T 2450/09 (Sulkus-Retraktion / Coltène/Whaledent) 03-06-2014
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Dentalset für die Sulkus-Retraktion
Sachverhalt und Anträge
I. Die europäische Patentanmeldung Nr. 03 006 052.9 wurde als europäisches Patent Nr. 1 459 701 mit 4 Ansprüchen erteilt.
II. Der einzige unabhängige Patentanspruch 1 des erteilten Patents hatte folgenden Wortlaut:
"Dentalset geeignet für eine Sulkus-Retraktion, enthaltend eine härtbare Abformmasse (3) für die Erstellung einer Abformung (8), insbesondere einer Gebiss-Abformung (8) und mindestens eine härtbare Silikonverbindung (5) dadurch gekennzeichnet daß die Silikonverbindung (5) bei der Aushärtung eine Volumensexpansion von mindestens 20 %, vorzugsweise mindestens 35 % gegenüber dem ursprünglichen Volumen der nicht gehärteten Verbindung aufweist."
III. Die Einsprechende hat mit der Begründung Einspruch eingelegt, der Gegenstand des Streitpatents sei nicht neu und ergäbe sich in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik (Artikel 100 a) EPÜ).
IV. Die Einspruchsabteilung hat mit der unter dem Datum vom 16. Oktober 2009 zur Post gegebenen Zwischenentscheidung nach Artikel 101(3) a) und 106(2) EPÜ festgestellt, dass das Patent unter Berücksichtigung der von der Patentinhaberin im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderungen den Erfordernissen des Übereinkommens genüge.
Gegenstand der Entscheidung der Einspruchsabteilung im Sinne einer beschränkten Aufrechterhaltung ist der mit Schreiben vom 10. Juli 2008 eingereichte damalige zweite Hilfsantrag, welcher in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung in den vierten Hilfsantrag umnummeriert wurde.
Während der Hauptanspruch im Einspruchsverfahren mit Schreiben vom 17. August 2009 eingereicht worden war, wurden der erste, zweite und dritte Hilfsantrag jeweils während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung vorgelegt.
Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe und somit gegen die Erfordernisse von Artikel 123(2) EPÜ verstoße.
Der Gegenstand von Anspruch 1 des ersten Hilfsantrags umfasse ein Verfahren, das einen chirurgischen Verfahrensschritt enthält. Somit falle dieser Gegenstand unter das Patentierungsverbot gemäß Artikel 53 c) EPÜ.
Der zweite Hilfsantrag wurde von der Einspruchsabteilung nach Regel 116(1) EPÜ nicht zum Verfahren zugelassen, da dieser Antrag verspätet vorgebracht worden sei und prima facie nicht gewährbar sei. Er werfe neue Probleme gemäß Artikel 123(2) und (3) sowie Artikel 84 EPÜ auf.
Darüber hinaus vertrat die Einspruchsabteilung die Ansicht, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des dritten Hilfsantrags im Lichte der Offenbarung eines im Verfahren befindlichen Dokuments nicht neu sei (Artikel 54(1) und (2) EPÜ).
V. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein und bezog sich mit Ihren Anträgen auf die vor der Einspruchsabteilung vorliegenden Anspruchsfassungen (Hauptantrag und erster bis dritter Hilfsantrag).
VI. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) reichte eine Antwort auf die Beschwerdebegründung ein.
Sie beantragte schriftlich, die Beschwerde gegen die angefochtene Entscheidung zurückzuweisen. Mit Schreiben vom 2. Mai 2014 kündigte sie an, dass sie an der mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen werde.
VII. Am 3. Juni 2014 fand in Abwesenheit der Beschwerdegegnerin die mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt. In deren Verlauf legte die Beschwerdeführerin einen neuen Hilfsantrag 1a vor. Die Kammer hat diesen Hilfsantrag 1a zum Verfahren zugelassen. Den Hauptantrag und den ersten Hilfsantrag nahm die Beschwerdeführerin daraufhin zurück.
Patentanspruch 1 des damit geltenden Hilfsantrags 1a lautet:
"1. Verwendung eines Dentalsets geeignet für eine Sulkus-Retraktion, enthaltend eine härtbare Abformmasse (3) für die Erstellung einer Abformung (8), insbesondere einer Gebiss-Abformung (8) und mindestens eine härtbare Silikonverbindung (5) dadurch gekennzeichnet daß die Silikonverbindung (5) bei der Aushärtung eine Volumensexpansion von mindestens 20 %, vorzugsweise mindestens 35 % gegenüber dem ursprünglichen Volumen der nicht gehärteten Verbindung aufweist, wobei mit der härtbaren Abformmasse (3) zuerst ein Gebiss-Abdruck hergestellt wird, welcher nach dessen Aushärtung entnommen wird; in den Grenzbereich zwischen Zahn und Zahnfleischrand das Silikonmaterial (5) aufgetragen wird; und der zuvor hergestellte Gebiss-Abdruck wieder auf die Zähne aufgesetzt wird, wodurch dieser Abdruck eine einseitige Begrenzung für die Expansion des Silikonmaterials (5) bildet, sodass die Expansion des Silikonmaterials (5) nur in Richtung des Sulkus erfolgen kann und dieser von Zahnhals abgelöst wird."
VIII. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin im Verfahren, soweit für diese Entscheidung relevant, kann folgendermaßen zusammengefasst werden:
Der neue Hilfsantrag 1a sei technisch einfach zu verstehen, also nicht komplex, werfe keine neuen Probleme auf und verzögere somit nicht das Verfahren. Eine Verlegung der mündlichen Verhandlung sei folglich nicht erforderlich.
In seinen Anspruch 1 seien alle Verfahrensschritte, weitgehend wortwörtlich aufgenommen worden, wie sie auf der Seite 2 im letzten Absatz beschrieben sind. Damit sollte der mögliche Einwand einer "unerlaubten Zwischenverallgemeinerung" ausgeräumt werden.
IX. Als Antwort auf die Beschwerdebegründung und im Hinblick auf die damit vorliegenden Anträge trug die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) schriftlich unter anderem vor, dass im Anspruch 1 des ersten Hilfsantrags nach wie vor das unverzichtbare Merkmal der "einseitige(n) Begrenzung für die Expansion des Silikonmaterials" fehle wodurch weiterhin die Bestimmungen von Artikel 123(2) EPÜ verletzt seien.
X. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in der Fassung gemäß Hilfsantrag 1a, eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer, oder hilfsweise in der Fassung gemäß dem dritten Hilfsantrag, eingereicht während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung, aufrechtzuerhalten, oder höchst hilfsweise die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückzuverweisen.
Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte schriftlich die Beschwerde zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Im Folgenden werden die behandelten Anträge jeweils unverändert mit der Nummerierung aus der Verhandlung vor der Einspruchsabteilung genannt, ergänzt um den Hilfsantrag mit der Nummer 1a, der in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer eingereicht wurde.
3. Zu Beginn der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer wurden die vorliegenden Anträge unter Artikel 123(2) EPÜ behandelt, was als Konsequenz zu den Änderungen führte, die Patentanspruch 1 des mit Hilfsantrag 1a neu eingereichten Antrags enthält.
Unter den insoweit gegebenen Umständen hat die Kammer von ihrem Ermessen Gebrauch gemacht, und den Hilfsantrag 1a zur Verhandlung zugelassen. Die im Rahmen der Zulassung oder Nichtzulassung von Änderungen in den Artikeln 12 und 13 der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) genannten Randbedingungen wurden dabei als offener Katalog von Kriterien angewandt, die der Kammer dazu dienten, zu einem angemessenen und fairen Ergebnis zu kommen.
4. Anspruchsfassung nach Hilfsantrag 1a; Artikel 123(2) EPÜ
Der Gegenstand von Anspruch 1 nach Hilfsantrag 1a ergibt sich aus dem Patentanspruch 9 wie ursprünglich eingereicht, zusammen mit dem letzten Absatz auf Seite 2 der ursprünglichen Beschreibung. Er umfasst alle Merkmale, die zu einer direkten und unzweifelhaften Darstellung des Verfahrens ohne unzulässige Verallgemeinerung erforderlich sind.
Damit entspricht dieser Patentanspruch den Bestimmungen des Artikels 123(2) EPÜ.
5. Zurückverweisung
5.1 Die Einspruchsabteilung ist in ihrer Entscheidung zu dem Schluss gekommen, dass der erste Hilfsantrag in der ihr vorliegenden Form ein chirurgisches Verfahren enthalte. Der nunmehr der Kammer vorliegende Hilfsantrag 1a unterscheidet sich nur durch stärkere Detailierung verschiedener Verfahrensschritte und für ihn würden in erster Näherung vergleichbare Überlegungen anzustellen sein, wie sie die Einspruchsabteilung anstellte.
Inzwischen wurde aber die Entscheidung G 1/07 vom 15. Februar 2010 "Treatment by surgery, MEDI-PHYSICS", ABl. EPA 2011, 134 veröffentlicht. Die Auswirkungen dieser Entscheidung wurden auch bezüglich des hier zu beurteilenden Streitpatents im schriftlichen Beschwerdeverfahren vor der Kammer von den Parteien kontrovers diskutiert. Die Einspruchsabteilung konnte diese neue Situation jedoch in ihrer Entscheidung vom 16. Oktober 2009 noch nicht berücksichtigen.
5.2 Obwohl sich aus dem EPÜ kein allgemeines Recht auf zwei Instanzen zur Diskussion aller Teilfragen eines Falles ableiten lässt, ist es allgemein anerkannt dass jeder Partei zugestanden wird, wichtige Details vor der Abteilung und vor der Beschwerdekammer vorzutragen.
Bei der im der vorliegenden Fall gegebenen Sachlage, wie sie unter Punkt 5.1 dargestellt ist, hält es die Kammer für angemessen, den Parteien Gelegenheit zu geben, ihre aktualisierten Überlegungen zur Frage des Vorliegens eines chirurgischen Verfahrens vor der Einspruchsabteilung vorzutragen. Sie macht daher von ihrem Ermessen Gebrauch, die Angelegenheit zurückzuverweisen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückverwiesen.