T 1682/18 (Erzeugen von Mauttransaktionen / Kapsch TrafficCom) 29-06-2021
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Verfahren, Komponenten und Systeme zum Erzeugen von Mauttransaktionen
Patentansprüche - Klarheit im Einspruchsverfahren
Patentansprüche - Deutlichkeit (nein)
Änderung nach Ladung - außergewöhnliche Umstände (nein)
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, das Patent EP2242024 in geänderter Form gemäß dem damaligen Hilfsantrag aufrechtzuerhalten.
II. Die Beschwerdeführerin beantragte mit der Beschwerde, die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben und das Streitpatent in vollem Umfang zu widerrufen.
III. In ihrer Erwiderung beantragte die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin), die Beschwerde zurückzuweisen. Hilfsweise beantragte sie, das Patent gemäß einem Hilfsantrag (eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung) aufrechtzuerhalten.
IV. In einem Bescheid nach Artikel 15(1) VOBK 2020 teilte die Kammer den Beteiligten ihre vorläufige Meinung mit, nach der, unter anderem, die Ansprüche beider Anträge der Beschwerdegegnerin nicht hinreichend deutlich im Sinne von Art. 84 EPÜ seien.
V. Daraufhin reichte die Beschwerdegegnerin Hilfsanträge 1 bis 4 sowie weitere Argumente ein.
VI. Die mündliche Verhandlung fand am 29. Juni 2021 in Form einer Videokonferenz statt. Die Beschwerdegegnerin überreichte dort zwei Zeichnungen per E-Mail.
VII. Schlussanträge
Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das europäische Patent in vollem Umfang zu widerrufen.
Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen, hilfsweise, das Patent gemäß einem der mit Schreiben vom 28. Mai 2021 eingereichten Hilfsanträge 1 bis 4 aufrechtzuerhalten.
VIII. Anspruch 1 wie aufrechterhalten (Hauptantrag der Beschwerdegegnerin) lautet wie folgt:
"Verfahren zum Erzeugen von Mauttransaktionen in einem Straßenmautsystem, das
zumindest ein erstes ein Mobilfunksystem umfassendes Subsystem mit einem ersten geographischen Abdeckungsbereich zur erste Mauttransaktionen erzeugenden Verortung von Fahrzeuggeräten mittels globaler Satellitennavigation und
zumindest ein zweites lokale Vermautungsstellen umfassendes Subsystem mit einem den ersten überlappenden zweiten geographischen Abdeckungsbereich zur zweite Mauttransaktionen erzeugenden Verortung von Fahrzeuggeräten mittels dieser lokalen Vermautungsstellen aufweist,
wobei zumindest einige Fahrzeuggeräte mit beiden Subsystemen zusammenwirken können und
die Subsysteme ihre Mauttransaktionen an eine gemeinsame Zentrale zur Verarbeitung senden,
dadurch gekennzeichnet, daß das erste Subsystem für Straßensegmente, welche das zweite Subsystem bei seiner Erzeugung von zweiten Mauttransaktionen berücksichtigt, keine ersten Mauttransaktionen erzeugt."
IX. Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 entspricht Anspruch 1 des Hauptantrags, wobei der Ausdruck "für die mit beiden Subsystemen (9, 11) zusammenwirkenden Fahrzeuggeräte (3)" hinter dem Wort "daß" hinzugefügt worden ist.
X. Hilfsantrag 2 entspricht dem Hauptantrag, wobei Ansprüche 2, 3, 6, 7 und 9 bis 12 gestrichen worden sind.
XI. Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 entspricht Anspruch 1 des Hauptantrags, zu dem die Merkmale des Anspruchs 2 hinzugefügt worden sind:
"dadurch gekennzeichnet, daß zu seiner Mauttransaktionserzeugung (13) das erste Subsystem (9) eine erste Geodatenbank (15) und das zweite Subsystem (11) eine zweite Geodatenbank (16) von mautpflichtigen Straßensegmenten (B, C, D) verwendet, wobei die erste Geodatenbank (15) nur solche mautpflichtigen Straßensegmente (B) enthält, welche in der zweiten Geodatenbank (16) nicht vorkommen."
XII. Anspruch 1 des Hilfsantrags 4 entspricht Anspruch 1 des Hilfsantrags 1, zu dem die Merkmale des Anspruchs 2 hinzugefügt worden sind:
"dadurch gekennzeichnet, daß zu seiner Mauttransaktionserzeugung (13) für die mit beiden Subsystemen (9, 11) zusammenwirkenden Fahrzeuggeräte (3) das erste Subsystem (9) eine erste Geodatenbank (15) und das zweite Subsystem (11) eine zweite Geodatenbank (16) von mautpflichtigen Straßensegmenten (B, C, D) verwendet, wobei die erste Geodatenbank (15) nur solche mautpflichtigen Straßensegmente (B) enthält, welche in der zweiten Geodatenbank (16) nicht vorkommen."
Entscheidungsgründe
1. Das Streitpatent betrifft ein Mautsystem, bei dem zwei Subsysteme mit überlappenden geographischen Abdeckungsbereichen Mauttransaktionen erzeugen.
Hauptantrag der Beschwerdegegnerin - Patent wie aufrechterhalten
2. Anspruch 1 lautet:
M0 |Verfahren zum Erzeugen von Mauttransaktionen in einem Straßenmautsystem, das |
M1.1|zumindest ein erstes ein Mobilfunksystem umfassendes Subsystem mit einem ersten geographischen Abdeckungsbereich |
M1.2|zur erste Mauttransaktionen erzeugenden Verortung von Fahrzeuggeräten mittels globaler Satellitennavigation und |
M2.1|zumindest ein zweites lokale Vermautungsstellen umfassendes Subsystem mit einem den ersten überlappenden zweiten geographischen Abdeckungsbereich |
M2.2|zur zweite Mauttransaktionen erzeugenden Verortung von Fahrzeuggeräten mittels dieser lokalen Vermautungsstellen aufweist |
M3 |wobei zumindest einige Fahrzeuggeräte mit beiden Subsystemen zusammenwirken können |
M4 |und die Subsysteme ihre Mauttransaktionen an eine gemeinsame Zentrale zur Verarbeitung senden dadurch gekennzeichnet, dass |
M5 |das erste Subsystem für Straßensegmente, welche das zweite Subsystem bei seiner Erzeugung von zweiten Mauttransaktionen berücksichtigt, keine ersten Mauttransaktionen erzeugt.|
3. Deutlichkeit - Artikel 84 EPÜ
3.1 Die Beschwerdeführerin brachte vor, dass gemäß Merkmalen M1.1, M1.2, M2.1 und M2.2 des unabhängigen Anspruchs 1 ein Überlappungsbereich eingeführt worden sei, der dadurch gekennzeichnet sei, dass er Straßensegmente aufweise, die von beiden Subsystemen bei der Erzeugung von Mauttransaktionen berücksichtigt würden. Gleichzeitig verböten das Merkmal M5 des Anspruchs 1 sowie die Merkmale der abhängigen Ansprüche 2 und 3 das Entstehen eines Überlappungsbereichs.
3.2 Die Beschwerdegegnerin argumentierte dagegen, dass sich gemäß Merkmalen M1.1 und M2.1 die geografischen Abdeckungsbereiche beider Subsysteme überlappten. Merkmal M5 definiere, wie die Vermautung insbesondere im Überlappungsbereich auszusehen habe. Die Merkmale der abhängigen Ansprüche 2 und 3 bildeten das Merkmal M5 weiter. Dieses Merkmal, und die Merkmale der Ansprüche 2 und 3, beträfen unmittelbar und eindeutig die Regel zum Erzeugen von Mauttransaktionen nur für Hybrid-OBUs in einem Überlappungsbereich.
Anhand zweier Folien argumentierte zudem die Beschwerdegegnerin, dass die geografischen Abdeckungsbereiche und die Straßensegmente Begriffe mit unterschiedlichem Inhalt seien. So entspreche der geografische Abdeckungsbereich einer gesamten geografischen Oberfläche, z.B. der Fläche Oberösterreichs, wohingegen die Straßensegmente nur einzelne Straßenabschnitte innerhalb dieser Fläche seien (Folie 1). Ein DSRC-System vermaute danach zunächst nur die Autobahnen, und erst später würden mittels eines GNSS-Systems auch die Bundesstraßen vermautet. Zudem würden die Mautdatensätze, die dem Fahrzeuggerät 3 entsprächen, im Subsystem GNSS gemäß Merkmal M5 unterdrückt (Folie 2).
3.3 Die Kammer stellt zunächst fest, dass im Rahmen des erstinstanzlichen Einspruchsverfahrens die Merkmale M1.1 und M2.1 geändert worden sind.
3.4 Gemäß Merkmalen M1.1, M1.2, M2.1 und M2.2 weisen beide Subsysteme überlappende geografische Abdeckungsbereiche "zur [...] Mauttransaktionen erzeugenden Verortung von Fahrzeuggeräten" auf. Mithin fordern diese Merkmale nicht nur, dass sich die Abdeckungsbereiche geografisch überlappen, sondern auch, dass jedes Subsystem in seinem geografischen Abdeckungsbereich bei der Verortung Mauttransaktionen erzeugt. Somit handelt es sich bei den geografischen Abdeckungsbereichen wie beansprucht nicht um geografische Flächen, wie zum Beispiel ein ganzes Bundesland, sondern um einzelne Bereiche, in den bei der Verortung Mauttransaktionen erzeugt werden.
3.5 Entsprechend Merkmal M5 erzeugt aber das erste Subsystem keine Mauttransaktionen für die Straßensegmente im Überlappungsbereich, da für die Segmente in diesem Bereich bereits das zweite Subsystem Mauttransaktionen erzeugt (wie auch auf der Folie 2 dargestellt). Mit anderen Worten, Merkmal M5 schließt eine Überlappung der Abdeckungsbereiche aus.
3.6 Aus diesen Gründen widersprechen die Merkmale M2.1 und M5 einander.
3.7 Die Kammer stimmt sogar mit der Beschwerdegegnerin darin überein, dass sich Merkmal M5 nur auf Hybrid-OBUs bezieht, d.h. Fahrzeuggeräte, die mit beiden Subsystemen zusammenwirken können. Dieser Aspekt ändert jedoch nichts an dem Widerspruch zwischen den Merkmalen M2.1 und M5.
3.8 Folglich ist Anspruch 1 des Hauptantrags nicht hinreichend deutlich (Artikel 84 EPÜ).
Hilfsantrag 1
4. Zulassung
4.1 Dieser Hilfsantrag wurde nach der Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung eingereicht und beinhaltet Änderungen in Ansprüchen 1, 2, 3, 5, 6 und 7, die aus der Beschreibung des Streitpatents stammen. Somit liegt es im Ermessen der Kammer, diesen Antrag zuzulassen oder unberücksichtigt zu lassen (Artikel 13(2) VOBK 2020).
4.2 Gemäß Artikel 13(2) VOBK 2020 bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstande vorliegen.
4.3 Der Einwand nach Artikel 84 EPÜ bezüglich Ansprüchen 2, 3, 6 und 7 wurde nicht nur sogar schon im erstinstanzlichen Verfahren, sondern auch in der Beschwerdebegründung erhoben. Die Beschwerdegegnerin hätte somit spätestens mit der Erwiderung auf die Beschwerde diese Einwände zumindest hilfsweise aufgreifen können, da sie sie bereits kannte. Ein außergewöhnlicher Umstand kann darin nicht gesehen werden.
4.4 Ebenso wenig kann es zugunsten der Beschwerdegegnerin als überraschend angesehen werden, dass die Kammer in ihrer vorläufigen Meinung im Wesentlichen den Standpunkt der Beschwerdeführerin bestätigt hat. Soweit sich die Beschwerdegegnerin darauf berufen hat, dies habe für sie einen "äußerst überraschenden Einwand" dargestellt, kann ihr nicht gefolgt werden. Es liegt in der Natur eines Rechtsmittelverfahrens, dass ein erstinstanzliches Obsiegen keine Gewähr für denselben Erfolg im Rechtsmittelverfahren bietet.
4.5 Die von der Beschwerdegegnerin angeführten Entscheidungen T 301/11 und T 0618/14 sind nicht einschlägig, da sie sich auf die Frage der Zulassung von Anträgen nach Art. 12(4) VOBK 2007 beziehen, während es sich hier um Fragen nach Art.13(2) VOBK2020 handelt.
4.6 Entscheidung T 339/06 basiert wiederum auf dem Stand der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern in der ab 1. Mai 2003 geltenden Fassung. Darin findet sich keine Entsprechung zu der geltenden Regelung des Artikels 13(2) VOBK 2020.
4.7 Die Beschwerdegegnerin argumentierte weiter, dass die Änderungen der Ansprüche lediglich der Auslegung in der angefochtenen Entscheidung entsprächen, nur eine Präzisierung darstellten und nicht weiter komplex seien.
Diese Argumente überzeugen nicht. Auch solche Änderungen müssen in der Regel mit der Erwiderung eingereicht werden, wenn die Patentinhaberin das Patent in dieser Form verteidigen möchte. Gemäß Artikel 12(2) VOBK 2020 muss schon die Erwiderung das vollständige Beschwerdevorbringen enthalten.
4.8 Wie oben ausgeführt, liegen im vorliegenden Fall keine außergewöhnlichen Umstände für eine Zulassung des verspätet eingereichten Hilfsantrags 1 vor. Aus diesem Grund bleibt er nach dem der Beschwerdekammer zustehenden Ermessen unberücksichtigt (Artikel 13(2) VOBK 2020).
Hilfsantrag 2
5. Artikel 84 EPÜ
In diesem Antrag wurden lediglich die Ansprüche 2, 3, 6, 7 und 9 bis 12 gestrichen, er wurde daher nach dem Ermessen der Kammer in das Verfahren zugelassen. Darauf kam es indessen schon deswegen nicht entscheidend an, da Anspruch 1 dem Anspruch 1 des Hauptantrags entspricht und er aus den in Punkt 3. oben angegebenen Gründen entgegen den Anforderungen des Artikels 84 EPÜ ebenfalls nicht hinreichend deutlich ist.
Hilfsantrag 3
6. Ungeachtet der Frage, ob dieser erstmals mit der Beschwerdeerwiderung eingereichte Hilfsantrag hätte früher eingereicht werden können, bleibt es jedenfalls auch hier dabei, dass, nachdem Anspruch 1 dem Anspruch 2 des Hauptantrags entspricht, er aus den in Absatz 3. oben angegebenen Gründen entgegen den Anforderungen des Artikels 84 EPÜ ebenfalls nicht hinreichend deutlich ist.
Hilfsantrag 4
7. Zulassung
Hilfsantrag 4 bleibt nach dem der Kammer zustehenden Ermessen (Artikel 13(2) VOBK 2020) aus den oben in Punkt 4. angegebenen Gründen gleichermaßen unberücksichtigt.
Zusammenfassung
8. Nachdem keiner der zulässigen Anträge der Beschwerdegegnerin die Vorgaben des EPÜ erfüllt, ist das Patent zu widerrufen.
9. Die Beschwerde hat damit in vollem Umfang Erfolg.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.