T 1253/04 (Embryonale Herzmuskelzellen/INSTITUT FÜR PFLANZENGENETIK) 07-06-2005
Download and more information:
Embryonale Herzmuskelzellen, ihre Herstellung und ihre Verwendung
Hauptantrag und 1. Hilfsantrag - Gegenstand des Anspruchs 1 - ausreichende Offenbarung (nein)
2. Hilfsantrag - Zurückverweisung
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Patentanmelderin (nunmehr Beschwerdeführerin) richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 27. Mai 2004, mit der die europäische Patentanmeldung Nr. 95 940 117.5 mit der Veröffentlichungsnummer 0 787 182 (internationale Veröffentlichungsnummer WO-A-96/16163) und dem Titel "Embryonale Herzmuskelzellen, ihre Herstellung und ihre Verwendung" zurückgewiesen wurde.
Anspruch 1 des Hauptantrags lautete wie folgt:
"1. Embryonale Herzmuskelzellen enthaltend zwei Genkonstrukte aus
a) regulatorischer, 2,1 Kb langer DNA-Sequenz des ventrikelspezifischen Myosin-Leicht-Kette-2 (MLC-2v) Promotors, dem selektionierbaren Markergen Beta-Galaktosidase und dem Reportergen Neomycin,
b) regulatorischer DNA-Sequenz des Herpes-simplex-Virus- Thymidinkinase-Promotors und dem selektionierbaren Markergen Hygromycin."
Die Ansprüche 2 bis 4 waren auf besondere Ausführungsformen der embryonalen Herzmuskelzellen gemäß Anspruch 1 gerichtet. Anspruch 5 betraf einen Vektor, der außer den Merkmalen gemäß Anspruch 1a) SV40-PolyA- Tail und ggf. eine Position zur Aufnahme von immortalisierenden Genen enthielt. Anspruch 6 betraf ein Verfahren zur Herstellung von Zellen nach Anspruch 1 bis 4. Die Ansprüche 7 bis 11 waren auf die Verwendung der embryonalen Herzmuskelzellen nach den vorherigen Ansprüchen zur Herstellung eines Arzneimittels (Ansprüche 7, 9 und 10), zur in-vitro-Testung von biologisch aktiven Substanzen (Anspruch 10) und zur Untersuchung von Substanzen (Anspruch 8) gerichtet.
Der Hilfsantrag war auf die Ansprüche 1 bis 5 und 7 bis 9 des Hauptantrags eingeschränkt.
II. Die Prüfungsabteilung hatte die Patentanmeldung u. a. wegen mangelnder Offenbarung der Erfindung (Artikel 83 EPÜ) zurückgewiesen, insofern der Gegenstand des Anspruchs 1 des Haupt- und Hilfsantrags embryonale Herzmuskelzellen umfasste, die aus humanen embryonalen Stammzellen oder Stammzelllinien gewonnen waren. Es sei weder anhand eines Beispiels noch anhand eines Dokuments gezeigt, dass sich am Prioritätstag humane embryonale Stammzellen im Allgemeinen und im Besonderen mit den beanspruchten spezifischen Genkonstrukten kotransfizieren und anschließend selektionieren ließen. Außerdem gehörten humane embryonale Stammzelllinien nicht zum Stand der Technik, da deren Herstellung erst 1998 offenbart worden sei.
III. Am 26. Juli 2004 wurde Beschwerde gegen diese Entscheidung eingelegt und gleichzeitig die Beschwerdegebühr entrichtet. Am 6. Oktober 2004 begründete die Beschwerdeführerin ihre Beschwerde und hielt dabei den von der Prüfungsabteilung zurückgewiesenen Hauptantrag 1 und hilfsweise den Hilfsantrag aufrecht. Der Beschwerde wurde nicht abgeholfen und somit wurde sie der Beschwerdekammer vorgelegt (Artikel 109 EPÜ).
IV. Am 24. März 2005 teilte die Kammer der Beschwerdeführerin mit einem Bescheid gemäß Artikel 11 Absatz 1 der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern ihre vorläufige Auffassung mit.
V. Am 6. Mai 2005 reichte die Beschwerdeführerin zusammen mit ihrer Erwiderung einen zweiten Hilfsantrag ein. Der einzige Anspruch lautete wie folgt:
"1. Vektor, bestehend aus MLC-2 Promotor, selektionierbarem Markergen Beta-Galactosidase und dem Reportergen Neomycin als Fusionsgen "Betageo", SV40-Poly A-Tail und gegebenenfalls einer Position zur Aufnahme von immortalisierenden Genen."
VI. In dieser Entscheidung wird auf folgende Entgegenhaltungen Bezug genommen:
(2) : Thomson, J. A. et al., Science, Bd. 282, S. 1145 - 1147, 6. November 1998;
(4) : Bongso A. et al., Human Repr., Bd. 9, Nr. 11, S. 2110 - 2117, November 1994;
(5) : Abbondanzo, S. J. et al., Methods in Enzymology, Bd. 225, S. 803 - 823, 1993;
(7) : Müller, M. et al., FASEB J., Bd. 14, S. 2540 - 2548, Dezember 2000;
(8) : Shamblott, M. J. et al., Proc. Natl. Acad. Sci. USA, Bd. 95, S. 13726 - 13731, November 1998.
VII. Die schriftlichen und in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Argumente der Beschwerdeführerin lassen sich, soweit sie für die vorliegende Entscheidung relevant sind, wie folgt zusammenfassen:
Artikel 83 EPÜ, ausreichende Offenbarung des Gegenstands von Anspruch 1 des Hauptantrags und des 1. Hilfsantrags:
Humane embryonale Herzmuskelzellen, welche die beiden in Anspruch 1 angegebenen Genkonstrukte enthielten, hätten am Prioritätstag vom Fachmann ohne weiteres mit den in der vorliegenden Anmeldung offenbarten Angaben hergestellt werden können.
Als Ausgangsmaterial hätten humane embryonale Stammzellen gemäß der im Dokument (4) beschriebenen Vorgehensweise gewonnen und isoliert werden können. Dokument (4) zeige auch, dass diese humanen Stammzellen in zwei Passagen über einen Zeitraum von ca. 18 bis 24 Tagen kultiviert werden könnten. Die Kulturen seien somit ausreichend stabil, um Kotransfektion durchzuführen, wie im Dokument (7) erwähnt.
Unabhängig davon gäben die in der vorliegenden Anmeldung beschriebenen Angaben sowie der zum Prioritätszeitpunkt bekannte Stand der Technik ausreichende Information, um eine stabile, humane embryonale Stammzelllinie zu etablieren. Die Tatsache, dass die Bereitstellung einer humanen Stammzelllinie erstmalig 1998 (Dokumente (2) und (8)) veröffentlicht worden sei, ändere nichts daran, dass der Fachmann die hierzu notwendigen Informationen bereits 1994 zur Verfügung gehabt habe. Dies zeige sich beim Vergleich der in Dokument (2) beschriebenen Vorgehensweise mit Dokument (5), welches vor dem Prioritätszeitpunkt die Gewinnung von embryonalen Stammzelllinien aus Mäusen beschreibe. Die gesamte Vorgehensweise von Dokument (2) weise keine Merkmale oder Verfahrensschritte auf, die nicht bereits in Dokument (5) explizit genannt worden seien.
Die Bestandteile der erfindungsgemäßen Vektoren gehörten zum allgemeinen Fachwissen. Sie seien auch in der Beschreibung der Patentanmeldung eindeutig charakterisiert. Der Fachmann hätte also keine Schwierigkeiten gehabt, aus diesen Elementen die Vektoren für die Kotransfektion der embryonalen Stammzellen herzustellen.
Auch bei den Menschen funktioniere vom technischen Standpunkt eine in-vitro-Transfizierung von humanen pluripotenten embryonalen Stammzellen in der gleichen Weise wie sie für Mäuse in der Anmeldung beschrieben sei. Die Vorgehensweise, um transfizierte embryonale Stammzellen in Herzmuskelzellen zu differenzieren, sei Stand der Technik.
Zusammenfassend könne somit festgehalten werden, dass der Fachmann ohne unzumutbaren Aufwand die Erfindung (Anspruch 1) ausführen könnte. Die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ seien daher erfüllt.
VIII. Die Beschwerdeführerin beantragte, die Zurückweisungsentscheidung aufzuheben und ein Patent mit folgenden Unterlagen zu erteilen:
auf der Basis des mit Schreiben vom 6. Oktober 2004 eingereichten Hauptantrags, hilfsweise auf der Basis des mit diesem Schreiben eingereichten Hilfsantrags 1, weiter hilfsweise auf der Basis des mit Schreiben vom 6. Mai 2005 eingereichten 2. Hilfsantrags.
Entscheidungsgründe
Artikel 83 EPÜ; ausreichende Offenbarung des Gegenstands von Anspruch 1 des Hauptantrags und des 1. Hilfsantrags
1. Anspruch 1 bezieht sich auf transfizierte embryonale Herzmuskelzellen im Allgemeinen; er umfasst daher humane embryonale Herzmuskelzellen. Bei der Beurteilung der ausreichenden Offenbarung stellt sich die Frage, ob der Fachmann am Prioritätstag in der Lage gewesen wäre, ohne unzumutbaren Aufwand solche Zellen auf der Grundlage der in der Patentschrift als Ganzes enthaltenen Informationen unter Berücksichtigung des allgemeinen Fachwissens zu reproduzieren.
2. Die Beschreibung (Seite 3) lehrt, dass das Ausgangsmaterial für die Isolierung transfizierter embryonaler Herzmuskelzellen embryonale Stammzellen oder primordiale Keimzellen unterschiedlicher, einschließlich menschlicher Herkunft sein können. Es wird weder ein Beispiel gegeben, wie humane Stammzellen oder Keimzellen für die Zwecke der Transfizierung in vitro gehalten werden können, noch wird Bezug auf Dokumente genommen, die diese technische Information offenbaren.
3. Stammzelllinien werden ebenfalls als potentielles nützliches Ausgangsmaterial offenbart, aber auch hier wird nicht auf humane Stammzelllinien Bezug genommnen. Tatsächlich stammt die einzige Stammzelllinie, die ausdrücklich erwähnt wird, von Ratten (Seite 4, D3- Zellen). Im Lauf des Verfahrens räumte die Beschwerdeführerin ein, dass die ersten humanen Stammzelllinien, die jemals beschrieben worden seien, etwa vier Jahre nach dem Prioritätstag isoliert worden seien (vgl. Dokumente (2) und (8)).
4. Die DNA-Fragmente, die zur Verwendung bei der Transfizierung in die Konstrukte einzubringen sind, sind auf den Seiten 2 und 3 der Anmeldung aufgeführt. Wo sie zu erhalten sind, ist nicht dokumentiert.
5. Die Grundzüge des Protokolls, das zur Isolierung der beanspruchten transfizierten embryonalen Herzzellen ausgehend von embryonalen Stammzelllinien - in diesem Zusammenhang wird die D3-Stammzelllinie aus Ratten erwähnt - verwendet werden kann, sind auf den Seiten 4 und 5 enthalten. Diese Grundzüge machen dem Fachmann lediglich das einem anscheinend noch durchzuführenden Versuch zu Grunde liegende Prinzip bewusst, da die Bedingungen, unter denen alle notwendigen Schritte von Anfang bis Ende durchzuführen sind, nicht offenbart werden, und darüber hinaus lediglich sehr dürftige technische Details erwähnt werden. Zwar wird zum Beispiel auf Seite 5 festgestellt: "Bei erfolgreicher Transfektion und Integration des MLC-2v-Betageo Vektors in das Genom der ES-Zellen kommt es zur Expression des Fusionsgens Beta-Galaktosidase/Neomycin. Durch Blaufärbung im Beta-Galaktosidase-Assay lassen sich die kardiomyozytären Zellen, welche klonalen Ursprungs sind, identifizieren.", aber es werden keine diesbezüglichen Angaben vorgelegt.
6. Die Kammer ist davon überzeugt, dass der Fachmann auf der Grundlage des Informationsgehalts der Beschreibung in der eingereichten Fassung nicht in der Lage gewesen wäre, humane transfizierte embryonale Herzmuskelzellen zu isolieren. In der Tat hätte er schon nicht gewusst, wo er überhaupt ansetzen soll.
7. Im Rahmen der Diskussion über die ausreichende Offenbarung betonte die Beschwerdeführerin, dass der Fachmann de facto gewusst hätte, wo er die für die Transfektionsvektoren relevanten DNA-Fragmente erhalten könnte, da sie Teil des allgemeinen Fachwissens seien. Des weiteren sei der Fachmann in der Lage gewesen, menschliche Stamm- oder Keimzellen in vitro so lange zu halten, wie es für die Durchführung der Transfektion erforderlich sei, indem er der Lehre des Dokuments (4) gefolgt wäre, welches die Bedingungen offenbare, unter denen solche Zellen in vitro für zwei Passagen subkultiviert werden könnten, d. h. für einen in dem nachveröffentlichten Dokument (7) genannten Zeitraum, der lang genug sei, um die transfizierten Klone zu isolieren. Alternativ wäre er in der Lage gewesen, eine humane Stammzelle zu isolieren, indem er dem in Entgegenhaltung (5) beschriebenen Protokoll gefolgt wäre, um eine Stammzelllinie aus Ratten zu erhalten. Beweismittel dafür seien z. B. in der nachveröffentlichten Entgegenhaltung (2) zu finden, in der die Isolierung einer humanen Stammzelllinie in derselben Weise wie die der Stammzelllinie aus Ratten in Dokument (5) beschrieben werde.
8. Ob die beiläufige Erwähnung der in die Vektorkonstrukte einzubringenden DNA-Fragmente ausreicht, um ihre Verfügbarkeit zu gewährleisten, muss hier angesichts der folgenden Überlegungen zur Reproduzierbarkeit der humanen Stammzellen/-zelllinien als Ausgangsmaterial nicht entschieden werden. In diesem Zusammenhang erachtet die Kammer die Argumentation der Beschwerdeführerin zugunsten der ausreichenden Offenbarung als unhaltbar.
9. Erstens hatte die Beschwerdeführerin, um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass die in Entgegenhaltung (4) offenbarte Methode die in-vitro- Haltung menschlicher Stammzellen lange genug ermögliche, um die Transfektion durchzuführen, die Lehre des Dokuments (4) mit der der Nachveröffentlichung (7) zu vergleichen - die die Transfektion humaner Stammzellen beschreibt. Eine solche Beurteilung konnte offensichtlich nicht am Prioritätstag erfolgt sein. Dokument (5) hingegen beschreibt ein Protokoll für die Isolierung von Stammzelllinien aus Ratten. Der Fachmann, der nach der Rechtsprechung (T 500/91 vom 21. Oktober 1992) als im wesentlichen konservativ anzusehen ist, hätte nicht die Initiative ergriffen, dieses Protokoll für die Isolierung humaner Stammzelllinien zu verwenden, da aus Dokument (5) keine dahingehende Anregung zu entnehmen ist.
10. Zweitens und vor allem ist es ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern, dass die ausreichende Offenbarung auf der Grundlage der Anmeldung insgesamt (T 14/83, ABl. 1984, 105), einschließlich der Entgegenhaltungen, deren Inbezugnahme berücksichtigt werden kann (T 267/91 vom 28. April 1993), beurteilt wird. Darüber hinaus kann der Fachmann das allgemeine Fachwissen nutzen, um die in der Anmeldung enthaltenen Informationen zu ergänzen (T 206/83, ABl. EPA 1987, 5). Das allgemeine Fachwissen wird als Enzyklopädien, Handbücher, Lehrbücher oder Lexika definiert (T 766/91 vom 29. September 1993, Nr. 8.2, T 206/83, s. o., Nr. 5 und T 234/93 vom 15. Mai 1997, Nr. 4).
11. Im vorliegenden Fall werden die Dokumente (4) und (5) in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht genannt, bei denen es sich darüber hinaus um wissenschaftliche Veröffentlichungen handelt, d. h. sie entsprechen auch nicht der Definition des allgemeinen Fachwissens. Demgemäß können ihre Lehren nicht mit den Informationen in der Patentschrift "kombiniert" werden, um die ausreichende Offenbarung zu rechtfertigen.
12. Schließlich ist hervorzuheben, dass alle oben erwähnten technischen Schwierigkeiten eintreten, schon bevor versucht wird, die Grundzüge des Protokolls auszuführen, welche erforderlich sind, um die embryonalen Herzmuskelzellen aus Stammzellen/Zelllinien zu isolieren. Wie bereits unter Punkt 5. oben erwähnt, sind diese Grundzüge selbst technisch unzureichend und werden ferner nicht für menschliche Zellen offenbart.
13. Aus all diesen Gründen ist davon auszugehen, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 vom Fachmann nicht ohne zumutbaren Aufwand ausgeführt werden konnte, wie in Artikel 83 EPÜ gefordert. Da Anspruch 1 im Hauptantrag und im ersten Hilfsantrag identisch sind, müssen beide Anträge zurückgewiesen werden.
Zweiter Hilfsantrag
14. Dieser Antrag enthält als einzigen Anspruch einen Anspruch, der Anspruch 5 des Hauptantrags entspricht. Dieser Anspruch, der auf einen spezifischen DNA-Vektor gerichtet ist, wurde von der Prüfungsabteilung noch nicht geprüft. Die Kammer beschließt daher, von ihrem Ermessen nach Artikel 111 (1) EPÜ Gebrauch zu machen und die Angelegenheit zur weiteren Prüfung und Entscheidung an die erste Instanz zurückzuverweisen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Verfahren wird zur weiteren Prüfung auf der Basis des 2. Hilfsantrags an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen.