T 0208/88 (Wachstumsregulation) 28-02-1990
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Neuheit der zweiten nicht-medizinischen Verwendung bei gleicher technischer Realisierungsform
Zugänglichmachen - objektives Zurverfügungstehen des Wesens einer Erfindung
Sachverhalt und Anträge
I. Die am 25. Oktober 1980 mit deutscher Priorität vom 7. November 1979 eingereichte europäische Patentanmeldung 80 106 574.9 (Veröffentlichungs-Nr. 28 755) war von der Prüfungsabteilung 001 mit Entscheidung vom 25. November 1987, berichtigt am 7. Januar 1988, zurückgewiesen worden. Die Zurückweisung war auf Grund von vier am 30. September 1981 vorgelegten Patentansprüchen erfolgt, deren erster - in gekürzter Fassung -, wie folgt, lautet:
"Verwendung von Pyrimidin-butanol-Derivaten der Formel ............. (i) ............... zur Regulierung des Pflanzenwachstums."
II. Als Grund der Zurückweisung hatte die Entscheidung der Vorinstanz in bewußtem Gegensatz zur Entscheidung der Kammer im Falle T 231/85 vom 8. Dezember 1986 ("Triazolylderivate/BASF", ABl. EPA 1989, 74) fehlende Neuheit gegenüber
(1) EP-A-1 399
angeführt. (Im Verfahren vor der Prüfungsabteilung hatte auch
(2) US-A-3 869 459
eine Rolle gespielt, aber nicht im Hinblick auf die Neuheit). In
(1) seien die Pyrimidinbutanolderivate (i) sowie deren Verwendung zur Pilzbekämpfung auf Pflanzen offenbart und die Erkenntnis neuer Eigenschaften eines Wirkstoffs könne nur dann einen Verwendungsanspruch rechtfertigen, wenn dieser Anspruch dem Fachmann eine neue technische Lehre über die Einsatzbedingungen dieses Wirkstoffes vermittle, nicht aber, wenn das einzige neue Merkmal des Anspruchs der verschiedene Verwendungszweck selbst sei.
III. Gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung erhob die Anmelderin (Beschwerdeführerin) unter Entrichtung der vorgeschriebenen Gebühr am 16. Januar 1988 Beschwerde. Sie beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und ein Patent auf Grund der geltenden Ansprüche zu erteilen; hilfsweise mündliche Verhandlung sowie Vorlage an die Große Beschwerdekammer; ferner Rückzahlung der Beschwerdegebühr. In einer am 19. März 1988 eingegangenen Begründung hierzu führte sie im wesentlichen aus, bei der selbständigen Kategorie des Verwendungsanspruches, wie er hier vorliege, gehöre der Verwendungszweck als technisches Merkmal zur Erfindungslehre und könne daher Neuheit begründen. Verwendungserfindungen seien nicht nur nach dem EPÜ, sondern auch nach nationalem Recht schutzfähig, so daß ein Schutz auch aus Harmonsierungsgründen geboten sei. Die Entscheidung G 1/83 stehe dem nicht entgegen. Die beanspruchte Lehre sei dem Stand der Technik nicht zu entnehmen gewesen und daher neu, wie bereits im analogen Fall T 231/85 entschieden wurde.
IV. Die Kammer hat daraufhin zunächst mit Zwischenentscheidung vom 20. Juli 1988 die Zulässigkeit der Beschwerde festgestellt und die folgende Rechtsfrage der Großen Beschwerdekammer vorgelegt:
"Ist ein Anspruch auf die Verwendung einer chemischen Verbindung oder Verbindungsklasse für einen bestimmten nicht-medizinischen Zweck neu im Sinne von Artikel 54 EPÜ gegenüber einem Stand der Technik, der die Verwendung dieser Verbindung(sklasse) für einen anderen nicht-medizinischen Zweck offenbart, wenn die technische Realisierung beider Lehren identisch und das einzige neue Merkmal des Anspruchs der Verwendungszweck selbst ist?"
V. Die Große Beschwerdekammer hat diese Rechtsfrage mit ihrer Entscheidung G 6/88 vom 11. Dezember 1989 beantwortet, wie folgt:
"Ein Anspruch, der auf die Verwendung eines bekannten Stoffes für einen bestimmten Zweck gerichtet ist, der auf einer in dem Patent beschriebenen technischen Wirkung beruht, ist dahingehend auszulegen, daß er diese technische Wirkung als funktionelles technisches Merkmal enthält; ein solcher Anspruch ist nach Artikel 54 (1) EPÜ dann nicht zu beanstanden, wenn dieses technische Merkmal nicht bereits früher der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist."
Entscheidungsgründe
1. Der geltende Anspruch 1 richtet sich auf die Verwendung von als solche bekannten Verbindungen der Formel (i) zur Regulierung des Pflanzenwachstums. Auf Grund der Antwort der Großen Beschwerdekammer zu der ihr vorgelegten Rechtsfrage ist sein Gegenstand neu im Sinne von Artikel 54 EPÜ, wenn die folgenden beiden Voraussetzungen erfüllt sind:
i) Die technische Wirkung, auf der die beanspruchte Verwendung beruht, muß in der Patentanmeldung, und zwar selbstverständlich bereits in deren Erstunterlagen, beschrieben sein;
ii) die betreffende technische Wirkung darf der Öffentlichkeit nicht bereits vor dem maßgeblichen Prioritätsdatum der Streitanmeldung zugänglich gemacht worden sein.
Diese zweite Voraussetzung ist, wie die Große Beschwerdekammer ausgeführt hat, im Einzelfall eine Tatfrage.
2. Die erste dieser beiden Voraussetzungen ist unzweifelhaft erfüllt; siehe z. B. den ursprünglichen Anspruch 1, beginnend mit den Worten "Mittel zur Regulierung des Pflanzenwachstums", später gefolgt durch eine Definition der in dem Mittel enthaltenen Wirkstoffe, die mit der Definition dieser Wirkstoffe im geltenden Anspruch 1 identisch ist. Die technische Wirkung, auf deren Offenbarung es zufolge der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer ankommt, ist dem auf das Mittel als solches gerichteten ursprünglichen Anspruch 1 selbstverständlich genauso deutlich zu entnehmen wie dem geltenden Verwendungsanspruch. Im übrigen ist im ersten Satz der ursprünglichen Beschreibung ausdrücklich von einer "Verwendung" die Rede, und Seite 2, Absatz 1, spricht von "starke(n) wachstumsregulierende(n) Eigenschaften" der betreffenden Verbindungen.
3. Somit bleibt zur Entscheidung über die Neuheitsfrage noch zu untersuchen, ob die Wirkung der in Rede stehenden Stoffe (i) als Wachstumsregulatoren etwa bereits vor dem Prioritätstag der Streitanmeldung der Öffentlichkeit zugänglich war.
3.1. Eine solche "Zugänglichkeit" der wachstumsregulierenden Wirkung ist nicht etwa schon dann gegeben, wenn bei der aus (1) bekannten Verwendung der Verbindungen (i) zur Pilzbekämpfung tatsächlich - wenn auch unerkannt - eine Wachstumsregulation der behandelten Kulturen eintrat, wie dies hier wohl der Fall gewesen sein dürfte; denn die Entscheidung G 6/88 betont, daß sich die Frage der Inhärenz im Zusammenhang mit Art. 54 EPÜ nicht stellt (Abschnitt 8, insbesondere Unterabschnitte 8.1 und 8.2). Vielmehr wird eine bisher nicht beschriebene, aber bei der praktischen Ausführung einer bekannten Lehre tatsächlich eintretende Wirkung, die Grundlage einer Verwendungserfindung sein soll, der Öffentlichkeit erst dann zugänglich, wenn sie bei dieser Ausführung so klar zutage tritt, daß sich dadurch mindestens potentiell für einen unbegrenzten Kreis von Fachleuten das Wesen der Erfindung unmittelbar erschließt. Im vorliegenden Fall wäre die wachstumsregulierende Wirkung der Verbindungen (i) erst dadurch zugänglich im Sinn einer neuheitsschädlichen Lehre zum technischen Handeln geworden, daß an den zwecks Pilzbekämpfung mit (i) behandelten Kulturen augenfällig, d. h. unübersehbar, ein abnormes Wachstumsverhalten sowie unzweideutig ein Kausalzusammenhang zwischen der erfolgten Behandlung der Kulturen und diesem Wachstumsverhalten erkennbar geworden wäre.
3.2. Für die Beurteilung der Frage, ob als unbeabsichtigte Folge einer auf Pilzbekämpfung abzielenden Behandlung der Kulturen mit der Verbindung (i) ein unmittelbar in die Augen springendes abnormes Wachstumsverhalten auftreten mußte, hat die Kammer keinen Anhaltspunkt. Hätte sich aber einem Fachmann ohne Kenntnis der Erfindung tatsächlich die Beobachtung aufgedrängt, daß eine Kultur ein vom Üblichen abweichendes Wachstumsverhalten zeigt, so hätte er die Ursache dafür - falls er sich überhaupt nach ihr fragte - unter einer Mehrzahl von Umständen suchen können, z. B. einer besonderen Bodenbeschaffenheit, dem Zeitpunkt oder der Art des Anbaus, klimatischen Verhältnissen, der Düngung u. a. m. Die Öffentlichkeit war somit weder durch die Lektüre von (1), noch durch die praktische Ausführung seiner Lehre objektiv in die Lage versetzt, das Wesen der hier beanspruchten Erfindung in Gestalt der wachstumsregulierenden Wirkung der Verbindungen (i) unzweideutig zu erkennen.
3.3. Da anderer Stand der Technik, der die Neuheit des Gegenstandes der Streitanmeldung in Frage stellen könnte, der Kammer nicht vorliegt, muß dieser als neu gelten.
4. Zur Frage der erfinderischen Tätigkeit hat die angefochtene Entscheidung auf Seite 5, vierter Absatz, unter Bezugnahme auf die am 29. Februar 1984 eingereichten Vergleichsversuche gegenüber (2) kurz, aber eindeutig festgehalten, daß sie deren Vorliegen "für den Anmeldungsgegenstand, soweit er neu ist", anerkenne.
4.1. Gemeint war mit dieser Aussage offenbar das folgende: Ausgegangen wurde von (2) als nächstem Stand der Technik, was angesichts der ganz anderen Aufgabe von (1) gerechtfertigt war. Aufgabe war die Angabe von verbesserten Wachstumsregulatoren (wie in der Begleiteingabe zu den Vergleichsversuchen ausgeführt). Die tatsächliche Lösung dieser Aufgabe durch den Vorschlag, die Verbindungen (i) zu verwenden, wurde auf Grund der Vergleichsversuche als glaubhaft und durch (2) nicht nahegelegt anerkannt. Insoweit sieht die Kammer keinen Anlaß, von der Beur- teilung durch die Vorinstanz abzuweichen. Zu untersuchen bleibt lediglich, ob man etwa durch Einbeziehung des von der Vorinstanz für neuheitsschädlich gehaltenen Dokuments (1) in die Überlegungen zur erfinderischen Tätigkeit zu einem anderen Ergebnis gelangt.
4.2. Nach Auffassung der Kammer ist dies nicht der Fall: Weder ist ersichtlich, wie durch (1) allein, wo als einzige Verwendungsmöglichkeit der Verbindungen (i) diejenige als Fungizide erwähnt ist, deren Wirksamkeit als Wachstumsregulatoren oder gar als gegenüber den Verbindungen nach (2) verbesserte Wachstumsregulatoren zu erwarten gewesen sein sollte; noch ist zu erkennen, wieso es nahegelegen haben sollte, auf der Suche nach gegenüber (2) verbesserten Wachstumsregulatoren gerade nach den aus (1) bekannten Fungiziden zu greifen.
4.3. Nach allem beruht der Gegenstand von Anspruch 1 auf erfinderischer Tätigkeit.
5. Die Ansprüche 2 bis 4 richten sich auf die Verwendung als Wachstumsregulatoren je einer unter die allgemeine Formel (i) von Anspruch 1 fallenden individuellen Verbindung; sie werden daher von der Patentfähigkeit des Anspruchs 1 getragen.
6. Voraussetzung der beantragten Rückzahlung der Beschwerdegebühr wäre gemäß Regel 67 EPÜ das Vorliegen eines wesentlichen Verfahrensmangels im Verfahren vor der Prüfungsabteilung. Ein solcher wurde jedoch weder seitens der Beschwerdeführerin dargetan, noch ist er für die Kammer ersichtlich. Insbesondere hat zwar die bewußte Abkehr der Vorinstanz von der Entscheidung T 231/85 zu einem, wie oben dargelegt, unrichtigen Ergebnis geführt; als wesentlicher Verfahrensmangel ist aber das Abweichen von einer zunächst vereinzelt dastehenden Beschwerdeentscheidung im Gegensatz zu einem Abweichen von gefestigter Rechtsprechung der Beschwerdeinstanz nicht anzusehen. Ein Grund zur Rückzahlung der Beschwerdegebühr liegt somit nicht vor.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 25. November 1987 wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückverwiesen, mit der Auflage, ein Patent auf der Grundlage folgender Unterlagen zu erteilen:
- Ansprüche 1 bis 4, eingegangen am 30. September 1981;
- Beschreibung, wie als EP-A1-28 755 veröffentlicht, mit noch vorzunehmenden redaktionellen Änderungen.
3. Der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird zurückgewiesen.