T 2124/16 27-11-2020
Download and more information:
VERFAHREN ZUR VORHERSAGE DER ENTSTEHUNG VON LÄNGSRISSEN BEIM STRANGGIESSEN
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, mit der die Europäische Anmeldung Nr. 09761302.0 zurückgewiesen wurde.
II. In ihrer Entscheidung hat die Prüfungsabteilung festgestellt, dass der Gegenstand der Ansprüche des zugrundeliegenden Antrags nicht die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ erfüllt.
III. Hiergegen hat die Anmelderin (im Folgenden: die Beschwerdeführerin) Beschwerde eingelegt.
IV. In der als Anlage zur Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2007) teilte die Kammer der Beschwerdeführerin ihre vorläufige Einschätzung der Beschwerde mit.
V. Mit Schreiben vom 2. Oktober 2020 nahm die Beschwerdeführerin ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurück und teilte mit, dass sie an der mündlichen Verhandlung am 27. November 2020 nicht teilnehmen werde.
VI. Die Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde daraufhin aufgehoben.
VII. Anträge
Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Erteilung eines Patents auf der Basis des mit Schriftsatz vom 24. Juni 2014 eingereichten Anspruchssatzes.
VIII. Anspruch 1 des mit Schreiben vom 24. Juni 2014 eingereichten Antrags lautet:
"Verfahren zur Vorhersage der Entstehung von Längsrissen beim Stranggießen von Stahlbrammen,
wobei die örtliche Strangtemperatur durch in der Kokillenwand verteilt angeordnete Thermoelemente gemessen wird,
wobei unter Berücksichtigung der aktuellen, von den in der Kokille angeordneten Thermoelementen gemessenen Temperaturwerte und auf der Basis der bei einem rißfreien Zustand ermittelten Temperaturwerte eine statistische Bewertung des Risikos eines längsrißbedingten Durchbruchs des Stranges erfolgt,
dadurch gekennzeichnet,
dass für die Kokille als spezifischer Fingerabdruck eine statistische Bewertung ermittelt wird,
aus der Messung und Bewertung der in Reihen und Spalte angeordneten Thermoelemente und für die statistische Bewertung die PCA oder Hauptkomponentenanalyse angewandt wird, mit einer Einbeziehung von bei vorhergehenden Abgüssen erhaltenen Daten,
wobei durch ein der PCA oder Hauptkomponentenanalyse nachgeschaltetes Expertensystem zwischen einem vorhandenen Längsriss oder einem anderen Defekt anhand der, in einer Spalte übereinander angeordneten Thermoelementen ermittelten Temperaturgradienten, unterschieden wird, und
dass für die statistische Bewertung
a) die Häufigkeitsverteilung der Längsrisse über die
Strangbreitseite ermittelt wird,
b) die dynamische Temperaturverteilung in Höhenrichtung
der Kokille über die Breitseite bestimmt wird,
und/oder
c) die Veränderung der statischen Temperaturverteilung
in Höhenrichtung der Kokille über die Breitseite
bestimmt wird,
und
dass die prozentuale und die zeitliche Häufigkeitsverteilung von Längsrissen über die Strangbreitseite ermittelt wird, und
dass die dynamische Temperaturverteilung in Höhenrichtung der Kokillenbreitseite durch spaltenartig über die Höhe der Kokillenwand verteilt angeordnete Thermoelemente bestimmt wird."
IX. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin kann folgendermaßen kurz zusammengefasst werden.
Das in Anspruch 1 genannte Expertensystem beruhe auf dem konkreten Fachwissen. Dieses System umfasse drei Verfahrensschritte, die in der ursprünglich eingereichten Anmeldung offenbart werden.
Eine Durchführung des in Anspruch 1 definierten Verfahrens stelle für den Fachmann daher kein Problem dar.
Entscheidungsgründe
1. Artikel 83 EPÜ
1.1 Anspruch 1 betrifft ein Verfahren zur Vorhersage der Entstehung von Längsrissen in einer Stahlbramme.
Kern des Verfahrens gemäß Anspruch 1 ist eine modellbasierte Hauptkomponentenanalyse, der ein Expertensystem nachgeschaltet ist, das zwischen einem vorhandenen Längsriss und anderen Defekten unterscheidet.
1.2 Die Prüfungsabteilung hat zurecht festgestellt, dass aus der Anmeldung weder allgemein noch spezifisch anhand eines konkreten Ausführungsbeispiels hervorgeht,
- wie das Expertensystem aufgebaut ist,
- wie dies nachgeschaltet werden soll und
- wie die gemäß Anspruch 1 erforderliche
Unterscheidung zwischen einem vorhandenen
Längsriss und anderen Defekten erfolgen kann.
1.3 Die Anmeldung offenbart hierzu auf Seite 1, zweiter Absatz, dass ein Längsriss durch einen scharfen Abfall der Temperatur einzelner Thermoelemente feststellbar ist. Dies erklärt zwar, wie ein Längsriss erkannt werden kann. Wie sich dieser jedoch von allen anderen Defekten wie beispielsweise sternförmigen Rissen unterscheiden lässt, wird daraus nicht deutlich.
Auf Seite 3, letzter Satz in Absatz 2 wird zudem ebenfalls nur beschrieben, dass eine Unterscheidung vorgenommen wird. Allerdings gibt diese Textstelle wie auch die übrige Beschreibung dem Fachmann keinen Hinweis, wie genau anhand des ermittelten Temperaturgradienten zwischen einem Längsriss und anderen Defekten unterschieden werden kann.
1.4 Zudem lässt die Anmeldung nicht erkennen, wie ein in Anspruch 1 definiertes Verfahren zur Vorhersage der Entstehung von Rissen durchgeführt werden soll, das gerade darauf beruht, dass ein bereits vorhandener Riss von einem Thermoelement detektiert wird und von einem Expertensystem als solcher erkannt wird. Auch ist diesbezüglich fraglich, wie die gemäß Anspruch 1 erforderliche Häufigkeitsverteilung der Längrisse ermittelt werden kann, wenn die Vorhersage der Entstehung der Risse noch nicht durchgeführt wurde.
Ferner wird aus dem Wortlaut des Anspruchs 1 noch nicht einmal klar deutlich, welches der in Anspruch 1 genannten Verfahren zur statistischen Bewertung zwingend durchzuführen sind.
Ein Fachmann wird daher von der Anmeldung nicht in die Lage versetzt, das beanspruchte Verfahren ohne weiteres nachzuarbeiten, da essentielle Informationen diesbezüglich fehlen.
1.5 Zu den Argumenten der Beschwerdeführerin
1.5.1 Das Expertensystem stelle das konkrete Wissen eines Fachmanns über die zu beobachtenden Vorgänge dar.
Die Anmeldung offenbart in Hinblick auf das Expertensystem im 7. Absatz auf Seite 2, dass dieses auf unscharfen Fuzzy-Regeln basiert. Selbst wenn man davon ausgehen sollte, dass einem Expertensystem allgemeines Fachwissen zugrunde liegt, ist nicht erkennbar, welches konkrete Fachwissen zu berücksichtigen ist und wie dieses Fachwissen in Form von unscharfen Fuzzy-Regeln durch "geschicktes nachgeschalten" gemäß der Lehre im besagten Absatz auf Seite 2 einzusetzen ist.
1.5.2 Das Expertensystem umfasse drei Schritte, die in der Anmeldung genannt werden.
Die Beschwerdeführerin zitiert dazu einzelne Textstellen der Anmeldung:
Seite 1, Absatz 2, Sätze 2, 4 und 5 sowie
Seite 3, Absatz 2, Sätze 2 und 4.
In Hinblick darauf argumentiert sie, dass die darin beschriebenen Angaben
a) zur Korrektur der Signale der Thermoelemente und
b) zur Verwendung des daraus ermittelbaren
Temperaturgradienten
zusammen drei Schritte erkennen lassen, die das einzusetzende Expertensystem charakterisieren.
Die Anmeldung enthält jedoch keinerlei Lehre, dass ein Expertensystem drei Schritte aufweisen muss und dass gerade die von der Beschwerdeführerin identifizierten, unabhängig voneinander in der Anmeldung einzeln beschriebenen Verfahrensschritte zusammen ein derartiges Expertensystem bilden können.
Die Anmeldung beschreibt zwar auf Seite 1 im einleitenden Teil die Notwendigkeit, die Signale der Thermoelemente zu korrigieren. Allerdings lässt dies keinen Hinweis darauf erkennen, dass das auf Seite 2 im 7. Absatz erstmals genannte Expertensystem diese Korrektur der Signale der Thermoelemente umfassen soll und nicht beispielsweise zusätzlich zu der auf Seite 1 allgemein beschriebenen Korrektur vorhanden sein muss.
Die Anmeldung offenbart ferner im zweiten Absatz auf Seite 3, dass das Expertensystem nur die Thermoelemente einer Spalte auswertet und anhand des Temperaturgradienten entscheidet, ob ein Längsriss vorliegt. Daraus ist aber weder unmittelbar erkennbar noch anhand des Fachwissens ableitbar, ab welcher Größe und Ausdehnung ein Temperaturgradient einen Längsriss abbilden oder gar vorhersagen kann und inwieweit der Temperaturgradient verwendet werden kann, um einen andersartigen Defekt auszuschließen.
1.5.3 Das Expertensystem sei gemäß Seite 4, letzte Absätze der Beschwerdebegründung wie folgt aufgebaut:
"I. Spalten:
Thermoelemente einer Spalte werden von den Längrissen bzw. dem Längsriss der Reihe nach passiert.
II. Gradient:
Es wird anhand des Temperaturgradienten entschieden, ob ein Längsriss vorliegt.
III. Ortsfest:
Längsrisse treten in der Strangoberfläche auf und werden durch ein ortsfestes Bezugssystem korrigiert."
Dieser von der Beschwerdeführerin vorgeschlagene Aufbau eines Expertensystems korreliert nicht mit den im Absatz 1.5.2 zitierten, auf den Seiten 2 und 3 der Anmeldung beschriebenen Verfahrensschritten, die von dem Expertensystem vermeintlich durchgeführt werden sollen. Zudem ist diese Argumentation aus den folgenden Gründen nicht nachvollziehbar.
a) zu "I. Spalten"
Es ist zwar nachvollziehbar, dass die Signale von Thermoelementen in einer Spalte ausgewertet werden können. Spalten sind aber als solche kein Element eines Expertensystems.
Auch ist es sicher ohne weiteres möglich, dass Risse im Strang Thermoelemente passieren können. Allerdings sind weder Thermoelemente noch Risse Teil eines Expertensystems.
Das Element "I. Spalten" beschreibt daher kein Element eines Expertensystems. Vielmehr müsste das System eine Auswertungseinheit aufweisen, die Signale der Thermoelemente spaltenweise auswerten kann. Jedoch wird nicht beschrieben, wie eine derartige Auswertungseinheit aussehen könnte und wie diese gemäß der Anforderung im siebten Absatz auf Seite 2 "geschickt" nachgeschaltet werden kann.
b) zu "II. Gradient"
Der Thermogradient stellt eine Messgröße dar, ist aber nicht Teil eines Expertensystems, das nicht nur eine bloße Messgröße darstellt, sondern soll vielmehr dazu befähigt sein muss, Längsrisse zu erkennen. Die bloße Angabe der erforderlichen Funktionalität lässt nicht erkennen, wie diese in der Praxis unter Berücksichtung der Messgröße umgesetzt werden kann, also ab welcher Größe und Ausdehnung ein Temperaturgradient einen Längsriss abbilden oder gar vorhersagen kann.
c) zu "III. Ortsfest"
Die Anmeldung enthält keinerlei Hinweis, dass das Expertensystem ortsfest aufgebaut sein muss. Auch wird nicht beschrieben, dass es in einem dritten Schritt Längsrisse durch ein ortsfestes Bezugssystem korrigieren kann. Insbesondere ist aus der Argumentation auf den Seiten 2 und 3 der Beschwerdebegründung nicht erkennbar, in wie weit gerade die Längsrisse selbst und nicht das zeitlich erfasste Signal der Thermoelemente korrigiert werden können.
1.5.4 Die Argumentation der Beschwerdeführerin ist daher nicht überzeugend und stellt insbesondere die Argumentation in der Begründung der angefochtenen Entscheidung nicht in Frage.
1.6 Die Kammer kommt daher in Anlehnung an die angefochtene Entscheidung zu dem Schluss, dass die Erfindung in der Anmeldung unzureichend offenbart ist und der Gegenstand des mit Schreiben vom 24. Juni 2014 eingereichten Antrags nicht die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ erfüllt.
2. Da somit kein gewährbarer Anspruchssatz vorliegt, hat die Beschwerde keinen Erfolg.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.