T 0117/87 (Deutsches Patentamt) 06-07-1988
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Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Rechtsfraqen von grundsätzlicher Bedeutung vorgelegt:
(i) Ist der Präsident des EPA, der mit einer anderen Organisation (hier: dem Deutschen Patentamt) eine Vereinbarung trifft, befugt, in diese Vereinbarung eine Bestimmung aufzunehmen, wonach das EPA unter bestimmten Umständen ein Schriftstück, das bei ihm nach Ablauf einer im EPÜ gesetzten Frist eingereicht wird, so behandeln muß, als sei es fristgerecht eingereicht worden?
(ii) Falls der Präsident des EPA nicht zum Abschluß einer Vereinbarung, die eine solche Bestimmung enthält, befugt ist, welche Rechtswirkung hat dann diese Bestimmung im Hinblick darauf, daß die Vereinbarung im Amtsblatt veröffentlicht worden ist, damit die Beteiligten in den Verfahren vor dem EPA davon in Kenntnis gesetzt werden und sich darauf verlassen können?
(iii) Ist im vorliegenden Fall für die Frist und den Ort für die Einreichung der Einspruchsschrift beim EPA Artikel 99 (1) EPÜ allein maßgebend, oder muß er in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 3 der Verwaltungsvereinbarung vom 29. Juni 1981 gesehen werden?
Einspruchsschrift eingereicht beim Deutschen Patentamt - beim EPA eingereicht nach Ablauf der Frist von 9 Monaten
Verwaltungsvereinbarung DPA/EPA vom 29.Juni 1981 - Wirkung
Sachverhalt und Anträge
I. Am 24. Juli 1985 wurde beim Deutschen Patentamt ein Einspruch gegen das europäische Patent 0 011 944 (Anmeldungsnummer 79 302 462.1) eingereicht, der aber an das EPA gerichtet war. Die in Artikel 99 (1) EPÜ vorgesehene Frist von 9 Monaten zur Einlegung eines Einspruchs beim EPA lief am 24. Juli 1985 ab. Das Deutsche Patentamt leitete die Einspruchsschrift an das EPA in München weiter, wo sie am 29. Juli 1985 einging.
II. Den Zugang von Schriftstücken und Zahlungsmitteln regelt u. a. eine Verwaltungsvereinbarung zwischen dem Deutschen Patentamt und dem EPA, die am 29. Juni 1981 von den jeweiligen Präsidenten unterzeichnet worden ist (ABl. EPA 1981, 381). Artikel 1 Absatz 3 dieser Vereinbarung sieht insbesondere vor, daß an das EPA gerichtete Schriftstücke, die beim Deutschen Patentamt eingereicht werden, vom EPA so behandelt werden müssen, "als seien sie unmittelbar beim Europäischen Patentamt eingegangen."
III. Gemäß dieser Verwaltungsvereinbarung behandelte das EPA die Einspruchsschrift so, als wäre sie am 24. Juli 1985 beim EPA eingegangen. Der Einspruch wurde also von dem für die Einspruchsabteilung zuständigen Formalsachbearbeiter für zulässig erachtet und am 5. August 1985 gemäß Regel 57 (1) EPÜ der Patentinhaberin mitgeteilt. Mit Schreiben vom 14. August 1985 bestritt die Patentinhaberin die Zulässigkeit des Einspruchs mit der Begründung, daß die Einspruchsschrift beim EPA tatsächlich erst nach Ablauf der Einspruchsfrist von 9 Monaten eingereicht worden sei. Am 28. Januar 1986 erließ der Formalsachbearbeiter einen Bescheid, in dem er die Auffassung vertrat, daß die Verwaltungsvereinbarung auf den vorliegenden Fall anzuwenden und der Einspruch als zulässig anzusehen sei. Dementsprechend erging am 14. Januar 1987 eine Entscheidung, in der die Zulässigkeit des Einspruchs bestätigt und der Einspruch selbst zurückgewiesen wurde.
IV. Am 14. März 1987 legte die Einsprechende Beschwerde ein. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) hat die Entscheidung in bezug auf die Zulässigkeit des Einspruchs im Beschwerdeverfahren nicht angefochten. Dennoch muß die Beschwerdekammer angesichts der Sachlage gemäß Artikel 111 (1) und 114 (1) EPÜ feststellen, ob der Einspruch zulässig ist, bevor sie sich zu den sachlichen Einspruchsgründen äußert. Wenn der Einspruch unzulässig war, entfällt die Grundlage für ein Beschwerdeverfahren.
Entscheidungsgründe
1. Artikel 112 (1) a) EPÜ ermächtigt die Beschwerdekammern, von Amts wegen die Große Beschwerdekammer zu befassen, wenn sie zu einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung eine Entscheidung für erforderlich halten.
2. Artikel 99 (1) EPÜ sieht vor, daß innerhalb von 9 Monaten eine Einspruchsschrìft beim EPA einzureichen ist, wenn der Einspruch zulässig sein soll. Wenn der Formalsachbearbeiter Artikel 1 Absatz 3 der Verwaltungsvereinbarung befolgt, so bewirkt dies im vorliegenden Fall eine Verlängerung dieser Einspruchsfrist. Das EPÜ ermächtigt den Präsidenten des EPA nicht ausdrücklich zur Verlängerung von Fristen wie der nach Artikel 99 (1) EPÜ. Nach dem nationalen Recht vieler Staaten kann eine Behörde, die durch geschriebenes Recht eingesetzt worden ist, nur die Befugnisse ausüben, die ihr von diesem Recht eingeräumt werden. Übt sie (aus welchen Gründen auch immer) Befugnisse aus, die ihr nicht auf diese Weise erteilt worden sind, so gelten die dabei vorgenommenen Handlungen als ultra vires und damit als nichtig und rechtsunwirksam. Diese Ultra-vires-Lehre stellt einen wichtigen Grundsatz des Verwaltungsrechts dar.
Die Ultra-vires-Lehre hat nicht ausdrücklich Eingang in das EPÜ gefunden. In Artikel 10 EPÜ sind jedoch die Aufgaben und Befugnisse des Präsidenten des EPA aufgezählt; dies könnte darauf schließen lassen, daß die Vertragsstaaten ihn nicht mit weitergehenden Befugnissen ausstatten wollten. Artikel 10 EPÜ in Verbindung mit Artikel 33 EPÜ legt nahe, daß eine im EPÜ festgelegte Frist nur durch den Verwaltungsrat geändert werden kann.
Somit stellt sich die Frage, ob die Bestimmung der Verwaltungsvereinbarung, die das EPA dazu verpflichtet, nach Ablauf einer im EPÜ vorgeschriebenen Frist bei ihm eingereichte Schriftstücke so zu behandeln, als seien sie fristgerecht eingereicht worden, nichtig und rechtsunwirksam ist. Wenn ja, so müßte prima facie die Frist nach Artikel 99 (1) EPÜ von Rechts wegen Vorrang haben, der Einspruch im vorliegenden Fall also als unzulässìg gelten.
3. Die Kammer ist sich jedoch bewußt, daß die Vereinbarung getroffen wurde, um Verfahrensprobleme zu vermeiden, die insbesondere in den Anfangsjahren des EPA auftraten, und daß sie im Amtsblatt veröffentlicht wurde, um die Beteiligten oder potentiellen Beteiligten in den Verfahren vor dem EPA von ihren Bestimmungen in Kenntnis zu setzen. Auch haben sich die Beteiligten, insbesondere die Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall, auf diese Vereinbarung verlassen, seit sie 1981 im Amtsblatt veröffentlicht wurde. Sollte diese Bestimmung also keine fristverlängernde Wirkung haben, so stellt sich die weitere Frage nach ihrer Rechtswirkung für Beteiligte in mehrseitigen Verfahren, die im Vertrauen auf diese Bestimmung ein Schriftstück beim Deutschen Patentamt eingereicht haben. In diesem Zusammenhang ist in verschiedenen Entscheidungen der Beschwerdekammern nachdrücklich darauf hingewiesen worden, daß das EPA den Verfahrensbeteiligten Vertrauensschutz gewährt.
4. Die oben genannten Fragen sind von grundsätzlicher Bedeutung sowohl hinsichtlich des Umfangs der Befugnisse des Präsidenten des EPA als auch hinsichtlich der Rechtswirkung einer von ihm getroffenen und im Amtsblatt veröffentlichten Vereinbarung, soweit diese die Verlängerung einer vom EPÜ gesetzten Frist bewirkt.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zur Entscheidung vorgelegt:
(i) Ist der Präsident des EPA, der mit einer anderen Organisation (hier: dem Deutschen Patentamt) eine Vereinbarung trifft, befugt, in diese Vereinbarung eine Bestimmung aufzunehmen, wonach das EPA unter bestimmten Umständen ein Schriftstück, das bei ihm nach Ablauf einer im EPÜ gesetzten Frist eingereicht wird, so behandeln muß, als sei es fristgerecht eingereicht worden?
(ii) Falls der Präsident des EPA nicht zum Abschluß einer Vereinbarung, die eine solche Bestimmung enthält, befugt ist, welche Rechtswirkung hat dann diese Bestimmung im Hinblick darauf, daß die Vereinbarung im Amtsblatt veröffentlicht worden ist, damit die Beteiligten in den Verfahren vor dem EPA davon in Kenntnis gesetzt werden und sich darauf verlassen können?
(iii) Ist im vorliegenden Fall für die Frist und den Ort für die Einreichung der Einspruchsschrift beim EPA Artikel 99 (1) EPÜ allein maßgebend, oder muß er in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 3 der Verwaltungsvereinbarung vom 29. Juni 1981 gesehen werden?