T 1688/18 25-10-2022
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VERFAHREN ZUM BETREIBEN EINER AUFZUGSANLAGE
Zulässigkeit der Beschwerde - Beschwerde hinreichend begründet (ja)
Neuheit - (nein)
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) hat Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung eingelegt, in der diese den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 2 475 606 zurückgewiesen hatte.
II. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
III. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Beschwerde zurückzuweisen.
IV. Die Parteien wurden zu einer mündlichen Verhandlung geladen. In einer Mitteilung zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung informierte die Kammer die Parteien über ihre vorläufige Meinung. Die Kammer legte darin unter anderem dar, dass sie die Beschwerde als zulässig ansehe und dass die Neuheit des Verfahrens nach Anspruch 1 von D1 vorweggenommen sein dürfte.
V. Die mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 25. Oktober 2022 als Videokonferenz statt.
VI. Folgender Stand der Technik ist für die vorliegende Entscheidung relevant:
D1|GB 2 267 362 A|
VII. Anspruch 1 hat folgenden Wortlaut (mit der auch in der angefochtenen Entscheidung verwendeten Merkmalsgliederung):
1.1|"Verfahren zum Betreiben einer Aufzugsanlage (100) mit mindestens einem Aufzug (10, 10', 10"), |
1.2|mindestens einer Rufeingabevorrichtung (4) und einer Rufsteuerung (3), wobei auf einem Rufeingabestockwerk von der Rufeingabevorrichtung (4) ein Ruf (T4) an die Rufsteuerung (3) übermittelt wird; |
1.3|in einem Normalbetriebsmodus der Aufzugsanlage (100) wird dem übermittelten Ruf (T4) von der Rufsteuerung (3) mindestens ein Aufzug (10, 10', 10") zugeteilt, dazu wird mindestens ein Normalbetriebssignal von der Rufsteuerung (3) an den zugeteilten Aufzug (10, 10', 10") übermittelt; für ein übermitteltes Normalbetriebssignal wird von mindestens einer Aufzugssteuerung (2, 2', 2") des zugeteilten Aufzugs (10, 10', 10") mindestens eine Aufzugskabine (1, 1') des zugeteilten Aufzugs (10, 10', 20" [sic]) zu einer Fahrt auf das Rufeingabestockwerk angesteuert,|
1.4|wobei dass [sic] in einem Stosszeitmodus der Aufzugsanlage (100) von der Rufsteuerung (3) mindestens ein Hauptbetriebssignal an mindestens einen Aufzug (10, 10', 10") übermittelt wird; |
1.5|dass [sic] für ein an einen Aufzug (10, 10', 10") übermitteltes Hauptbetriebssignal mindestens eine Aufzugskabine (1, 1') dieses Aufzugs (10, 10', 10") von mindestens einer Aufzugssteuerung (2, 2', 21') dieses Aufzugs (10, 10', 10") zu einer Fahrt zwischen mindestens zwei Hauptbetriebsstockwerken (HS) angesteuert wird;|
|dadurch gekennzeichnet, dass |
1.6|eine im Stosszeitmodus der Aufzugsanlage (100) angesteuerte Aufzugskabine (1, 1') von einem Hauptbetriebsstockwerk (HS) abfährt, sobald in der Aufzugskabine (1, 1') mindestens eine vorbestimmte Zeit nach Erfassen von mindestens einer Passagierinformation in der Aufzugskabine (1, 1') erreicht worden ist." |
VIII. Die für die vorliegende Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdeführerin können wie folgt zusammengefasst werden:
Die Beschwerde sei zulässig. Die Argumente zu allen Einspruchsgründen seien ausreichend substantiiert vorgetragen worden.
Das Verfahren nach Anspruch 1 sei nicht neu gegenüber D1. Da das Merkmal 1.6 breit auszulegen sei, zeige D1 auch dieses Merkmal.
IX. Die für die vorliegende Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdegegnerin können wie folgt zusammengefasst werden:
Die Beschwerde sei als unzulässig zu verwerfen. Die Einwände zu den Einspruchsgründen der mangelnden Offenbarung (Artikel 100 b) EPÜ) und der mangelnden erfinderischen Tätigkeit (Artikel 100 a) i.V.m. Artikel 56 EPÜ) seien nicht ausreichend substantiiert, da sie sich nicht in ausreichendem Maß mit den Entscheidungsgründen auseinandersetzten.
Das Verfahren des Anspruchs 1 sei neu gegenüber D1. Die in Merkmal 1.6 aufgestellte Bedingung sei in D1 nicht erfüllt.
Entscheidungsgründe
1. Zulässigkeit der Beschwerde
Die Beschwerde ist zulässig (Artikel 108 EPÜ i.V.m. Regel 99 (2) und 101 (1) EPÜ). Der Vortrag in der Beschwerdebegründung zu den Einspruchsgründen der mangelnden Ausführbarkeit (Artikel 100 b) EPÜ), der mangelnden Neuheit (Artikel 100 a) EPÜ i.V.m. Artikel 54 EPÜ) sowie der mangelnden erfinderischen Tätigkeit (Artikel 100 a) EPÜ i.V.m. Artikel 56 EPÜ) ist ausreichend substantiiert, sodass ohne Weiteres erkennbar ist, aus welchen Gründen nach Auffassung der beschwerdeführenden Einsprechenden die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufgehoben werden soll.
1.1 Artikel 108 EPÜ, letzter Satz bestimmt, dass die Beschwerde nach Maßgabe der Ausführungsordnung zu begründen ist. In Regel 99 (2) EPÜ wird diesbezüglich ausgeführt, dass der Beschwerdeführer in der Beschwerdebegründung darzulegen hat, aus welchen Gründen die angefochtene Entscheidung aufzuheben ist. Entspricht die Beschwerdebegründung nicht diesem Erfordernis, so ist die Beschwerde gemäß Regel 101 (1) EPÜ als unzulässig zu verwerfen.
1.2 Nach gefestigter Rechtsprechung der Beschwerdekammern genügt eine Beschwerdebegründung den Mindestanforderungen des Artikels 108, letzter Satz EPÜ, wenn zumindest hinsichtlich eines Grundes die rechtlichen und tatsächlichen Gründe genannt werden, aus denen die angefochtene Entscheidung aufzuheben sei (vgl. z.B. T 950/99, Rz. 1 der Entscheidungsgründe, unter Verweis auf die Entscheidung der Juristischen Beschwerdekammer J 22/86, Rz. 2 der Entscheidungsgründe).
Die Beschwerdegegnerin hat während der mündlichen Verhandlung selbst anerkannt, dass sich die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdebegründung zumindest mit den Gründen in der angefochtenen Entscheidung zu dem Einspruchsgrund der mangelnden Neuheit (Artikel 100 a) EPÜ i.V.m. Artikel 54 EPÜ) auseinandergesetzt hat. Schon allein deshalb ist die Beschwerde daher als zulässig anzusehen. Die Kammer kommt jedoch darüber hinaus zum Schluss, dass auch die Auseinandersetzung mit den anderen Einspruchsgründen jeweils den Erfordernissen der Regel 99 (2) EPÜ genügt.
1.3 Argumente zur mangelnden Ausführbarkeit
Auf Seite 5 der Beschwerdebegründung geht die Beschwerdeführerin auf das Argument der Einspruchsabteilung ein, dass der Fachmann in der Lage wäre eine geeignete Zeit zu wählen. In der Folge führt die Beschwerdeführerin aus, dass die "vorbestimmte Zeit" Werte von beispielsweise Millisekunden bis mehrere Minuten annehmen könne und dass die Erfindung deshalb nicht ausführbar sei, da es für den Fachmann unzumutbar sei, ohne weitere Anhaltspunkte aus einem derart großen Bereich passende Werte auszuwählen.
Es ist damit klar, dass sich die Argumente der Beschwerdeführerin auf die Argumentation der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung, Seite 6, letzter Absatz beziehen. Darin stellt die Einspruchsabteilung fest, "dass der Fachmann in der Lage wäre, eine geeignete Zeit zu wählen, zum Beispiel auf der Grundlage von Leistungskriterien und/oder Testergebnissen, so dass der Stoßzeitmodus möglichst passagierfreundlich wäre." Auch ohne expliziten Hinweis auf die "Leistungskriterien und/oder Testergebnisse" versteht die Kammer das Argument der Beschwerdeführerin dahingehend, dass der Fachmann aus der Patentschrift zu wenig Anhaltspunkte erhalte, eine konkrete Zeit zu wählen und dass die von der Einspruchsabteilung genannten Leistungskriterien und Testergebnisse ihm dabei nicht weiterhelfen würden. Der Beschwerdeführerin ist auch zugutezuhalten, dass die Begründung der Einspruchsabteilung in diesem Punkt unspezifisch bleibt, sodass schwerlich gezielte Argumente zu deren Entkräftung angeführt werden können. Mittels der (wenn auch knappen) Ausführungen auf Seite 5 der Beschwerdebegründung ist damit den inhaltlichen Mindestanforderungen an eine Beschwerdebegründung entsprochen, sodass auch der Vortrag zum Einspruchsgrund der mangelnden Ausführbarkeit ausreichend substantiiert ist.
1.4 Argumente zur mangelnden erfinderischen Tätigkeit
Zum Vortrag der Beschwerdeführerin hinsichtlich mangelnder erfinderischer Tätigkeit bemängelte die Beschwerdegegnerin insbesondere, dass dieser über weite Teile eine wörtliche Wiederholung ("copy/paste") des Einspruchsschriftsatzes darstelle. Dazu ist festzustellen, dass weder ein pauschaler Hinweis auf bereits im Einspruchsverfahren vorgebrachte Argumente (vgl. T 706/17, Gründe 3.3) noch deren wortwörtliche Wiederholung in der Beschwerdebegründung eine substantiierte Auseinandersetzung mit der Entscheidung darstellt. Diese Textstellen tragen daher zur Substantiierung der Beschwerde nicht bei. Sie sind jedoch weder der Zulässigkeit der Beschwerde insgesamt noch einer Berücksichtigung des Einspruchsgrundes der mangelnden erfinderischen Tätigkeit abträglich. Wesentlich ist vielmehr, dass die Beschwerdeführerin auf Seite 12 der Beschwerdebegründung, dritter vollständiger Absatz, auf die Argumente der Einspruchsabteilung eingegangen ist, wonach in D2 die vorbestimmte Zeit nicht anlaufe, sobald eine Passagierinformation in der Aufzugskabine erfasst werde. Die Beschwerdeführerin führt darin aus, dass diese Feststellung aus einer ungerechtfertigten einschränkenden Auslegung des Merkmals 1.6 resultiere. Es ist daher unmittelbar erkennbar aus welchen Gründen die Beschwerdeführerin der Meinung ist, dass die angefochtene Entscheidung auch hinsichtlich des Einspruchsgrunds der mangelnden erfinderischen Tätigkeit unzutreffend ist. Damit ist auch in diesem Punkt den inhaltlichen Mindestanforderungen an eine Beschwerdebegründung entsprochen, sodass auch der Vortrag zum Einspruchsgrund der mangelnden erfinderischen Tätigkeit ausreichend substantiiert ist.
1.5 Darüber hinaus liegt es in der Natur der Sache, dass es für eine beschwerdeführende Einsprechende genügt, nur hinsichtlich eines Einspruchsgrundes zu begründen, weshalb die Entscheidung unzutreffend ist, während eine beschwerdeführende Patentinhaberin zu jedem erfolgreichen Einspruchsgrund Argumente vortragen muss, um die in der Entscheidung angegebenen Gründe zu entkräften, damit die Entscheidung aufgehoben werden kann.
1.6 Aus all diesen Gründen ist die Beschwerde zulässig und alle genannten Einspruchsgründe sind Teil des Beschwerdeverfahrens.
2. Artikel 100 (a) i.V.m. Artikel 54 EPÜ - Neuheit
Das Verfahren des Anspruchs 1 ist nicht neu gegenüber der in D1 beschriebenen Aufzugsteuerung. Der Anspruchswortlaut ist nicht einschränkend auszulegen, sodass durch das in D1 beschriebene Verfahren mit dem Bestimmen eines hohen Verkehrsaufkommens, dem Umschalten in einen Stoßzeitbetrieb, dem Warten mit offener Tür bis eine angezeigte Zeit abgelaufen ist und dem anschließenden Abfahren der Aufzugskabine ohne weiteren Stopp zu einem Hauptzielstockwerk das Merkmal 1.6 erfüllt ist.
2.1 Merkmale 1.1 bis 1.5
Dass die Merkmale 1.1 bis 1.5 in D1 verwirklicht sind, war zwischen den Parteien unstrittig. D1 war bereits im Prüfungsverfahren eingeführt worden, ist in Absatz [0002] der Patentschrift als vorbekannter Stand der Technik gewürdigt und entspricht erkennbar den Merkmalen des Oberbegriffs des Anspruchs 1. Darüber hinaus ist es laut Absatz [0003] des Streitpatents die Aufgabe der Erfindung, dieses Verfahren (das heißt das Verfahren gemäß D1) weiterzuentwickeln.
Auf eine detaillierte Analyse aller Merkmale 1.1 bis 1.5 im Hinblick auf D1 wird daher verzichtet und lediglich auf Absatz [0002] der Patentschrift sowie auf die Beschwerdebegründung, Abschnitt 4.2, vierter Absatz, verwiesen.
Wie auch von der Beschwerdeführerin argumentiert, entspricht der Betriebsmodus des "schedule running" in D1 dem Stoßzeitmodus des Streitpatents. Das Stockwerk mit der hohen Nachfrage ("high demand") und das Hauptzielstockwerk ("major destination floor") stellen dabei die Hauptbetriebsstockwerke gemäß Streitpatent dar.
2.2 Auslegung des Merkmals 1.6
Die Auslegung wurde in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer im Zuge der Diskussion über die Ausführbarkeit zuerst diskutiert. Die dabei getroffenen Schlussfolgerungen gelten jedoch gleichermaßen für die Frage der Neuheit. In beiden Fällen ist gemäß gefestigter Rechtsprechung der Wortlaut eines Anspruchs in der breitestmöglichen, technisch sinnvollen Auslegung zu verstehen.
Merkmal 1.6 ist nicht dahingehend einschränkend auszulegen, dass mit dem Erfassen der Passagierinformation die vorbestimmte Zeit zu laufen beginnt und auch nicht dahingehend, dass der Ablauf der vorbestimmten Zeit unmittelbar das Abfahren der Aufzugskabine auslöst. Vielmehr handelt es sich dabei lediglich um eine Bedingung, die "mindestens" vorliegen muss (in dem Sinne, dass mindestens die vorbestimmte Zeit erreicht worden sein muss). Das Merkmal 1.6 bestimmt auch nicht, dass die Dauer der vorbestimmten Zeit von der erfassten Passagierinformation abhängt. Auch dass die Zeit im Stoßzeitmodus kürzer als im Normalbetriebsmodus ist, lässt sich dem Anspruch 1 nicht entnehmen.
2.2.1 Die Beschwerdegegnerin hatte argumentiert, dass die "vorbestimmte Zeit" mit dem Erfassen der Passagierinformation zu laufen beginne. Die Kammer sieht dies als vom Anspruch 1 nicht gedeckt an. In Merkmal 1.6 ist lediglich definiert, dass die vorbestimmte Zeit nach dem Erfassen der Passagierinformation erreicht wird. Über deren Beginn lässt sich dem Anspruch 1 nichts entnehmen.
Die "vorbestimmte Zeit" kann daher auch jede beliebige Zeit sein, insbesondere auch die für das Schließen der Türen benötigte Zeit, eine aus Sicherheitsgründen vorgesehene Verzögerung zwischen dem Auslösen einer Lichtschranke und dem Schließen der Tür oder aber auch eine für das Abwarten auf weitere Passagiere vorgesehene Zeit.
2.2.2 Die Beschwerdegegnerin hatte argumentiert, dass der Anspruch aus Sicht des Fachmanns zu interpretieren sei. Der Ausdruck "mindestens" sei daher dahingehend zu verstehen, dass noch weitere Bedingungen vorliegen könnten, die die Abfahrt verzögerten, insbesondere müsse der Sicherheitskreis geschlossen sein, mit anderen Worten: es dürfe sich kein Hindernis in der Tür befinden, welches deren Schließen verhindere. Das Ziel des Patents sei es aber, die Abfahrtszeit nicht zu verzögern, sondern im Gegenteil im Stoßzeitmodus die normale Türöffnungszeit nicht einzuhalten und statt dessen eine technisch sinnvolle Zeit zu wählen und früher als im Normalbetrieb abzufahren, um den in der Patentschrift beschriebenen Vorteil der Passagierfreundlichkeit zu erreichen.
Diese Argumente überzeugen die Kammer nicht. Es gibt keine Veranlassung zu einer derart einschränkenden Lesart des Merkmals 1.6.
Der Ausdruck "mindestens eine vorbestimmte Zeit" könnte sich wie von der Beschwerdegegnerin argumentiert darauf beziehen, dass neben der vorbestimmten Zeit weitere Bedingungen erfüllt sein müssen, damit die Aufzugskabine abfährt. Er könnte sich allerdings auch wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen darauf beziehen, dass neben der vorbestimmten Zeit noch weitere Zeiten erreicht werden müssen, bevor die Aufzugskabine abfährt. Bei diesen weiteren Zeiten könnte es sich wiederum um die Zeit zum Schließen der Türen, Sicherheitszeiten nach Auslösen einer Lichtschranke oder bewusste Verzögerungen zum Abwarten auf weitere Passagiere handeln. Dies wäre im Übrigen auch "passagierfreundlich", wenn auch nicht für die bereits zugestiegenen Passagiere.
Aus all diesen Überlegungen kommt die Kammer zum Schluss, dass das Erreichen der vorbestimmten Zeit gemäß Merkmal 1.6 eine zwar notwendige Bedingung für das Abfahren der Aufzugskabine darstellt, sie ist jedoch keine hinreichende Bedingung in dem Sinne, dass nach Erreichen der vorbestimmten Zeit die Aufzugskabine auch tatsächlich in jedem Fall abfährt. Der Anspruch 1 lässt die Möglichkeit offen, dass die Aufzugskabine erst nach einer in Summe längeren Zeit als der vorbestimmten Zeit abfährt. Wie lang diese Zeit insgesamt werden kann, lässt sich dem Anspruch 1 ebenfalls nicht entnehmen. Eine im Sinne der Beschwerdegegnerin "technisch sinnvolle" Zeit könnte aufgrund verschiedenster denkbarer Umstände im Betrieb einer Aufzugsanlage enorm unterschiedliche Werte annehmen.
2.2.3 Die Kammer sieht in Anspruch 1 auch kein Indiz, dass die vorbestimmte Zeit im Stoßzeitmodus kürzer als im Normalbetriebsmodus sein muss. Für die Passagiere, die sich bereits in der Aufzugskabine befinden, mag sich eine verkürzte Aufenthaltsdauer als passagierfreundlich darstellen. Genauso ist es denkbar und auch technisch sinnvoll, dass die Aufzugskabine im Stoßzeitbetrieb länger wartet, und zwar zumindest so lange bis sie voll besetzt ist, um unnötig lange Wartezeiten für nachfolgende Passagiere zu vermeiden.
Da der Anspruch bezüglich der "vorbestimmten Zeit" nicht interpretationsbedürftig, sondern lediglich breit formuliert ist, gibt es auch keine Veranlassung dazu, die Beschreibung zur Auslegung heranzuziehen. Doch selbst in dem von der Beschwerdegegnerin zitierten Absatz [0015] der Patentschrift wird lediglich erwähnt, dass "eine Aufzugskabine je nach Verkehrsaufkommen ein Hauptbetriebsstockwerk früher oder später verlassen und/oder abfahren [kann]". Selbst diese Aussage lässt sich auch so verstehen, dass die Aufzugskabine bei höherem Verkehrsaufkommen auch später abfahren kann. Zumindest ist dieses Vorgehen nicht eindeutig ausgeschlossen.
2.2.4 Die Beschwerdegegnerin hatte darüber hinaus argumentiert, dass ein Fachmann die "vorbestimmte Zeit" so verstehen würde, dass damit auch der in Absatz [0028] der Patentschrift beschriebene Vorteil einer erhöhten Passagierfreundlichkeit erreicht werde. Auch dieses Argument überzeugt die Kammer nicht.
Ein Anspruch ist nicht als darauf eingeschränkt zu interpretieren, dass eine technische Wirkung erreicht wird, die nicht beansprucht ist. Dies gilt gleichermaßen für die Überlegungen hinsichtlich Ausführbarkeit als auch hinsichtlich Neuheit. Zur Erfüllung des Anspruchswortlauts genügt es daher, dass die Zeit "vorbestimmt" ist, sie muss nicht passagierfreundlich sein. Durch die Einschränkung mittels des Worts "mindestens" können zusätzlich noch weitere Zeiten folgen, die ebenfalls nicht zur Passagierfreundlichkeit beitragen müssen.
2.3 Auf Basis der gebotenen breiten Auslegung sieht die Kammer daher in dem Verfahren nach D1, insbesondere nach Figuren 2 und 23, auch das Merkmal 1.6 als folgendermaßen verwirklicht an:
Im Verfahrensschritt 201 wird eine Passagierinformation in der Aufzugskabine erfasst. Es kann sich dabei um Informationen des Lastsensors ("load sensor included in a cage", siehe D1, Seite 15, Zeile 1) oder die Anzahl der Passagiere, die aus jeder der Aufzugskabinen zu- und aussteigen ("recording the number of passengers who get on and off each elevator during one up-and-down cycle thereof", siehe D1, Seite 17, Zeilen 21/21) handeln. Auf Grundlage dieser Passagierinformation schaltet die Anlage in einen Stoßzeitmodus ("schedule running").
In Schritt 231 wartet die Aufzugskabine mit geöffneter Tür auf einem Hauptbetriebsstockwerk bis eine auf der Anzeige angezeigte Zeit erreicht worden ist. Im nachfolgenden Schritt, das heißt nach Erreichen der angezeigten Zeit, fährt die Aufzugskabine von dem Hauptbetriebsstockwerk ab.
Die Aufzugskabine fährt daher ab, sobald mindestens eine vorbestimmte Zeit (die auf der Anzeige angezeigte Zeit und zusätzlich die Zeit zwischen Schritten 201 und 231) nach Erfassen (in Schritt 201) von mindestens einer Passagierinformation in der Aufzugskabine (Last, Anzahl Einstiege/Ausstiege) erreicht worden ist. Zumindest die Passagierinformation der Anzahl der in der Kabine befindlichen Passagiere wird dabei "in der Aufzugskabine" erfasst, und zwar unabhängig davon, ob die eigentliche Messung in der Kabine oder außerhalb davon erfolgt. Wenn beispielsweise mittels eines an der Tür angeordneten Sensors die Anzahl der ein- und aussteigenden Passagiere erfasst und daraus die Anzahl der in der Kabine befindlichen Passagiere berechnet wird, so stellt dies ein Erfassen dieser Passagierinformation in der Kabine dar. Dies ist im Übrigen in dem im Streitpatent beschriebenen Verfahren nicht anders, wenn mittels des oberhalb der Türschwelle angeordneten Lichtsensors 51 die Anzahl der zugestiegenen und ausgestiegenen Passagiere berechnet wird.
Merkmal 1.6 ist daher in dem Verfahren nach D1 verwirklicht. Das Verfahren nach Anspruch 1 ist somit nicht neu gegenüber jenem in D1 (Artikel 54 EPÜ).
2.4 Der Einspruchsgrund nach Artikel 100 a) EPÜ steht daher einer Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung entgegen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.