T 0535/95 12-04-1999
Download and more information:
Verstelleinrichtung für einen Lattenrost
Offensichtlicher Mißbrauch
Auslegung des Artikels 55 (1) EPÜ
Vorlage einer Rechtsfrage an die Große Beschwerdekammer
Der Großen Beschwerdekammer wird folgende Rechtfrage vorgelegt:
Wenn einer europäischen Patentanmeldung eine Priorität zuerkannt wird, ist dann für die Zwecke des Artikels 55 (1) EPÜ die Frist von sechs Monaten "vor Einreichung der europäischen Patentanmeldung" vom Tag der Einreichung der prioritätsbegründenden Anmeldung (Prioritätstag) oder vom tatsächlichen Einreichungstag der europäischen Patentanmeldung an zu berechnen?
Sachverhalt und Anträge
I. Auf den Gegenstand der am 6. Mai 1989 angemeldeten europäischen Patentanmeldung Nr. 89 905 055.3, welche die Priorität des am 7. Mai 1988 angemeldeten deutschen Gebrauchsmusters DE-U-8806094 beansprucht, wurde das europäische Patent Nr. 372 032, d. h. das vorliegende Patent erteilt. Gegen dieses Patent wurde ein Einspruch von der Firma "OKIN Gesellschaft für Antriebstechnik mbH" (Einsprechende) eingelegt mit dem Antrag, das Patent zu widerrufen.
II. Ursprünglicher Anmelder dieser europäischen Patentanmeldung ist Herr E. Dewert, der in der vorliegenden Patentschrift als Erfinder und Patentinhaber bezeichnet ist.
Das vorliegende Patent wurde der Firma "Dewert Antriebs- und Systemtechnik GmbH & Co. KG.", d. h. der Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) übertragen (siehe Schreiben der Beschwerdeführerin vom 25. Februar 1994).
Aus einem Schreiben der Beschwerdeführerin vom 20. Oktober 1993 geht hervor, daß Herr E. Dewert im Frühjahr 1987 "als freier Mitarbeiter im Unternehmen seiner Ehefrau, nämlich in der Firma "Medical Medizin und Antriebstechnik GmbH ..." (nachstehend MEDICAL) gearbeitet habe, in welchem Unternehmen ein dem Gegenstand des vorliegenden Patentes entsprechendes Muster entwickelt worden sei (siehe Seite 3).
III. Am 2. Februar 1995 fand im Zuge einer mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung die Beweisaufnahme durch Vernehmung der Zeugen G. Geisler, E. Dewert, A. Jahnknecht, H. Gerritzen und K. Schmid statt.
Die Einspruchsabteilung widerrief mit ihrer am 4. Mai 1995 zur Post gegebenen Entscheidung das Patent wegen mangelnder Neuheit seines Gegenstandes gegenüber dem Gegenstand der ersten von drei von der Einsprechenden geltend gemachten Offenbarungshandlungen, welche sich auf ein dem Gegenstand des vorliegenden Patentes entsprechendes Muster bezogen. Diese erste Offenbarungshandlung wurde aufgrund der Aussagen der Zeugen K. Schmid und E. Dewert von der Einspruchsabteilung als bewiesen angesehen.
Aus der Niederschrift über die Beweisaufnahme durch Vernehmung des Zeugen E. Dewert (2. Niederschrift) geht hervor, daß bereits im Januar 1988 ein "Handmuster" eines Doppelantriebs-Kastenmotors vorhanden war, nämlich "ein Fräsmuster, das bereits einige Ansprüche des jetzigen Patentes beinhaltete..." (siehe insbesondere Seiten 8 und 12). Es geht aus dieser Niederschrift auch hervor, daß Anfang 1988 ein "Spritzgußmodell" (oder "Spritzmuster") hergestellt wurde, welches Ende April 1988 bereits vorhanden war (siehe insbesondere Seiten 9 und 10).
Aus der Niederschrift über die Beweisaufnahme durch Vernehmung des Zeugen K. Schmid (5. Niederschrift) geht hervor, daß am 9. April 1988 der Zeuge Schmid, Entwicklungsleiter der Firma "Franke GmbH + Co. KG." (nachstehend FRANKE), ein Muster eines dem Gegenstand des Patentes entsprechenden Doppelantriebs-Kastenmotors auseinanderbaute, welches er von der Firma EGGENWEILER bekommen hatte, mit dem Auftrag, einen Beschlag für diesen Doppelantriebs-Kastenmotor zu entwickeln (siehe insbesondere Seiten 22 und 23).
IV. Aus der Niederschrift über die Beweisaufnahme durch Vernehmung des Zeugen G. Geisler (1. Niederschrift) geht hervor, daß hinter der Firma MEDICAL Herr Dewert stand ("Wenn ich Firma Dewert sage, meine ich Firma Medical, weil Herr Dewert dahinterstand", siehe Seite 2).
V. Die Einspruchsabteilung befaßte sich in der angefochtenen Entscheidung auch mit der zweiten und der dritten Offenbarungshandlung. Sie sah auch diese Offenbarungshandlungen aufgrund der Beweisaufnahme durch Vernehmung u. a. der Zeugen G. Geisler und H. Gerritzen als bewiesen an und hielt den Gegenstand des Patentes gegenüber jeder dieser Offenbarungshandlungen nicht für neu.
VI. Gegen diese Entscheidung hat die Beschwerdeführerin am 23. Juni 1995 unter gleichzeitiger Bezahlung der Gebühr Beschwerde eingelegt und diese mit dem Schreiben vom 4. September 1995 begründet.
Mit diesem Schreiben hat die Beschwerdeführerin bezüglich der zweiten und der dritten Offenbarungshandlung (siehe den vorstehenden Abschnitt V) auf die Niederschrift über die Vernehmung der Zeugen hingewiesen und im wesentlichen vorgetragen, daß diese Offenbarungshandlungen nicht durch die Aussagen der Zeugen bewiesen werden.
VII. Mit dem Schreiben vom 6. März 1996 trug die Beschwerdeführerin vor, daß die Offenbarungshandlungen, auf welche sich die Aussagen der Zeugen E. Dewert und K. Schmid beziehen, auf einen offensichtlichen Mißbrauch (im Sinne von Artikel 55 EPÜ) zum Nachteil des Herren E. Dewert, Rechtsvorgängers der Beschwerdeführerin, zurückgehen, insofern als Herr H. Blombecker, damaliger Vertriebsleiter der Firma MEDICAL, vor dem Anmeldetag des deutschen Gebrauchsmusters DE-U-8 806 094 gegen die ausdrückliche Weisung von Herr Dewert ein dem Gegenstand des Patentes entsprechendes Muster der Firma EGGENWEILER zur Verfügung gestellt habe.
VIII. Mit dem Schreiben vom 12. März 1996 nahm die Einsprechende den Einspruch zurück. Mit diesem Schreiben trug die Einsprechende vor, daß eine Nachfrage bei Herrn Blombecker ergeben habe, daß die Darstellung der Beschwerdeführerin in bezug auf den offensichtlichen Missbrauch richtig sei.
IX. In einer am 30. April 1998 zur Post gegebenen Mitteilung vertrat die Kammer die Auffassung, daß sowohl die zweite als auch die dritte Offenbarungshandlung (siehe den vorstehenden Abschnitt V) nicht ausreichend bewiesen seien, daß aber durch die erste Offenbarungshandlung (siehe den vorstehenden Abschnitt III) die Neuheit des beanspruchten Gegenstandes nach dem Hauptantrag beeinträchtigt werden könne. Mit dieser Mitteilung wies die Kammer auch darauf hin, daß sie der Großen Beschwerdekammer eine Rechtsfrage hinsichtlich der Interpretation des Artikels 55 (1) EPÜ vorlegen würde, wenn sie davon überzeugt wäre, daß die Offenbarungshandlungen, auf welche sich die Aussage des Zeugen K. Schmid bezieht (siehe die vorstehenden Abschnitte III und VII), tatsächlich auf einen offensichtlichen Mißbrauch zurückgehen.
X. Mit Schreiben vom 27. November 1998 reichte die Beschwerdeführerin eidesstattliche Versicherungen der Herren E. Dewert und H. Blombecker ein.
Aus der mit dem Datum vom 29. Juli 1998 versehenen, eidesstattlichen Versicherung des Herrn E. Dewert geht u. a. hervor, daß er, "während der Zeit, als das europäische Patent 0 372 032 angemeldet worden ist bzw. die mit dem Einspruch behaupteten, neuheitsschädlichen Vorbenutzungen stattgefunden haben sollen", dem Herrn Blombecker die Anweisung gegeben habe, bei Kundenbesuchen das Muster des neuen Doppelantriebs weder im geöffneten Zustand zu zeigen, noch es dem Kunden während seiner Abwesenheit zu überlassen, noch dessen innere Konstruktionsmerkmale zu erklären.
Aus der mit dem Datum vom 27. Juli 1998 versehenen, eidesstattlichen Versicherung des Herrn H. Blombecker geht u. a. hervor, daß er die oben genannte Anweisung vom Herrn Dewert bekommen habe, aber diese Anweisung "nicht so ernst genommen" und der Firma EGGENWEILER ein Muster des Doppelantriebs überlassen habe.
XI. Mit einer am 22. Januar 1999 zur Post gegebenen Mitteilung wies die Kammer darauf hin, daß die Rechtsfrage, ob für die Anwendung des Artikels 55 (1) EPÜ der Prioritätstag des Patentes als Tag der Einreichung der europäischen Patentanmeldung zu gelten hat, der Großen Beschwerdekammer von der Kammer 3.3.4 im Fall T 377/95 bereits vorgelegt worden ist. Außerdem wies die Kammer darauf hin, daß sie diese Rechtsfrage erneut an die Große Beschwerdekammer vorlegen könnte, allerdings unter der Voraussetzung, daß die Kammer vorab nicht nur die Frage entscheidet, ob die Offenbarung, auf welche sich sowohl die Aussagen der Zeugen K. Schmid und E. Dewert als auch die eidesstattlichen Versicherungen der Herren Dewert und Blombecker beziehen, unter mißbräuchlichen Umständen stattfand, sondern auch die Frage, ob diese Offenbarung für das Schicksal des vorliegenden Patentes entscheidend ist.
XII. Mit Schreiben vom 22. Juni 1995 beantragte die Beschwerdeführerin, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in der erteilten Fassung aufrechtzuerhalten (Hauptantrag). Hilfsweise, beantragte sie, das Patent in geänderter Fassung aufgrund eines der drei während der mündlichen Verhandlung vom 2. Februar 1995 vorgelegten Hilfsanträge aufrechtzuerhalten.
XIII. Mit dem Schreiben vom 2. März 1999 teilte die Beschwerdeführerin mit, daß die mangelnde Neuheit des Gegenstandes des Patentes unter Würdigung der Aussagen der Zeugen Schmid und Dewert nicht bestritten werde und daß der Antrag auf mündliche Verhandlung nicht aufrechterhalten werde.
Mit diesem Schreiben beantragte die Beschwerdeführerin weiter, der Großen Beschwerdekammer die Rechtsfrage bezüglich der Auslegung des Artikels 55 (1) EPÜ vorzulegen.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Zu den Offenbarungshandlungen, mit welchen sich die angefochtene Entscheidung befaßt
2.1. Mit der angefochtenen Entscheidung wurde das Patent wegen mangelnder Neuheit seines Gegenstandes nicht nur gegenüber dem Gegenstand der ersten Offenbarungshandlung (siehe den vorstehenden Abschnitt III), sondern auch gegenüber dem Gegenstand der zweiten bzw. dritten Offenbarungshandlung (siehe den vorstehenden Abschnitt V) widerrufen.
Nach Berücksichtigung des Inhaltes der Niederschrift über die Vernehmung der Zeugen sowie der Argumente, welche die Beschwerdeführerin mit ihrem Schreiben vom 4. September 1995 vorgebracht hat, hält die Kammer weder die zweite noch die dritte Offenbarungshandlung (siehe den vorstehenden Abschnitt IX) für ausreichend bewiesen.
2.2. Bezüglich der ersten Offenbarungshandlung hat die Kammer mit der am 30. April 1998 zur Post gegebenen Mitteilung die Auffassung vertreten, daß aufgrund der Aussagen der Zeugen K. Schmid und E. Dewert diese Offenbarungshandlung die Neuheit des Gegenstandes des Anspruchs 1 des erteilten Patentes beeinträchtigen würde, wenn sie nicht unschädlich im Sinne von Artikel 55. (1) EPÜ wäre.
Mit ihrem Schreiben vom 2. März 1999 erklärte die Beschwerdeführerin, daß sie die fehlende Neuheit des Gegenstandes des Patentes unter Würdigung der Aussagen der Zeugen Schmid und Dewert nicht bestreite.
Daher sieht die Kammer keinen Grund, ihre Meinung diesbezüglich zu ändern.
Es ist somit festzustellen, daß der der oben genannten Offenbarungshandlung entsprechende Gegenstand und der Gegenstand des Anspruchs 1 des erteilten Patentes identisch sind.
3. Die Frage des offensichtlichen Mißbrauches
Es ist aufgrund der Aussagen des Zeugen Geisler davon auszugehen, daß 1988 Herr Dewert das Unternehmen seiner Ehefrau, d. h. die Firma MEDICAL, de facto führte. Bei diesem Unternehmen arbeitete Herr Blombecker.
Bezüglich der Frage des offensichtlichen Mißbrauches hat die Beschwerdeführerin vorgetragen, daß Herr Blombecker unter Verletzung eines zwischen ihm und Herrn Dewert bestehenden Vertrags- und Vertrauensverhältnisses gehandelt habe, indem er gegen die ausdrückliche Weisung von Herr Dewert, ein dem Gegenstand des Patentes entsprechendes Muster der Firma EGGENWEILER zur Verfügung gestellt habe (siehe den vorstehenden Abschnitt VII).
Diese Umstände werden nicht nur durch die Erklärung der früheren Einsprechenden bestätigt (siehe den vorstehenden Abschnitt VIII), sondern auch durch die eidesstattlichen Versicherungen der Betroffenen, Herren Dewert und Blombecker (siehe den vorstehenden Abschnitt X).
Daher ist die Kammer davon überzeugt, daß Herr Blombecker unter Verletzung eines Vertrauensverhältnisses (vgl. T 173/83, Abl. EPA, 1977, 465; Abschnitt 6) der Firma EGGENWEILER ein dem Gegenstand des Patentes entsprechendes Muster zur Verfügung gestellt hat.
Die Kammer stellt somit fest, daß die erste Offenbarungshandlung auf einen offensichtlichen Mißbrauch zum Nachteil des Rechtsvorgängers der Beschwerdeführerin zurückgeht, welcher die Rechte des ursprünglichen Anmelders der dem vorliegenden Patent entsprechenden europäischen Patentanmeldung übertragen wurden.
4. Die 6-monatige Frist gemäß Artikel 55 (1) EPÜ
4.1. Die Beschwerdeführerin hat auch vorgetragen, daß aufgrund des Artikels 55 EPÜ die erste Offenbarungshandlung für die Anwendung des Artikels 54 EPÜ insofern außer Betracht bleiben müsse, als sie nicht früher als sechs Monate vor Einreichung der prioritätsbegründenden deutschen Gebrauchsmusteranmeldung erfolgte.
Bei dieser Argumentation setzt die Beschwerdeführerin offensichtlich voraus, daß Artikel 55 (1) EPÜ derart auszulegen sei, daß die Frist von sechs Monaten "vor Einreichung der europäischen Patentanmeldung" vom Tag der Einreichung der prioritätsbegründenden Anmeldung zu berechnen sei.
4.2. Mit der Entscheidung T 377/95 vom 5. August 1998 (vgl. die deutsche Übersetzung in Abl. EPA, 1999, 11) hat die Kammer 3.3.4 der Großen Beschwerdekammer die folgende Rechtfrage vorgelegt:
"Wenn einer europäischen Patentanmeldung eine Priorität zuerkannt wird, ist dann für die Zwecke des Artikels 55. (1) EPÜ die Frist von sechs Monaten 'vor Einreichung der europäischen Patentanmeldung' vom Tag der Einreichung der prioritätsbegründenden Anmeldung (Prioritätstag) oder vom tatsächlichen Einreichungstag der europäischen Patentanmeldung an zu berechnen?" (vgl. Entscheidungsformel, Seite 33).
Dem Verfahren bezüglich dieser Frage ist das Aktenzeichen G 3/98 zugeschrieben worden. Aufgrund der Ausführungen in den vorstehenden Abschnitten 2 und 3 ist die Antwort auf diese Frage für das Schicksal des vorliegenden Patents entscheidend.
Würde die Kammer im vorliegenden Fall das Beschwerdeverfahren nur aussetzen, verlöre die Beschwerdeführerin die Gelegenheit, sich - als Beteiligte am Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer - zu einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu äußern, welche für deren eigene Interessen entscheidend ist.
Daher entscheidet die Kammer, der Großen Beschwerkammer die Frage, die auch in der Sache G 3/98 gestellt wurde, erneut vorzulegen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Der Großen Beschwerdekammer wird folgende Rechtfrage vorgelegt:
Wenn einer europäischen Patentanmeldung eine Priorität zuerkannt wird, ist dann für die Zwecke des Artikels 55 (1) EPÜ die Frist von sechs Monaten "vor Einreichung der europäischen Patentanmeldung" vom Tag der Einreichung der prioritätsbegründenden Anmeldung (Prioritätstag) oder vom tatsächlichen Einreichungstag der europäischen Patentanmeldung an zu berechnen?