T 0406/15 04-02-2016
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Anschubhilfe
Neuheit - (ja)
Zurückverweisung an die erste Instanz - (ja)
Enscheidung nach Aktenlage - Begründungsmängel
Sachverhalt und Anträge
I. Die europäische Patentanmeldung Nr. 08011767.4 (im Folgenden: "Anmeldung") betrifft eine Anordnung mit einem bewegbaren Möbelteil, insbesondere einer Schublade, einer Antriebseinheit und einer Regeleinrichtung zur Regelung der Antriebseinheit.
II. Die Anmeldung ist als Teilanmeldung der früheren Anmeldung Nr. 03011678.4 (veröffentlicht als EP 1 374 732 A1) eingereicht worden.| |
III. Die Prüfungsabteilung hat die Anmeldung gemäß Artikel 97 (2) EPÜ zurückgewiesen. Die Entscheidung erging ohne mündliche Verhandlung nach Aktenlage durch Verweis auf frühere Bescheide vom 7. Oktober 2008 und 30. April 2014.
IV. Der Ablauf des Prüfungsverfahrens lässt sich, soweit er für die Entscheidung relevant ist, wie folgt zusammenfassen:
Der erweiterte Recherchenbericht nach Regel 62 (1) EPÜ, der sich aus dem Recherchenbericht und der Stellungnahme zur Recherche zusammensetzt, wurde der Anmelderin mit einer Mitteilung vom 15. Oktober 2008 zugestellt. In der Stellungnahme wurde bemängelt, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht neu gegenüber einer Druckschrift (D1) sei.
Mit Mitteilung nach Artikel 94 (3) EPÜ vom 19. Juni 2009 (Form 2001A) wurde die Beschwerdeführerin aufgefordert, die in der dem Recherchenbericht beiliegenden Stellungnahme festgestellten Mängel zu beseitigen.| |
In Erwiderung hat die Beschwerdeführerin mit Schriftsatz vom 1. Juli 2009 begründet, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 gegenüber D1 neu sei.
In einem Bescheid vom 15. Mai 2014, der einer Ladung zur mündlichen Verhandlung als Anlage beigefügt war, hat die Prüfungsabteilung ihre Meinung bekräftigt, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 durch die Lehre von D1 vorweggenommen sei.
Mit Schriftsatz vom 15. Juli 2014 hat die Beschwerdeführerin ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurückgenommen und eine Entscheidung nach Aktenlage beantragt.
V. Gegen diese darauf ergangene Entscheidung wendet sich die Anmelderin (im Folgenden: Beschwerdeführerin) mit ihrer Beschwerde.
VI. Mit einer Mitteilung gemäß Regel 100 (2) EPÜ und Artikel 17 (2) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) hat die Kammer der Beschwerdeführerin ihre vorläufige Einschätzung der Erfolgssaussichten der Beschwerde mitgeteilt.
VII. Anträge
Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Erteilung eines Patents auf der Basis der ursprünglich eingereichten Unterlagen.
VIII. Ansprüche
Der unabhängige Anspruch 1 lautet folgendermaßen:
"1. Anordnung mit wenigstens einem bewegbaren Möbelteil, insbesondere mit einer Schublade, oder dergleichen, mit wenigstens einer Antriebseinheit und mit wenigstens einer Regeleinrichtung zur Regelung der wenigstens einen Antriebseinheit, dadurch gekennzeichnet, dass die Anordnung (7) wenigstens eine, vorzugsweise analoge, Beschleunigungsmesseinrichtung (2) aufweist, wobei die wenigstens eine Beschleunigungsmesseinrichtung (2) ein für durch von außen an das wenigstens eine bewegbare Möbelteil (3) angelegte Kräfte verursachte Beschleunigungen charakteristisches Beschleunigungssignal erzeugt, welches der wenigstens einen Regeleinrichtung (1) zuführbar ist und dass die Anordnung zur Messung der Position und/oder der Geschwindigkeit und/oder der Beschleunigung des bewegbaren Möbelteils (3) einen Resolver oder einen optischen Encoder oder einen magnetischen Encoder umfasst, dessen Signale zumindest der Regeleinrichtung (1) zuführbar sind."
Die abhängigen Ansprüche 2 bis 16 betreffen bevorzugte Ausführungsformen der in Anspruch 1 definierten Anordnung.
IX. Entgegenhaltung
Im Recherchenbericht wurde folgende Druckschrift genannt:
D1: EP 1 323 363 A1
X. Das schriftsätzliche Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:
D1 nehme der Gegenstand von Anspruch 1 nicht vorweg, denn sie offenbare nicht das Merkmal des Anspruchs, wonach "die Anordnung zur Messung der Position und/oder der Geschwindigkeit und/oder der Beschleunigung des bewegbaren Möbelteils einen Resolver oder einen optischen Encoder oder einen magnetischen Encoder umfasst".
Auf Spalte 5, Zeilen 21 bis 25 von D1 heiße es zwar, dass die Positionsmesseinrichtung 4 der dort dargestellten Anordnung ein "als Sinus-Cosinus-Geber oder Incremental-Geber ausgebildeter Encoder" sein könne. An dieser Stelle sei von einem Resolver, einem optischen Encoder oder einem magnetischen Encoder aber nicht die Rede.
Die Prüfungsabteilung habe argumentiert, dass diese Offenbarungsstelle von D1 einen "Bereich" von Encodern offenbare, der den in Anspruch 1 definierten "Bereich" von Encodern überlappe, und dass ein Fachmann ein Arbeiten im Überlappungsbereich im Sinne der Rechtsprechung T 26/85 ernsthaft in Erwägung ziehe, so dass die Neuheit des beanspruchten Bereichs nicht gegeben sei. Die zitierte Entscheidung T 26/85 beschäftige sich jedoch mit Parameterbereichen und sei auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar.
Entscheidungsgründe
1. Der Gegenstand von Anspruch 1 ist durch den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung gestützt (in EP 1 374 732 A1 siehe Ansprüche 1 und 35 bis 37 mit der Lehre in den Absätzen 27 und 28).
2. Die europäische Anmeldung D1 besitzt zwar die Priorität vom 27. Dezember 2001, sie wurde aber erst am 2. Juli 2003 und mithin nach dem Anmeldetag der vorliegenden Anmeldung (23. Mai 2003) veröffentlicht. Ihr Inhalt stellt deshalb Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ und Artikel 54 (4) EPÜ 1973 dar.| |
3. Neuheit gegenüber D1
3.1 D1 offenbart eine Anordnung der im Oberbegriff des Anspruchs 1 definierten Gattung, welche eine Positionsmesseinrichtung aufweist, die ein für den Öffnungszustand des bewegbaren Möbelteils charakteristisches und der Regeleinrichtung zuführbares Positionssignal erzeugt (siehe u.a. Anspruch 3 und Absatz 7).
3.2 Entgegen der Auffassung der Prüfungsabteilung ist in D1 nicht offenbart, dass die dort beschriebene Positionsmesseinrichtung "einen Resolver oder einen optischen Encoder oder einen magnetischen Encoder umfasst".
3.3 Auf Spalte 5, Zeilen 21 bis 25 von D1 ist zwar angegeben, dass die in Figur 2 dargestellte Positionsmesseinrichtung 4 zum Beispiel ein "als Sinus-Cosinus-Geber oder Incremental-Geber ausgebildeter Encoder" ist. Die Worte "Sinus-Cosinus-Geber und oder Incremental-Geber" definieren aber nur die Funktion des Encoders und lassen seine Bauart völlig offen. Die Inkrementalgeber arbeiten üblicherweise mittels mechanischer (mit Schleifkontakten), optischer oder magnetischer Abtastung eines Strichrasters auf einem Lineal oder einer Scheibe. Sinus-Cosinus-Geber sind Inkrementalgeber, welche anstelle von Rechteckimpulsen sinusförmige Signale erzeugen. Aus der genannten Offenbarungsstelle in D1 ergibt sich also nicht zwangsläufig, dass die Positionsmesseinrichtung 4 einen optischen oder magnetischen Encoder umfasst.
3.4 Ferner ist an keiner Stelle von D1 offenbart, dass die Positionsmesseinrichtung einen Resolver umfasst. Im Bereich der Sensorik wird als Resolver ein elektromagnetischer Messumformer zur Wandlung der Winkellage eines Rotors in eine elektrische Größe bezeichnet. Der Resolver ist ein Absolutgeber: Im Gegensatz zu Inkrementalgebern liefert er absolute Winkelwerte.
3.5 Die Prüfungsabteilung war der Auffassung, dass der Wortlaut "als Sinus-Cosinus-Geber oder Incremental-Geber ausgebildeter Encoder" in D1 und der Wortlaut "einen optischen Encoder oder einen magnetischen Encoder" in Anspruch 1 zwei sich überlappenden Bereiche definieren, und dass die Neuheit des beanspruchten Bereichs nach Anwendung des in T 26/85 genannten Kriteriums zu verneinen sei, weil ein Fachmann ernsthaft erwogen hätte, im Überlappungsbereich zu arbeiten. Diesem Argument kann nicht gefolgt werden. Das in T 26/85 genannte Neuheitskriterium gehört zu den von den Beschwerdekammern in ständiger Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zur Prüfung der Neuheit von Erzeugnissen oder Verfahren, welche durch Parameterbereiche definiert sind, gegenüber bekannten Erzeugnissen oder Verfahren, die durch breitere oder überlappende Parameterbereiche gekennzeichnet sind (siehe die Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 7. Auflage, 2013, I.C.5 und I.C.5.2). Diese Grundsätze lassen sich auf die hier in Rede stehende Erfindung nicht übertragen: Es geht im vorliegenden Fall nicht um die Auswahl eines Teilbereichs numerischer Zahlenwerte aus einem größeren Bereich, sondern um die Auswahl eines spezifischen Merkmals, nämlich eines Resolvers oder eines optischen oder magnetischen Encoders, aus der generischen Offenbarung von D1.
3.6 Demnach ist der beanspruchte Gegenstand neu gegenüber D1.
4. Zurückverweisung
4.1 Die angefochtene Entscheidung stützt sich auf mangelnde Neuheit im Hinblick auf D1. Die Frage der erfinderischen Tätigkeit wurde dagegen von der Prüfungsabteilung noch nicht abschließend erörtert. 4.2 Der Recherchenbericht nennt nur D1, dessen Inhalt nach Artikel 56 Satz 2 EPÜ bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht in Betracht gezogen werden darf. Die Prüfung der erfinderischen Tätigkeit setzt also eine zusätzliche Recherche nach dem einschlägigen Stand der Technik voraus. 4.3 Unter diesen Umständen ist die Angelegenheit an die Prüfungsabteilung zur weiteren Entscheidung, insbesondere zur Durchführung einer zusätzlichen Recherche und zur Prüfung der erfinderischen Tätigkeit, zurückzuverweisen.| |
5. Mit Schriftsatz vom 12. Oktober 2015 hat die Beschwerdeführerin ihr Einverständnis mit der Zurückverweisung an die Prüfungsabteilung erklärt und ihren Antrag auf Anberaumung einer mündlichen Verhandlung unter der Bedingung dieser Zurückverweisung zurückgezogen.
6. Rückzahlung der Beschwerdegebühr
6.1 Gemäß Regel 103(3) EPÜ kann die Beschwerdekammer die Rückzahlung der Beschwerdegebühr auch ohne einen entsprechenden Antrag, also von Amts wegen anordnen, sofern die Beschwerde Erfolg hat und ein wesentlicher Verfahrensfehler dies als billig erscheinen lässt. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn eine der Begründungspflicht unterliegende Entscheidung durchgreifende Begründungsmängel aufweist.
6.2 Eine Zurückweisungsentscheidung ist - unabhängig davon, ob sie aufgrund einer mündlichen Verhandlung oder nach Lage der Akten ergeht - eine beschwerdefähige und damit zu begründende Entscheidung (siehe Regel 111 (2), Satz 1 EPÜ). Die Begründung soll es dem Anmelder und gegebenenfalls einer mit dem Fall befassten Beschwerdekammer ermöglichen zu überprüfen, ob die Zurückweisung der Anmeldung gerechtfertigt war.
6.3 Eine Zurückweisungsentscheidung "nach Aktenlage" ergeht in Form einer vollständig begründeten Entscheidung, oder alternativ in Form eines Formblatts (EPA-Formblatt 2061), das auf einen früheren Bescheid verweist. Unter dem Begriff "Bescheid" ist in diesem Zusammenhang ein von der Prüfungsabteilung erlassener Bescheid zu verstehen, d. h. eine Mitteilung nach Artikel 94 (3) EPÜ. Um die grundsätzliche Pflicht zur Begründung der Entscheidung zu erfüllen, darf eine Formblatt-Entscheidung jedoch nur dann ergehen, wenn der frühere Bescheid ausreichend begründet und hinsichtlich der Gründe für die Zurückweisung vollständig war und der Anmelder seit dem früheren Bescheid keine neuen Argumente oder Änderungen eingereicht hat. Wird in der Formblatt-Entscheidung auf mehrere frühere Bescheide verwiesen, ist ebenfalls darauf zu achten, dass die Begründungspflicht erfüllt wird (siehe die Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt, November 2015, C-V, 15.2 und 15.3).
6.4 Gemäß ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist die Begründungspflicht insbesondere dann nicht erfüllt, wenn eine Beschwerdekammer den möglichen Grund für die Zurückweisung einer Anmeldung erst rekonstruieren oder gar darüber spekulieren muss (siehe u.a. die Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 7. Auflage, 2013, III.K.4.2.3 c) und 4.3, Entscheidung vom 24. Mai 2007, T 1698/06, Punkt 1.1 der Gründe).
6.5 Im vorliegenden Fall hat die Prüfungsabteilung die Anmeldung nach Lage der Akten unter Verwendung des EPA-Formblattes 2061 mit Verweis auf zwei frühere "Bescheide" vom 7. Oktober 2008 und 30. April 2014 zurückgewiesen.
6.6 Aus der Akte ergibt sich jedoch nicht, dass am 7. Oktober 2008 und 30. April 2014 ein Bescheid der Prüfungsabteilung an die Beschwerdeführerin ergangen ist. Stattdessen hat die Prüfungsabteilung einen einzigen Bescheid erlassen, nämlich die Mitteilung nach Artikel 94 (3) EPÜ vom 15. Mai 2014, die der Ladung zur mündlichen Verhandlung als Anlage beigefügt war. Dieser einzige Bescheid enthält einen (kurz) begründeten Einwand der mangelnden Neuheit des Anspruchs 1 gegenüber D1.
6.7 Diese Entscheidung ist schon insofern nicht völlig beanstandungsfrei, als die Prüfungsabteilung zuvor formal nur einen einzigen Bescheid erlassen hatte, nämlich die Mitteilung nach Artikel 94 (3) EPÜ vom 15. Mai 2014, die der Ladung zur mündlichen Verhandlung als Anlage beigefügt war.
6.8 Der am 7. Oktober 2008 erstellte Recherchenbericht stellte dagegen keinen Bescheid nach Artikel 94 (3) EPÜ dar. Dies gilt auch für die dem Recherchenbericht beigefügte Stellungnahme vom 15. Oktober 2008 zur Recherche, da sie von der Recherchenabteilung erstellt war. Die Prüfungsabteilung war erst ab dem späteren Zeitpunkt der Stellung des Prüfungsantrags und der Zahlung der Prüfungsgebühr für die Prüfung der Anmeldung zuständig (Artikel 94 (1), Satz 2 und Artikel 18 (1) EPÜ). Daran ändert nichts, dass ein und derselbe Mitarbeiter des Europäischen Patentamts sowohl mit der Recherche als auch mit der Sachprüfung beauftragt war und dass die Stellungnahme zur Recherche in Form eines Prüfungsbescheids abgefasst worden war. Auch dann sind die Recherche und die nachfolgende Sachprüfung weiterhin getrennte Abschnitte des Erteilungsverfahrens vor dem EPA.
6.9 Auch die Mitteilung vom 19. Juni 2009 auf dem EPA-Formblatt 2001A ist kein Bescheid nach Artikel 94 (3) EPÜ, denn sie wurde automatisch computergeneriert und stellt keine rechtswirksame Handlung der Prüfungsabteilung dar (siehe J 9/10, Gründe Nr. 2).
6.10 Darüber hinaus ist im formal ersten und einzigen Bescheid vom 15. Mai 2014 nicht deutlich dargestellt, aus welchem genauen Grund die Anmeldung zurückgewiesen wurde. Im Bescheid ist der Einwand der mangelnden Neuheit des Anspruchs 1 im Hinblick auf D1 ausschließlich damit begründet, dass der in D1 erforderte Resolver bzw. Encoder durch den in D1 offenbarten Encoder vorweggenommen sei, der als Sinus-Cosinus-Geber oder Incremental-Geber ausgebildet sei. Der Bescheid enthält keinerlei Angaben darüber, wo die weiteren Merkmale des Anspruchs in D1 offenbart sein sollen. Dies reicht auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Beschwerdeführerin sich in Beschwerdeverfahren selbst nicht auf die mangelnde Begründung berufen hat, allenfalls gerade noch knapp aus, um die Begründungspflicht nach Regel 111 (2), Satz 1 EPÜ zu erfüllen (siehe Punkt 6.4 oben).
7. Nach alledem kam eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr nicht in Betracht.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Prüfungsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.