
IV. Die Einspruchsabteilung wies den Einspruch nach Artikel 102 (2) EPÜ zurück.
In ihrer Entscheidung zog die Einspruchsabteilung in Erwägung, daß Supersolve grundsätzlich vor dem Anmeldetag des Patents hätte analysiert werden können und die meisten beanspruchten Erfindungsmerkmale der Öffentlichkeit zugänglich gewesen seien. Allerdings habe der Fachmann aus einer Analyse dieses Erzeugnisses das beanspruchte Merkmal, wonach "die Phosphorsäureester mit einer alkalischen Substanz mit einem pKa von wenigstens 5 bis zu einem pH-Wert neutralisiert worden sind, bei dem das Neutralisationsprodukt ein Mono- und/oder Diphosphatsalz umfaßt", nicht eindeutig ableiten können, weil Supersolve neben dem Phosphattensid weitere anionische Tenside enthalte, und der Fachmann aus der Bestimmung der in dieser Mischung vorhandenen Kationen nicht auf die (neutralisierte oder nichtneutralisierte) Form der verschiedenen Bestandteile des Endprodukts schließen könne. Aus diesem Grund hielt die Einspruchsabteilung den beanspruchten Gegenstand für neu.
Des weiteren wertete die Einspruchsabteilung den beanspruchten Gegenstand gegenüber den Entgegenhaltungen als erfinderisch. ...
V. Der Einsprechende legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein und beantragte den Widerruf des Patents in vollem Umfang. ...
VI. Der Patentinhaber beantragte die Zurückweisung der Beschwerde und die Aufrechterhaltung des Patents gemäß dem Hauptantrag oder einem der drei am 7. Juli 1993 eingereichten Hilfsanträge.
Im Hauptantrag beantragte der Patentinhaber die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung. Anspruch 1 des ersten Hilfsantrags hat, abgesehen von dem am Ende hinzugefügten Merkmal "wobei die alkalische Substanz nicht Ammoniak ist", denselben Wortlaut wie Anspruch 1 des Hauptantrags. ...
VII. In einer der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung vertrat die Kammer die vorläufige Auffassung, daß zumindest der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß dem Hauptantrag angesichts der Vorbenutzung von Supersolve nicht neu zu sein scheine. Am 17. August 1994 fand eine mündliche Verhandlung statt.
VIII. Um seinen Antrag auf Widerruf des Patents zu stützen, trug der Einsprechende im wesentlichen folgende Argumte vor.
Neuheit
Der Erklärung von Herrn Huggett zufolge sei Supersolve bereits vor dem Prioritätstag im Handel erhältlich gewesen und enthalte unter anderem GAFAC PE 510 - bei dem es sich (wie in D2 und D3 offenbart) um einen Phosphorsäureester eines ethoxylierten Nonylphenols handle - sowie Ammoniak als Gegenion.
Wie aus den Erklärungen von Dr. Taylor und Dr. Emsley hervorgehe, hätte Supersolve mit Hilfe der vor dem Prioritätstag verfügbaren Techniken analysiert werden können. Es sei bereits neuheitsschädlich, wenn sich dem Fachmann bei einer Analyse des Erzeugnisses zumindest diejenigen Merkmale erschlossen hätten, die im beanspruchten Gegenstand des Streitpatents enthalten seien.
Die Möglichkeit, Supersolve zu analysieren, werde auch durch das Schreiben von Dr. Kremer bestätigt.
Da das Merkmal, wonach die "Phosphorsäureester mit einer alkalischen Substanz ... neutralisiert worden sind", ein Verfahrensmerkmal sei, handle es sich bei Anspruch 1 des Streitpatents um einen "Product-by-process"-Anspruch. Man erhalte in jedem Fall dasselbe Produkt, gleichgültig ob die betreffenden Ester vor ihrer Hinzufügung zur Mischung oder unmittelbar bei der Zugabe der alkalischen Substanz zur Mischung in situ neutralisiert würden. Aus diesem Grunde stelle das oben genannte Merkmal des beanspruchten Erzeugnisses kein Unterscheidungsmerkmal gegenüber Supersolve dar.
Erfinderische Tätigkeit
IX. Der Patentinhaber brachte zur Stützung seiner Anträge im wesentlichen die folgenden Argumente vor.
Neuheit
Vor dem Prioritätstag des Streitpatents sei die chemische Zusammensetzung von Supersolve in keiner Vorveröffentlichung beschrieben worden.
Die komplexe Supersolve-Mischung hätte ohne unzumutbaren Aufwand nicht so detailliert analysiert werden können, daß der Fachmann sie hätte verstehen und nacharbeiten können.
Das Erfordernis der Analysierbarkeit vor dem Prioritätstag der Anmeldung sei so auszulegen, daß der Fachmann in Unkenntnis darüber, wonach er zu suchen habe, in der Lage sein müsse, das fragliche Erzeugnis zu analysieren.
Des weiteren sei es gemäß der Stellungnahme G 1/92 (ABl. EPA 1993, 277) erforderlich, daß das Erzeugnis vollständig analysierbar sei.
Die Erklärungen von Dr. Taylor und Dr. Gevers zeigten, daß eine vollständige Analyse von Supersolve den Einsatz einer umfangreichen Ausstattung modernster Geräte und verschiedenster Analysetechniken erforderlich gemacht hätte. Abgesehen davon wäre eine Analyse so, wie Dr. Taylor sie beschreibe, in der Regel gar nicht durchgeführt worden, weil diese mit der Entfernung der Lösemittel beginne, es aber im Zuge der Erwärmung der Mischung zum Zwecke der Lösemittelentfernung auch dazu kommen könne, daß andere Bestandteile der Mischung verdampfen oder zerstört werden. Außerdem sei die laut den Erklärungen von Dr. Taylor und Dr. Emsley angewandte Fourier-NMR-Methode sehr kostspielig und habe vor dem Prioritätstag des Streitpatents für die üblichen Analysearbeiten gar nicht zur Verfügung gestanden. Ebensowenig sei die HPLC-Methode seinerzeit ein gängiges Verfahren gewesen. Des weiteren werde in D10, Seite 299, festgestellt, daß die Analyse von Alkylsäurephosphaten zahlreiche Probleme aufwerfe. Selbst aus der Erklärung von Dr. Emsley, Seite 2, gehe hervor, daß die Phosphatanalyse sehr kompliziert sei. Dies deute darauf hin, daß die Analyse von Supersolve noch viel komplizierter gewesen sein müsse, weil dieses Produkt neben den Phosphaten noch viele andere Bestandteile aufweise.
Weitere neuheitsrelevante Vorbringen des Patentinhabers werden in den Entscheidungsgründen behandelt.
Erfinderische Tätigkeit
Hilfsanträge
X. Am Ende der mündlichen Verhandlung wurde verkündet, daß das Patent auf der Grundlage des ersten Hilfsantrags des Patentinhabers aufrechtzuerhalten sei.
Entscheidungsgründe
1. Neuheit: aufgeworfene Fragen
1.1 Die erste Hauptfrage in dieser Beschwerdesache lautet, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Ansprüche in den Anträgen des Patentinhabers aufgrund des vorherigen Verkaufs von Supersolve durch Koch-Light-Laboratories Limited neuheitsschädlich getroffen sind.
Diesbezüglich sind bestimmte Sachverhalte für die Beteiligten unstrittig. Zum einen ist der Verfahrensschritt in Anspruch 1 (daß "Phosphorsäureester neutralisiert worden sind"), der diesen zu einem "Product-by-process"-Anspruch macht, kein Unterscheidungsmerkmal für das Erzeugnis als solches. Nach Ansicht der Kammer ist dieses Verfahrensmerkmal für die Frage der Neuheit unerheblich.
Des weiteren war das Produkt Supersolve - der Darlegung in der Einspruchsschrift und den gleichzeitig eingereichten Beweismitteln zufolge - seit 1980 und damit vor dem Prioritätstag des Streitpatents im Vereinigten Königreich auf dem Markt.
Außerdem wies das Produkt Supersolve - wie in der Einspruchsschrift dargelegt und durch die Erklärung von Herrn Huggett gestützt - eine Zusammensetzung auf, die unter die Ansprüche 1, 2, 4 und 5 des Hauptantrags fiel. Insbesondere enthielt die im Handel erhältliche Mischung das Tensid GAFAC PE 510, bei dem es sich den Entgegenhaltungen D2 und D3 zufolge um eine Mischung aus Mono- und Diestern der Phosphorsäure handelt. Laut der Erklärung von Herrn Huggett wurde die Mischung mit Ammoniakwasser (mit einem pKa zwischen 5 und 12) neutralisiert, so daß sie sowohl Mono- wie auch Diphosphatsalze enthielt.
In Anspruch 3 des Hauptantrags wird jedoch verlangt, daß "der organische Phosphorsäureester mit einem organischen Amin neutralisiert wird", und unter diesen Anspruch fiel die Zusammensetzung von Supersolve nicht.
1.2 Im Verfahren vor der Einspruchsabteilung hatte der Einsprechende in der Einspruchsschrift zunächst vorgebracht, daß die Ansprüche 1, 2, 4 und 5 schon deshalb nicht neu seien, weil Supersolve vor dem Prioritätstag auf dem Markt gewesen sei und seine Zusammensetzung unter die genannten Ansprüche falle. Der Patentinhaber erwiderte jedoch unter anderem, daß damit (d. h. mit "der bloßen Verfügbarkeit eines Produkts, das den Ansprüchen entspricht") die Neuheit der Ansprüche nicht zerstört werde, weil der Fachmann "anhand dieser Vorbenutzung nicht herausfinden könne, wie das Erzeugnis herzustellen sei". Daraufhin forderte die Einspruchsabteilung den Einsprechenden in einer Mitteilung auf, "ausführlich darzulegen, ob es möglich gewesen sei, Supersolve vor dem Prioritätstag des Streitpatents zu analysieren". In diesem Zusammenhang reichte der Patentinhaber zur Bekräftigung seines Standpunkts die Erklärung von Dr. Gevers ein, derzufolge die chemische Zusammensetzung von Supersolve "zu komplex sei, als daß ein Fachmann sie ohne unzumutbaren experimentellen Aufwand analysieren könnte", woraufhin der Einsprechende zur Untermauerung seiner Darstellung die Erklärung von Dr. Taylor und das Schreiben von Dr. Kremer einreichte, wonach es sehr wohl möglich gewesen sei, Supersolve vor dem Prioritätstag zu analysieren.
Der Patentinhaber führte vor der Einspruchsabteilung in erster Linie die Entscheidungen T 93/89 (ABl. EPA 1992, 718) und T 461/88 (ABl. EPA 1993, 295) sowie T 206/83 (ABl. EPA 1987, 5) an, um seine Behauptungen zu stützen, daß der Fachmann keinen Anlaß gehabt habe, Supersolve zu analysieren, und daß eine solche Analyse ohne unzumutbaren experimentellen Aufwand und in einem vernünftigen zeitlichen und finanziellen Rahmen nicht möglich gewesen wäre.
Nachdem die Entscheidung der Einspruchsabteilung ergangen war, wurde allerdings mit der Stellungnahme G 1/92 (ABl. EPA 1993, 277) der Großen Beschwerdekammer folgende Feststellung der Entscheidung T 93/89 verworfen: "Kann die Zusammensetzung eines Handelsproduktes nur durch chemische Analyse festgestellt werden, so sind die Bestandteile des Produkts der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht, wenn für Sachverständige kein Anlaß zur Untersuchung bestand".
1.3 Ausgehend von der Stellungnahme G 1/92 der Großen Beschwerdekammer warf der Patentinhaber im Beschwerdeverfahren mehrere Fragen dazu auf, was denn ein Einsprechender in einem solchen Fall zu beweisen habe, damit angesichts des früheren Verkaufs eines Erzeugnisses, dessen Zusammensetzung mit der beanspruchten Erfindung übereinstimmt, auf mangelnde Neuheit erkannt werde. Seine Fragen lassen sich wie folgt zusammenfassen:
i) Muß ein Einsprechender beweisen, daß ein Fachmann das vor dem Prioritätstag im Handel befindliche Erzeugnis ohne unzumutbaren Aufwand hätte analysieren und somit Kenntnis darüber erhalten können, daß die Zusammensetzung des Produkts mit den Patentansprüchen übereinstimmt, damit auf mangelnde Neuheit erkannt wird?
ii) Muß ein Einsprechender beweisen, daß ein Fachmann das im Handel erhältliche Erzeugnis ohne unzumutbaren Aufwand vollständig hätte analysieren und sich damit in die Lage versetzen können, es ohne unzumutbaren Aufwand exakt nachzuarbeiten, damit auf mangelnde Neuheit erkannt wird?
iii) Hat der Einsprechende in der vorliegenden Sache tatsächlich nachgewiesen, daß Supersolve vor dem Prioritätstag hätte analysiert werden können, um zu beweisen, daß die beanspruchte Erfindung nicht neu ist?
1.4 Was die Fragen i und ii betrifft, so beantragte der Patentinhaber für den Fall, daß die Kammer seinen Anträgen nicht oder nur zögernd stattgeben wolle, der Großen Beschwerdekammer gemäß Artikel 112 (1) a) EPÜ folgende Fragen vorzulegen:
a) "Wird die chemische Zusammensetzung eines Erzeugnisses der Öffentlichkeit allein schon dadurch zugänglich gemacht, daß das Erzeugnis selbst der Öffentlichkeit zugänglich ist, wenn seine chemische Zusammensetzung - allerdings nicht ohne unzumutbaren Aufwand - durch Analyse ermittelt werden könnte? "
b) "Ist die Tatsache, daß der Öffentlichkeit ein Erzeugnis zugänglich ist, dessen chemische Zusammensetzung nicht so vollständig ermittelt werden kann, daß es nachgearbeitet werden könnte, dennoch neuheitsschädlich für eine Erfindung, wenn sich anhand des Erzeugnisses zumindest seine wesentlichen Bestandteile ermitteln ließen?"
c) "Welchen Gesichtspunkten sollte Rechnung getragen werden, wenn es zu ermitteln gilt, ob ein schon früher auf dem Markt befindliches Erzeugnis 'ohne unzumutbaren Aufwand' hätte analysiert und nachgearbeitet werden können?"
Der Einsprechende hatte gegen die Befassung der Großen Beschwerdekammer mit den oben genannten Fragen nichts einzuwenden, sofern es die hier entscheidende Kammer für zweckdienlich halten sollte.
2. Neuheit - Hauptantrag: Rechtsfragen
Die vorrangige Rechtsfrage in dieser Sache lautet: Was wurde durch den früheren Verkauf von Supersolve "der Öffentlichkeit zugänglich gemacht" und gehörte damit im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ zum Stand der Technik?
Zur Beantwortung dieser und der anderen in Nr. 2.3 genannten Fragen muß kurz auf den einschlägigen rechtlichen Hintergrund eingegangen werden.
2.1 Zunächst einmal geht aus der Rechtsprechung der Beschwerdekammern ganz eindeutig hervor, daß eine beanspruchte Erfindung vor dem jeweiligen Anmeldetag nur dann im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ "der Öffentlichkeit zugänglich gemacht" worden ist, wenn ein Fachmann Zugang zu Informationen hatte, die der beanspruchten Erfindung äquivalent waren. Wie die Große Beschwerdekammer in den Entscheidungen G 2/88 und G 6/88 (ABl. EPA 1990, 93 und 114) feststellte, ist "das Wort "zugänglich" mit der Vorstellung verbunden, daß alle technischen Merkmale der beanspruchten Erfindung in Verbindung miteinander der Öffentlichkeit bekanntgegeben oder zugänglich gemacht worden sein müssen, damit auf mangelnde Neuheit erkannt werden kann". Desgleichen stellte die Große Beschwerdekammer in ihrer Stellungnahme G 1/92 (ABl. EPA 1993, 277) fest: "Wenn der Fachmann ... die Zusammensetzung oder innere Struktur des Erzeugnisses erschließen ... kann, gehören sowohl das Erzeugnis als auch seine Zusammensetzung oder innere Struktur zum Stand der Technik" und "die bloße Möglichkeit eines unmittelbaren, eindeutigen Zugangs zu bestimmten Informationen macht diese zugänglich ...".
Außerdem unterstrich die Große Beschwerdekammer in der Stellungnahme G 1/92, daß "Artikel 54 (2) EPÜ auch nicht zwischen den verschiedenen Wegen (unterscheidet), auf denen Informationen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Somit gelten für Informationen, die aus der Benutzung eines Erzeugnisses abgeleitet werden, grundsätzlich dieselben Bedingungen wie für Informationen, die durch mündliche oder schriftliche Beschreibung offenbart werden".
Das heißt, die Offenbarung in Form einer schriftlichen Beschreibung ist die Information, die sich der Fachmann durch Lesen aneignen kann, die Offenbarung durch mündliche Beschreibung ist die Information, die sich der Fachmann durch Hören aneignen kann, und die Offenbarung in Gestalt eines vorbenutzten Erzeugnisses ist die Information, die sich der Fachmann entweder visuell oder z. B. durch Analyse aneignen kann.
Unabhängig vom Mittel der Offenbarung (schriftliche oder mündliche Beschreibung, Benutzung usw.) sind bei der Zugänglichkeit im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ also zwei getrennte Stufen zu unterscheiden: die Zugänglichkeit des Offenbarungsmittels und die Zugänglichkeit der Informationen, die sich daraus erschließen und herleiten lassen.
Ebenfalls unabhängig vom Mittel der Offenbarung kann sich, wie der oben zitierte Abschnitt der Stellungnahme G 1/92 zeigt, im Einzelfall die Frage stellen, was sich aus einem solchen Offenbarungsmittel "eindeutig und unmittelbar" herleiten läßt. Sowohl das Ergebnis der Lektüre einer schriftlichen Beschreibung als auch das Ergebnis einer Analyse können relativ unklar sein. Dies ist eine Frage des Genauigkeitsgrades.
Die Kammer ist daher der Ansicht, daß die Einspruchsabteilung zu Recht der Möglichkeit einer Analyse von Supersolve nachgegangen ist.
2.2 Als weiteres (Nr. 1.3 oben, Frage i, und Nr. 1.4 oben, Frage a)) gilt es zu klären, ob als Unterscheidungskriterium zwischen dem, was der Öffentlichkeit durch Analyse eines vorbenutzten Erzeugnisses zugänglich ist, und dem, was ihr dadurch nicht zugänglich ist, letztlich nur das gelten kann, was sich aus einer solchen Analyse "ohne unzumutbaren Aufwand" herleiten läßt. In diesem Zusammenhang stützte sich der Patentinhaber auf die folgende Passage der Stellungnahme G 1/92: "Wenn der Fachmann ohne unzumutbaren Aufwand die Zusammensetzung oder innere Struktur des Erzeugnisses erschließen und dieses reproduzieren kann, gehören sowohl das Erzeugnis als auch seine Zusammensetzung oder innere Struktur zum Stand der Technik" (Hervorhebung durch die Kammer). Der Patentinhaber machte geltend, daß sich der Satzteil "ohne unzumutbaren Aufwand" sowohl auf die "Erschließung" der Zusammensetzung bzw. inneren Struktur als auch auf die Nacharbeitung beziehe, und berief sich dabei auf die im Amtsblatt veröffentlichte amtliche deutsche Übersetzung, die dies deutlich mache.
Da der amtliche Text der Stellungnahme G 1/92 die englische Fassung ist, muß nach Ansicht der Kammer der englische Text ohne Bezugnahme auf die - nicht rechtserhebliche - deutsche Übersetzung ausgelegt werden; der Wortlaut der deutschen Fassung könnte darauf zurückzuführen sein, daß der Übersetzer die dem englischen Text zugrundeliegende Absicht nicht erkannt hat.
Nach Auffassung der Kammer ist die oben zitierte Passage der Stellungnahme grammatikalisch nicht ganz eindeutig, da sich der Satzteil "without undue burden" einerseits auf das Nacharbeiten des Erzeugnisses allein, andererseits aber sowohl auf die Erschließung der Zusammensetzung bzw. inneren Struktur als auch auf das Nacharbeiten beziehen kann. Um die Richtigkeit der letzteren Auslegung zu belegen, brachte der Patentinhaber vor, daß die Analyse der Zusammensetzung des Erzeugnisses und seine Nacharbeitbarkeit Hand in Hand gingen und sich der Satzteil "without undue burden" zwangsläufig auf beides beziehe, weil für die Zugänglichkeit der Zusammensetzung sowohl die Analyse des Erzeugnisses als auch die Möglichkeit seiner Nacharbeitung vorauszusetzen seien.
Nach Meinung der Kammer ist zunächst festzuhalten, daß durch die der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Fragen, die Gegenstand der Stellungnahme G 1/92 waren, nicht geklärt werden sollte, worauf sich der Ausdruck "without undue burden" bezieht. Es ging vielmehr darum, ob es für einen Fachmann besondere Gründe dafür geben müsse, ein vorbenutztes Erzeugnis zu analysieren oder nach darin enthaltenen Informationen zu forschen; wie in Nr. 2.2 oben erwähnt, ging die Vorlage der Fragen auf die Feststellung in der Entscheidung T 93/89 zurück, wonach die Zusammensetzung eines vorbenutzten Produkts "der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht" ist, wenn für einen Fachmann kein Anlaß zur Untersuchung besteht.
Der Hinweis auf den "unzumutbaren Aufwand" in der besagten Stellungnahme G 1/92 war also strenggenommen zur Beantwortung der damals gestellten Rechtsfragen gar nicht erforderlich, es kann daher nicht beabsichtigt gewesen sein, die bestehende Rechtsauffassung über den Begriff "Stand der Technik" zu ändern oder zu ergänzen.
Der Begriff der Nacharbeitung eines Erzeugnisses "ohne unzumutbaren Aufwand" ist traditionell mit der Frage der "hinreichenden Offenbarung" durch die Beschreibung einer Erfindung in einer Patentschrift verbunden: d. h. ob die Erfindung, die Gegenstand des Patents ist, in der Patentschrift "so deutlich und vollständig (offenbart ist), daß ein Fachmann sie ausführen kann" (Art. 83 EPÜ). Dabei weiß der Fachmann, was er nachzuarbeiten versucht, nämlich den im Patent beanspruchten und durch das Patent zu schützenden Gegenstand und die in der Beschreibung des Patents offenbarte Erfindung. In diesem Zusammenhang ist der Satzteil "ohne unzumutbaren Aufwand" also eine nähere Bestimmung der Worte "so deutlich und vollständig" in Artikel 83 EPÜ.
Der Begriff der Nacharbeitbarkeit "ohne unzumutbaren Aufwand" wurde analog auch auf Neuheitsfragen ausgedehnt, bei denen ein Erzeugnis, etwa ein chemischer Stoff, der Gegenstand eines Patentanspruchs ist, in einer Vorveröffentlichung beschrieben wird. In der Entscheidung T 206/83 (ABl. EPA 1987, 5) wird festgestellt, daß die Beschreibung das Erzeugnis dann nicht "der Öffentlichkeit zugänglich" macht und somit nicht neuheitsschädlich für einen Anspruch ist, wenn der Fachmann das Erzeugnis mit Hilfe seines allgemeinen Fachwissens und "ohne unzumutbaren Aufwand" nicht nacharbeiten kann (d. h., wenn keine "ausführbare Offenbarung" vorliegt).
Wollte man aber den Ausdruck "ohne unzumutbaren Aufwand" nicht nur auf das Nacharbeiten dessen beziehen, was in einer Vorveröffentlichung beschrieben wurde, sondern auch auf das Erschließen dessen, was über ein bereits im Handel befindliches Erzeugnis noch nicht bekannt war (nämlich die Zusammensetzung oder innere Struktur), so wären ganz andere Betrachtungen anzustellen, und die Kammer läßt weder gelten, daß dies die Absicht der Großen Beschwerdekammer in der Stellungnahme G 1/92 war, noch daß es rechtlich zulässig ist.
So argumentierte der Patentinhaber in der vorliegenden Sache, daß das Produkt Supersolve nur mittelmäßige Eigenschaften habe und gar nichts Besonderes sei, weshalb die Kosten einer Analyse den daraus zu erwartenden Nutzen bei weitem übersteigen würden und das Analysieren von Supersolve ein unzumutbarer Aufwand für den Fachmann wäre. Nach Auffassung der Kammer ist dieser Ansatz der Neuheitsprüfung im wesentlichen gleichzusetzen mit der Vorgehensweise gemäß der Entscheidung T 93/89, die inzwischen durch die Stellungnahme G 1/92 aufgehoben wurde, z. B. in der folgenden Feststellung: "Die bloße Möglichkeit eines unmittelbaren, eindeutigen Zugangs zu bestimmten Informationen macht diese zugänglich, und zwar unabhängig davon, ob ein Grund besteht, nach ihnen zu suchen".
Die Kammer läßt das weitere Vorbringen des Patentinhabers nicht gelten, wonach sich die Beschwerdekammern schon immer nach dem Kriterium gerichtet hätten, ob sich ein vorbenutztes Erzeugnis ohne unzumutbaren Aufwand analysieren lasse, wie z. B. aus der Entscheidung T 406/86 hervorgehe, die in der Stellungnahme G 1/92 erwähnt und implizit bestätigt werde und wo es heiße, daß die Zusammensetzung eines Erzeugnisses "zugänglich gemacht" werde, wenn sie sich "ohne weiteres durch eine chemische Analyse bestimmen lasse". Diese Feststellung ist nicht gleichbedeutend mit der Aussage, daß die Zusammensetzung eines Produkts nur dann "zugänglich gemacht" ist, wenn sie sich "ohne unzumutbaren Aufwand" analysieren läßt.
Nach Ansicht der Kammer würde durch Übertragung des Begriffs "ohne unzumutbaren Aufwand" auf die Bestimmung der Zusammensetzung oder inneren Struktur eines vorbenutzten Erzeugnisses, die nicht visuell vorgenommen werden kann (z. B. durch Analyse), ein subjektives Element in die Neuheitsprüfung eingeführt, was von der Großen Beschwerdekammer in der Stellungnahme G 1/92 ausdrücklich abgelehnt wurde (s. Nr. 2.1). Nach den oben zitierten Ausführungen der Stellungnahme vertritt die Kammer vielmehr die Auffassung, daß die bloße Möglichkeit eines unmittelbaren, eindeutigen Zugangs zu Informationen über die Zusammensetzung oder innere Struktur eines vorbenutzten Erzeugnisses, etwa durch eine Analyse, diese Zusammensetzung oder innere Struktur "der Öffentlichkeit zugänglich" und damit zu einem Bestandteil des Stands der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ macht. Wenn diese Analyse mit Hilfe bekannter, für den Fachmann verfügbarer Analyseverfahren vor dem Anmeldetag möglich ist, so wird die Zusammensetzung oder innere Struktur damit der Öffentlichkeit zugänglich.
Diese Schlußfolgerung steht mit der Feststellung in der o. g. Entscheidung T 406/86 und mit den in Nr. 2.1 oben dargelegten Prinzipien in Einklang. Analysiert ein Fachmann mit Hilfe verfügbarer Analysetechniken ein Erzeugnis, das als solches der Öffentlichkeit - etwa durch den Verkauf - zugänglich gemacht wurde, so kann dies durchaus damit gleichgesetzt werden, daß ein Fachmann eine schriftliche Beschreibung in einem Dokument liest, das als solches der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Der Grad der Wahrscheinlichkeit, mit der der Fachmann die schriftliche Beschreibung liest oder ein früher verkauftes Erzeugnis analysiert, und der Aufwand, mit dem die Lektüre bzw. Analyse verbunden ist (d. h. die Investition an Arbeit und Zeit), sind für die Ermittlung des Stands der Technik im Grundsatz unerheblich.
2.3 Die nächste Frage (Nr. 1.3 oben, Frage ii, und Nr. 1.4 oben, Frage b) lautet, ob die Zusammensetzung eines vorbenutzten Erzeugnisses erst dann als zugänglich gemacht gilt, wenn dieses vollständig analysiert und folglich - wie der Patentinhaber vorbrachte - exakt nachgearbeitet werden kann. Dieses Erfordernis sollte sich insbesondere aus folgender Feststellung in Nr. 1.4 der Stellungnahme G 1/92 ergeben, wo es heißt, daß "ein wesentlicher Zweck jeder technischen Lehre darin besteht, daß der Fachmann in die Lage versetzt wird, ein bestimmtes Erzeugnis ... herzustellen oder zu benutzen" (d. h. es nachzuarbeiten) und "ergibt sich eine solche Lehre aus einem Erzeugnis, das auf den Markt gebracht wird, so muß der Fachmann auf sein allgemeines Fachwissen zurückgreifen, um Aufschluß über alle zur Herstellung dieses Erzeugnisses benötigten Informationen zu gewinnen" (Hervorhebung durch die Kammer).
Die Kammer räumt zwar ein, daß bei streng wörtlicher Auslegung dieser Abschnitt der Stellungnahme für sich allein so verstanden werden könnte, als gehöre die Zusammensetzung eines auf dem Markt erhältlichen Produkts nur dann zum Stand der Technik, wenn es so vollständig analysierbar ist, daß es exakt nachgearbeitet werden kann; dabei ist ihr allerdings bewußt, daß dieser Abschnitt nur indirekt mit der Beantwortung der Fragen zu tun hat, mit denen die Große Beschwerdekammer vom Präsidenten des EPA befaßt wurde. Unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist sie jedoch der Auffassung, daß eine solch wörtliche Auslegung nicht der Absicht der Großen Beschwerdekammer entsprach.
Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist eine beanspruchte Erfindung neuheitsschädlich getroffen, wenn eine unter den Anspruch fallende Ausführungsform durch eine frühere Offenbarung (gleich welcher Art) vorweggenommen wird. Die Kammer vertritt daher die Ansicht, daß die Neuheit einer beanspruchten Erfindung durch die Vorbenutzung eines Erzeugnisses, etwa durch seinen Verkauf, zerstört wird, wenn sich dem Fachmann bei einer Analyse des Produkts mit bekannten Analysetechniken Informationen über eine Ausführungsform des Produkts erschließen, die unter den Patentanspruch fällt. Deshalb läßt die Kammer das Vorbringen des Patentinhabers nicht gelten, daß eine vollständige Analyse eines vorbenutzten Produkts und folglich dessen exakte Nacharbeitung möglich sein müßten, um die Neuheit des beanspruchten Produkts zu zerstören.
3. Die Fragen a und b in Nr. 1.4 oben hatte der Patentinhaber im Hinblick auf eine etwaige Vorlage an die Große Beschwerdekammer gestellt; die Kammer wird diese Fragen jedoch nicht vorlegen, weil sich die oben erörterten und dargelegten Antworten ihrer Ansicht nach eindeutig aus der bisherigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern ableiten lassen, die vom Patentinhaber vorgebrachten Antworten hingegen - auch wenn sie an sich durchaus erwägenswert sind - im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung und wohl auch zur Kernaussage der Stellungnahme G 1/92 stehen.
Angesichts der obigen Antworten auf die Fragen a und b erübrigt sich die Frage c in Nr. 1.4.
4. Was die Frage iii in Nr. 1.3 oben betrifft, so lautet die hier zu beantwortende Tatfrage im wesentlichen wie folgt: Hat der Einsprechende nachgewiesen, daß es möglich gewesen wäre, Supersolve vor dem Prioritätstag des angefochtenen Patents mittels bekannter, dem Fachmann seinerzeit zur Verfügung stehender Analysetechniken zu analysieren und ihm damit Gewißheit zu verschaffen, daß die Zusammensetzung von Supersolve mit der im Streitpatent beanspruchten Erfindung übereinstimmt?
4.1 Dr. Taylor, ein Experte auf dem Gebiet der analytischen Chemie, nimmt in seiner Erklärung Bezug auf eine Reihe von Veröffentlichungen und beschreibt Analyseverfahren, die der Fachmann mittels vor dem Prioritätstag des Streitpatents verfügbarer Techniken zur Analyse von Supersolve hätte anwenden können. Demnach hätte nach der Entfernung der flüchtigen Bestandteile von Supersolve, die anhand ihrer Siedepunkte identifizierbar seien, eine Elementaranalyse oder eine ICP- Spektroskopie des Rückstands auf das Vorhandensein und den Gehalt an Phosphor schließen lassen; durch Hochdruckflüssigchromatographie (HPLC) oder Gaschromatographie (GC) des Rückstands hätte man die durchaus gebräuchlichen Szintillatoren 2,5-Diphenyloxazol (PPO) und 1,4-Bis(o-methylstyryl)benzol (Bis-MSB) nachweisen können; ferner hätte eine 31P-NMR-Spektroskopie bei einem relativ höheren pH-Wert das Vorhandensein von Phosphorsäuremono- und -diestern angezeigt, da sich bei höheren pH-Werten die Resonanzverschiebungen der beiden Spezies recht deutlich unterscheiden. Der Erklärung zufolge wären dann mit einer Kationenaustauschsäule alle Kationen einschließlich Ammoniak zu trennen und auf herkömmliche Weise zu identifizieren gewesen.
Desgleichen heißt es in der Erklärung von Dr. Emsley, einem Experten auf dem Gebiet der analytischen und der Phosphorchemie, daß es mit Hilfe von der IPC-Spektroskopie und der Fourier- Transform-Technik bei der 31P-NMR-Spektroskopie möglich gewesen wäre, den Phosphorgehalt zu messen sowie die Phosphorsäuremono- und diester in Supersolve nachzuweisen. Außerdem hätte der pH-Wert einer Lösung von Phosphorsäureestern gezeigt, daß diese nicht in der freien Säureform vorlagen.
In der Erklärung von Dr. Gevers, einem Experten auf dem Gebiet der chemischen Analyse mittels Chromatographie und Spektroskopie, heißt es, daß zwar die Identifizierung von Lösemitteln und nichtionischen Tensiden in Supersolve problemlos sei, die Isolierung und mithin Identifizierung sämtlicher in Supersolve enthaltenen Tenside sich aber kompliziert und zeitaufwendig gestalte. Außerdem liege der Phosphorgehalt an der Nachweisgrenze der Elementaranalyse, und eine 31P-NMR-Analyse zur Ermittlung von Phosphaten würde einen Vergleich mit über 150 bekannten Phosphattensiden unter identischen Bedingungen erfordern. In bezug auf die in Supersolve enthaltenen Kationen stellt Dr. Gevers fest, daß sie zwar identifizierbar seien, daß aber nicht ermittelt werden könne, welches Kation ursprünglich zu welchem Anion gehörte und ob die Kationen als anorganische Salze oder Basen hinzugefügt worden seien, so daß also nicht herausgefunden werden könne, ob zur Herstellung von Supersolve Tensidsalze oder eine Mischung aus Säuren, Basen und/oder Salzen verwendet wurden.
Der Patentinhaber gibt zwar Dr. Taylor durchaus Recht, wenn dieser letztlich zu dem Schluß kommt, daß es 1983 möglich gewesen wäre, Supersolve zu analysieren, bestreitet aber a) daß eine Elementaranalyse automatisch das Vorhandensein von Phosphor aufgezeigt hätte, da der Fachmann ja keinen Anlaß hatte, diesen in einer LSC-Mischung zu vermuten, und b) daß ein durchschnittliches Analyselabor um das Jahr 1983 über die gesamte moderne Geräte- und Apparateausstattung verfügte, die notwendig ist, um die Analyse nach Dr. Taylors Vorschlag durchzuführen. Unter Hinweis auf die Erklärung von Dr. Gevers machte er ferner geltend, daß c) eine vollständige Analyse von Supersolve so kompliziert und zeitaufwendig sei, daß sie praktisch unmöglich sei.
4.2 Was das Vorbringen unter a) betrifft, ist die Kammer der Auffassung, daß ein Fachmann durchaus in der Lage gewesen wäre, Phosphor zu identifizieren, indem er den Supersolve-Rückstand (nach Verdampfung der flüchtigen Bestandteile) einer Elementaranalyse unterzogen hätte. Die Kammer ist ferner der Ansicht, daß die Verwendung der (seit den sechziger Jahren bekannten) Fourier- Transform-31P-NMR-Methode im Falle verdünnter Lösungen die schwachen Signale so verstärkt hätte, daß es möglich gewesen wäre, auf das Vorhandensein von Phosphorsäuremono- und -diestern in Supersolve zu schließen, wie Dr. Taylor und Dr. Emsley in ihren Erklärungen feststellten. Das Vorbringen von Dr. Gevers, wonach nicht zu ermitteln sei, ob zur Herstellung von Supersolve Phosphorsäureester oder eine Mischung aus Phosphorsäuren, Basen und/oder Salzen verwendet wurden, ist hier für die Neuheitsfrage ohne Belang. Was die Möglichkeit des Nachweises von Lösemitteln und Szintillatoren in Supersolve angeht, so wurde sie von Dr. Gevers nicht bestritten, und die Kammer meint ferner, daß das Lösemittel Pseudocumene mittels Verdampfung hätte isoliert und identifiziert werden können - dieses hätte bei seinem Siedepunkt von 168 Grad C gesiedet - während die HPLC- bzw. GC-Technik das Vorhandensein von PPO und Bis-MSB, zwei ganz gebräuchlichen Szintillatoren, angezeigt hätte.
4.3 Was das Vorbringen unter b) betrifft, so hält es die Kammer für unerheblich, ob alle benötigten Analysegeräte in ein und demselbem Labor verfügbar waren. Ausschlaggebend ist, daß der Fachmann vor dem Stichtag Zugang zu allen erforderlichen Geräten und Techniken hatte, so daß er sich über die Zusammensetzung von Supersolve informieren und die Gewißheit erlangen konnte, daß sie mit dem beanspruchten Gegenstand übereinstimmte. Aus den oben genannten Gründen ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, daß dies in der vorliegenden Sache der Fall war.
4.4 Bezüglich des Vorbringens unter c) läßt die Kammer - wie in Nr. 2.3 bereits dargelegt - nicht gelten, daß eine vollständige Analyse von Supersolve notwendig ist, um die Neuheit des beanspruchten Gegenstands zu zerstören; vielmehr genügt eine Analyse, aus der der Fachmann ersehen kann, daß Supersolve eine Zusammensetzung aufweist, die unter den beanspruchten Gegenstand fiel. Wie in Nr. 4.2 erörtert, ist die Kammer davon überzeugt, daß eine derartige Analyse von Supersolve möglich war.
5. Die Kammer ist daher der Ansicht, daß in der vorliegenden Sache dem Durchschnittsfachmann am Prioritätstag des Streitpatents alle erforderlichen Mittel und Analyseverfahren zugänglich waren, die es ihm ermöglichten, Supersolve als ein Erzeugnis zu erkennen, das unter Anspruch 1 des Hauptantrags fiel. Nach Ansicht der Kammer ist daher der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags nicht neu im Sinne des Artikels 54 EPÜ.
6. Neuheit - erster Hilfsantrag
Die LSC-Mischung nach Anspruch 1 dieses Antrags unterscheidet sich von Supersolve dadurch, daß die Phosphorsäureester nicht mit Ammoniak neutralisiert wurden. Die Mischung enthält also Kationen einer alkalischen Substanz, bei der es sich nicht um Ammoniak handelt. Somit ist der Gegenstand des Anspruchs 1 neu.
7. Erfinderische Tätigkeit - erster Hilfsantrag ...
8. Aus diesen Gründen ist die Kammer zu der Auffassung gelangt, daß die LSC-Mischung nach Anspruch 1 des ersten Hilfsantrags für einen Fachmann nicht naheliegend war und somit erfinderisch im Sinne des Artikels 56 EPÜ ist.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die erste Instanz mit der Anweisung zurückverwiesen, das Patent mit den Ansprüchen 1 bis 5 gemäß dem am 7. Juli 1993 eingereichten Hilfsantrag aufrechtzuerhalten und die Beschreibung an diese Ansprüche anzupassen.
3. Der Antrag auf Vorlage an die Große Beschwerdekammer wird abgelehnt.