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T 2704/18 04-03-2020
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ELEKTROMECHANISCH UND HYDRAULISCH BETÄTIGBARE KRAFTFAHRZEUGBREMSE MIT WAHLWEISER SELBSTHEMMUNG
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung des Europäischen Patentamts, mit der die europäische Patentanmeldung Nr. 14 787 200.6 aufgrund des Artikels 97 (2) EPÜ zurückgewiesen wurde.
II. Die Prüfungsabteilung ist in ihrer Entscheidung zu der Auffassung gelangt, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß der am 12. März 2018 eingereichten Fassung nicht (ohne unzumutbaren Aufwand für einen Fachmann, oder ohne erfinderisch zu werden; von Fehlern in der Anmeldung sei keine Rede) ausführbar ist.
Sie hat insbesondere festgestellt (siehe Punkte 3, 7 und 8 der angefochtenen Entscheidung:
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
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III. Gegen diese Entscheidung hat die Anmelderin Beschwerde eingelegt und beantragt die erstinstanzliche Entscheidung aufzuheben und ein Patent zu erteilen auf der Grundlage der im Prüfungsverfahren mit der Eingabe vom 12. März 2018 eingereichten und angegebenen Unterlagen, nämlich:
- Patentansprüche 1 bis 7 vom 12. März 2018;
- geänderte Beschreibungsseite 13 vom 12. März 2018;
- Beschreibungsseiten 7 und 14 vom 17. August 2017;
- Beschreibungsseiten 3 und 3a vom 19. Dezember 2016;
- Beschreibungsseiten 1, 2 und 6 vom 12. Januar 2016;
- Beschreibungsseiten 4, 5, 8 bis 12 und 15 vom Anmeldetag; und
- Figuren 1 bis 7 vom Anmeldetag.
IV. Anspruch 1 in der von der Beschwerdeführerin vorgelegten Fassung lautet:
"Kraftfahrzeugbremse, insbesondere kombiniert hydraulisch und elektromechanisch betätigbare Kraftfahrzeugbremse, mit einer Aktuatorbaugruppe (10) umfassend: - ein Gehäuse (12), - ein relativ zu dem Gehäuse (12) verlagerbares Stellglied (18) zum hydraulischen oder elektromechanischen Verlagern eines Bremsbelags,- einen motorischen Antrieb (22), - eine zwischen dem motorischen Antrieb (22) und dem verlagerbaren Stellglied (18) angeordnete Verlagerungsmechanik, - eine der Verlagerungsmechanik zugeordnete Getriebeanordnung (26), und - eine separate Selbsthemmungsvorrichtung (SHV), die dazu ausgebildet ist, die Verlagerungsmechanik bei Bedarf zu blockieren,wobei die Verlagerungsmechanik einen Spindeltrieb (28) mit einer Spindel (76) und einer Mutter (86) aufweist, wobei wahlweise die eine Komponente von Spindel (76) und Mutter (86) drehantreibbar ist und die jeweils andere Komponente von Spindel (76) und Mutter (86) zur Verlagerung des Stellglieds (18) durch Drehantreiben einer Komponente von der Spindel (76) und Mutter (86) innerhalb des Gehäuses (12) linear verlagerbar ist, wobei die Getriebeanordnung (26) wenigstens zwei Getriebestufen (54, 66) aufweist,wobei die Selbsthemmungsvorrichtung (SHV) derart in oder an der Getriebeanordnung (26) angeordnet ist, dass wenigstens zwei Getriebestufen (GS2, GS3) zwischen dem Spindeltrieb (28) und der Selbsthemmungsvorrichtung (SHV) angeordnet sind, und wobei der motorische Antrieb (22) einen Elektromotor (EM) aufweist,wobei der Spindeltrieb (28) ein Kugelgewindetrieb (28) ist, die Getriebeanordnung (26) einen Planetengetriebemechanismus (34) aufweist, eine Ausgangswelle (32) des Elektromotors (EM) ein Sonnenrad des Planetengetriebemechanismus (34) aufweist, wobei ein Hohlrad (44) des Planetengetriebemechanismus (34) gehäusefest angeordnet ist, und wobei Planetenräder (42) des Planetengetriebemechanismus (34) an einem im Gehäuse (12) drehbar gelagerten Planetenträger (38) drehbar gelagert sind,dadurch gekennzeichnet, dass die Selbsthemmungsvorrichtung (SHV) in das Sonnenrad (32) des Planetengetriebemechanismus (34) integriert ist."| |
V. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, insoweit es von dem in der angefochtenen Entscheidung berücksichtigten Vorbringen abweicht, kann wie folgt zusammengefasst werden:
Die Prüfungsabteilung habe im Zusammenhang mit der Beurteilung der Ausführbarkeit allzu sehr im Hinblick auf eine fehlende erfinderische Tätigkeit argumentiert. Es sei nicht maßgeblich, ob die Argumentation im Rahmen der Ausführbarkeit künstlich oder rückschauend sei, sondern ob der Fachmann zum Anmeldetag dazu in der Lage gewesen sei, unter Berücksichtigung seines Fachwissens die beschriebene und beanspruchte Erfindung ohne unzumutbaren Aufwand auszuführen. Die Offenbarung der Patentanmeldung zeige (siehe ausführliche Beschreibung der Figuren 1-5) eine Möglichkeit, eine Selbsthemmungsvorrichtung (im Folgenden als "SHV "bezeichnet) in der Getriebeanordnung zwischen dem motorischen Antrieb und dem Stellglied zum Verlagern des Bremsbelags vorzusehen. Zwar sei dort die SHV nicht im Sonnenrad des Planetengetriebes, sondern in einem anderen Getrieberad 54 der Anordnung integriert. Die einzige ingenieurmäßig intellektuelle Leistung für den Fachmann (mit universitärer Vorbildung auf dem Gebiet des allgemeinen Maschinenbaus und mit Fachkenntnissen im Bereich der Entwicklung von Kraftfahrzeugbremsen) liege darin, die aus der Beschreibung der Figuren 1-5 im Detail offenbarte SHV und das ebenfalls im Detail offenbarte Sonnenrad entsprechend so zu dimensionieren, um diese Anordnung in die Praxis umzusetzen. Dies sei ihm zuzutrauen. Er vollziehe entsprechende konstruktive Schritte ohne erfinderisches Zutun, wenn er angewiesen werde, die SHV in das Sonnenrad zu integrieren.
Die Patentanmeldung behandele separat eine SHV (siehe Seite 9, letzter Absatz bis Seite 10, erster Absatz), bestehend aus einem ersten und einem zweiten Getrieberad gelagert auf einem gehäusefesten Stator, allerdings in einer nicht beanspruchten Anordnung. Die sich stellende Frage sei, ob der Fachmann mit seinem Fachwissen und den in der Patentanmeldung gegebenen Informationen in der Lage sei, die SHV in das Sonnenrad zu integrieren, ohne erfinderisch tätig zu werden (analog zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit, wenn der Fachmann aus dem Stand der Technik sowohl eine SHV kenne als auch wisse, dass eine SHV im Sonnenrad integriert sei). Der Fachmann müsse ausgehend von den in der Patentanmeldung gegebenen Informationen die SHV nur einseitig im Gehäuse verankern und eine Änderung am Sonnenrad durch Vorsehen eines Kragens vornehmen; ein zweigeteiltes Sonnenrad sei nicht erforderlich.
Bei Zweifeln an der Ausführbarkeit sei im Zweifel für die Patentinhaberin zu entscheiden (siehe Kapitel II.C der Rechtsprechung der Beschwerdekammern). Die Frage der Ausführbarkeit stelle sich zwar eher in der Chemie als in der Mechanik, aber dem Fachmann sei die Möglichkeit des Experimentierens unter Inkaufnahme von Irrtümern mit zumutbarem Aufwand gegeben.
Entscheidungsgründe
1. Ausführbarkeit (Artikel 83 EPÜ)
1.1 Die Kammer stimmt mit der Feststellung der Prüfungsabteilung überein, dass die Erfindung gemäß Anspruch 1, insbesondere der kennzeichnende Teil des Anspruchs 1 nicht ausführbar ist (Artikel 83 EPÜ).
1.2 Zur Begründung verweist die Kammer auf die in der angefochtenen Entscheidung gegebene Begründung (siehe weiter oben, Punkt II), da die Ausführungen zur Ausführbarkeit in der Beschwerdebegründung (siehe dort Seiten 4 bis 6) identisch sind zu denen aus dem Schreiben der Anmelderin vom 12. März 2018, die in der angefochtenen Entscheidung bereits berücksichtigt wurden (siehe oben Punkt II, unter 3).
1.3 Die Kammer sieht es allerdings als erforderlich an, noch auf die Argumente der Beschwerdeführerin einzugehen (siehe oben, Punkt V), die die angefochtene Entscheidung kritisieren (siehe Beschwerdebegründung, Seite 3) bzw. ergänzend in der mündlichen Verhandlung vorgetragen wurden:
1.3.1 Offenbart die Patentanmeldung kein Ausführungsbeispiel der beanspruchten Erfindung, so ist nach gefestigter Rechtsprechung für die Beurteilung der ausreichenden Offenbarung zu bewerten, ob der Fachmann in der Lage ist, die Erfindung ohne erfinderisches Zutun und ohne unzumutbaren Aufwand nachzuarbeiten. Das Kriterium des "unzumutbaren Aufwands" ist dabei nicht als Alternative zu betrachten, sondern beschränkt die Beurteilung des erfinderischen Zutuns dahingehend, dass beispielsweise einem dem Fachmann zuzumutenden Herumexperimentieren oder einer zu treffenden Auswahl gewisse Grenzen gesetzt werden. Bei Beurteilung der Ausführbarkeit ist dabei der gleiche Wissensstand des Fachmanns wie bei Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit zugrunde zu legen. Die in der Anmeldung enthaltenen Informationen (unter Auswertung der Ansprüche, Beschreibung und Zeichnungen) kann der Fachmann durch sein allgemeines Fachwissen ergänzen und auch erkannte Fehler berichtigen (siehe z. B. die von der Beschwerdeführerin zitierten Entscheidungen T 169/83, T 206/83, T 629/05).
1.3.2 Die Kammer stimmt mit der Prüfungsabteilung überein, dass der Fachmann nicht ohne erfinderisches Zutun zum Gegenstand von Anspruch 1 gelangen würde. Dies hat die Prüfungsabteilung in ihrer Entscheidung auch dadurch ausgedrückt, dass sie die von der Anmelderin zur Ausführbarkeit vorgeschlagene becherartige Konstruktion als "künstlich" oder "rückschauend" bezeichnet hat, also mit Begriffen, die zum Nachweis des Vorliegens einer erfinderischen Tätigkeit verwendet werden. Dies ist nicht zu beanstanden.
Strittig ist, wie bei Beurteilung der Ausführbarkeit die Frage zu beantworten ist, ob der Fachmann erfinderisch tätig sein muss, um zum beanspruchten Gegenstand zu gelangen.
1.3.3 Die von der Beschwerdeführerin vorgeschlagenen Maßnahmen, um ausgehend von dem in der Patentanmeldung gezeigten Ausführungsbeispiel bzw. den in der Patentanmeldung offenbarten Informationen zu einer im Sonnenrad integrierten SHV zu gelangen, stellen nach Auffassung der Kammer grundlegende strukturelle Änderungen dar, zu denen der Fachmann nicht im Rahmen seines routinemäßigen Handelns durch Versuche oder Herumexperimentieren gelangen würde. Die Rechtsprechung der Beschwerdekammern, die ein Experimentieren im Falle von behaupteten Wirkungen, Parametern oder Grenzen von Bereichen (insbesondere im Bereich der Chemie) sowie der Auswahl aus einer Vielzahl von Möglichkeiten (z. B. Auswahl geeigneter Materialien, Dimensionierungen und Verfahrensparameter, ohne Angabe mindestens eines Weges zur Ausführung der beanspruchten Erfindung, siehe T 1133/08) als vertretbar ansieht, trifft nach Auffassung der Kammer vorliegend also nicht zu.
1.3.4 Unabhängig davon, ob der Fachmann von einem einteiligen oder zweigeteilten Sonnenrad ausgeht, wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen, ist zum einen die Lagerung der Statorachse gegenüber der offenbarten Ausführungsform zu modifizieren und nur noch einseitig einzuspannen, zum anderen ist noch ein becherförmiger Kragen am Sonnenrad anzubringen, um das kennzeichnende Merkmal der Integration der SHV in das Sonnenrad zu erfüllen. Diese Modifikationen setzen nach Auffassung der Kammer ein erfinderisches Zutun voraus, wie durch die nachfolgende Betrachtung verdeutlicht werden soll:
Die Patentanmeldung offenbart eine SHV, die - dem Argument der Beschwerdeführerin folgend - aus zwei Getrieberädern und einem gehäusefesten Stator besteht und einem Planetengetriebe (dessen Sonnenrad auf einem Lagerzapfen des Elektromotors sitzt) nachgeschaltet ist. Zusätzlich findet sich im kennzeichnenden Merkmal des Anspruchs 1 der zur Prüfung eingereichten Unterlagen (aus Anspruch 11 der ursprünglich eingereichten Anmeldungsunterlagen stammend) die Information, dass "die Selbsthemmungsvorrichtung (SHV) in das Sonnenrad (32) des Planetengetriebemechanismus (34) integriert ist". Damit wird also eine Alternative zu der im Detail in den Figuren und der Beschreibung offenbarten Ausführungsform vorgeschlagen. Dies ist vergleichbar mit der Situation bei Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit, dass in einem Dokument des Standes der Technik ein Ausführungsbeispiel gezeigt ist und an anderer Stelle dieses Dokuments oder in einem weiteren Dokument rein textlich eine Alternative dazu vorgeschlagen wird, ohne dass diese Alternative detaillierter beschrieben wird.
Die zu lösende Aufgabe kann nicht darin bestehen, dass der Fachmann angewiesen wird, die SHV in das Sonnenrad zu integrieren, wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen, da dem Fachmann damit schon ein Hinweis auf die zu erwartende Lösung gegeben wird. Ist mit dem unterscheidenden Merkmal kein weiterer Vorteil oder technischer Effekt verbunden, besteht die zu lösende Aufgabe darin, eine Alternative zu dem bekannten Ausführungsbeispiel zu suchen. Vorliegend mag sogar ein Vorteil darin zu sehen sein, dass (wie in Bezug auf das Ausführungsbeispiel der Figur 7 der Patentanmeldung angesprochen) eine noch größere Untersetzung erreicht wird, wenn die SHV näher an den Elektromotor rückt.
Der mit der letztgenannten Aufgabe befasste Fachmann würde vielleicht noch daran denken, zur Erzielung einer größeren Untersetzung die in der Patentanmeldung offenbarte SHV zwischen dem Elektromotor und dem Planetengetriebe vorzusehen. Es mag auch noch im Rahmen des allgemeinen Fachwissens liegen, das erste Getrieberad der SHV von einem Ritzel des Elektromotors antreiben zu lassen und das zweite Getrieberad zum Antrieb des Sonnenrades zu nutzen, indem das zweite Getrieberad die Achse des Sonnenrades antreibt. Wieso der Fachmann aber noch zusätzlich einen becherförmigen Kragen am Sonnenrad vorsehen würde, kann die Kammer nicht erkennen. Wie in der angefochtenen Entscheidung (unter 3) festgestellt, zielt diese Modifikation nur darauf ab, das unterscheidende Merkmal der Integration der SHV in das Sonnenrad zu realisieren, würde also nur in Kenntnis der Erfindung und damit rückschauend vorgenommen und wäre erfinderisch. Vor diesem Hintergrund kann es dahingestellt bleiben, ob dem Fachmann eine einseitige Lagerung der Statorachse im Gehäuse als weitere Modifikation geläufig ist.
Wenn der Fachmann aber aufgrund seines Fachwissens nicht ohne erfinderisches Zutun zum beanspruchten Gegenstand gelangen würde, ist nach Auffassung der Kammer die Ausführbarkeit der Erfindung nicht gegeben.
1.3.5 Eine Umkehr der Beweislast zugunsten der Anmelderin bei Zweifeln an der Frage der Ausführbarkeit ist gemäß Rechtsprechung der Beschwerdekammern nicht generell geboten, sondern bei sich widersprechenden und unsubstantiierten Aussagen zur Ausführbarkeit. Dies ist vorliegend nicht der Fall, da sowohl die Anmelderin als auch die Prüfungsabteilung sich argumentativ mit der strittigen Frage auseinandergesetzt haben, ob der Fachmann erfinderisch tätig werden muss, um zum beanspruchten Gegenstand zu gelangen. Die Kammer kann deshalb nicht erkennen, dass die Prüfungsabteilung die Frage der Ausführbarkeit im Zweifel für die Anmelderin hätte entscheiden müssen. Gemäß der Entscheidung T 63/06 ist zudem die Patentinhaberin (bzw. vorliegend die Anmelderin) für die Behauptung beweispflichtig, dass das allgemeine Fachwissen es dem Fachmann tatsächlich ermöglichen würde, die Erfindung auszuführen, wenn im Patent (bzw. vorliegend in der Anmeldung) keinerlei Angaben dazu gemacht, wie ein Merkmal der Erfindung (vorliegend: die Integration der SHV in das Sonnenrad) in die Praxis umgesetzt werden kann und glaubhaft ist, dass das allgemeine Fachwissen diese Umsetzung dem Fachmann nicht ermöglichen würde.
Vor diesem Hintergrund ist sogar fraglich, ob die Patentanmeldung einen Weg zur Ausführung der Erfindung zeigt, da die Erfindung gerade in der Integration der SHV in das Sonnenrad bestehen soll.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.