T 0580/89 (Prüfungsbefugnis) 29-08-1991
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Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Rechtsfragen vorgelegt:
1. Hängt die einer Einspruchsabteilung oder - aufgrund der Regel 66 (1) EPÜ - einer Beschwerdekammer übertragene Befugnis, gemäß den Artikeln 101 und 102 EPÜ zu prüfen und zu entscheiden, ob ein europäisches Patent aufrechterhalten werden soll, von dem Umfang ab, in dem gemäß Regel 55 c) EPÜ in der Einspruchsschrift gegen das Patent Einspruch eingelegt wird?
2. Wenn ja, gibt es Ausnahmen hiervon?
Abgrenzung der Befugnis zur Prüfung eines Einspruchs
Vorlage an die Große Beschwerdekammer
Sachverhalt und Anträge
I. Der Hinweis auf das mit 11 Ansprüchen erteilte Patent Nr. 76 691 wurde am 10. September 1986 bekanntgemacht; dem Patent lag die am 5. Oktober 1982 eingereichte europäische Patentanmeldung Nr. 82 305 285.7 zugrunde, die die Priorität einer Voranmeldung in den Vereinigten Staaten vom 7. Oktober 1981 in Anspruch nahm.
Die Ansprüche 1 und 7 waren auf ein Verfahren zur Herstellung eines Glutarsäureanhydrideinheiten enthaltenden Polymers gerichtet, die Ansprüche 2 bis 6 auf ein durch das Verfahren gemäß Anspruch 1 erhältliches Glutarsäureanhydrideinheiten enthaltendes Polymer selbst. Die Ansprüche 8 bis 10 betrafen ein Verfahren zur Imidisierung des Polymers gemäß den Ansprüchen 2 bis 6 zur Bildung eines Imideinheiten enthaltenden Polymers; Anspruch 11 bezog sich auf ein durch das Verfahren gemäß einem der Ansprüche 8 bis 10 erhältliches Imidpolymer.
II. Am 18. April 1987 legte die Einsprechende gegen die Patenterteilung Einspruch ein und beantragte, das Patent wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit in dem Umfang zu widerrufen, in dem es die Anhydrideinheiten enthaltenden Polymere betraf (Ansprüche 1 bis 7).
Zur Stützung ihres Einwands, den sie in ihrem späteren Vorbringen sowie in der mündlichen Verhandlung aufgriff und ausführlicher darlegte, zog sie sechs Dokumente (I bis V und VII) an.
III. In einer Zwischenentscheidung vom 28. August 1989 vertrat die Einspruchsabteilung die Auffassung, daß keine Einspruchsgründe vorlägen, die der Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage des folgenden, aus 11 Ansprüchen bestehenden Anspruchssatzes entgegenstünden:
Ansprüche 1 bis 7: Verfahren zur Imidisierung thermoplastischer, nicht vernetzter Polymere
Anspruch 8: durch das Verfahren nach einem der vorstehenden Ansprüche erhältliches Imidpolymer
Anspruch 9: Verfahren zur Herstellung Glutarsäureanhydrideinheiten enthaltender thermoplastischer, nicht vernetzter Polymere
Ansprüche 10 und 11: durch das Verfahren nach Anspruch 9 erhältliches Glutarsäureanhydrideinheiten enthaltendes Polymer
In ihrer Entscheidung erinnerte sie daran, daß die Patentierbarkeit der Ansprüche 1 bis 8 nicht in Frage stehe. Der Gegenstand des Anspruchs 9 sei gegenüber der Lehre des als nächstliegender Stand der Technik angesehenen Dokuments VII neu, da in der Entgegenhaltung weder die für das Einsetzen der Zersetzung angegebene Temperatur von mindestens 250° C noch die Vicat-Temperatur von 50° bis 175° C offenbart sei. In Anbetracht der vorteilhaften Eigenschaften der Wärmeformbarkeit, hohen thermischen Stabilität und guten Verarbeitbarkeit, die die Anhydridpolymere durch das Verfahren gewännen, sei diese Merkmalskombination auch erfinderisch.
IV. Am 25. August 1989 hatte ein Dritter Einwendungen nach Artikel 115 EPÜ erhoben, die, wie eine amtliche Mitteilung vom 5. September 1989 belegt, erst nach der Entscheidung vom 28. August 1989 zur Akte gelangten und daher nicht berücksichtigt wurden. In diesen Einwendungen wurde zum einen geltend gemacht, daß der Gegenstand der Ansprüche 9 bis 11, betreffend ein Polymer mit Anhydrideinheiten und dessen Herstellung, nicht neu sei; außerdem wurde festgestellt, daß der Gegenstand der Ansprüche 1 bis 8, die sich auf ein Polymer mit Imidgruppen und dessen Herstellung bezogen, teils nicht neu und teils gegenüber der Lehre der nachstehenden Dokumente nicht erfinderisch sei:
(1) GB-A-1 437 176
(2) GB-A-926 269
(3) US-A-3 840 499
(4) US-A-3 801 549
V. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) legte dann am 8. September 1989 unter Entrichtung der vorgeschriebenen Gebühr Beschwerde ein. Die Argumentation in der am 23. Dezember 1989 eingereichten Beschwerdebegründung stützte sich ausschließlich auf die Dokumente 1 bis 4 und betraf im wesentlichen die Ansprüche 9 bis 11, deren Gegenstand die Neuheit oder zumindest die erfinderische Tätigkeit abgesprochen wurde.
Die Beschwerdeführerin machte ferner geltend, daß auch der Gegenstand der Ansprüche 1 bis 8, wiewohl in der Einspruchsschrift nicht angefochten, in Anbetracht der Lehre der Dokumente 2 bis 4 nicht patentfähig sei.
VI. Am 30. März 1990 reichte der oben erwähnte Dritte zusätzliche Einwendungen nach Artikel 115 EPÜ ein, mit denen er die Neuheit und die erfinderische Tätigkeit des Gegenstands der Ansprüche 1 bis 8 sowie 9 bis 11 in Frage stellte. Er berief sich dabei auf die Dokumente 1 bis 4 und die nachstehend aufgeführten weiteren Schriften:
(5) Die Angewandte Makromolekulare Chemie, 1970, Band 11, Seiten 91 - 108
(6) Encyclopedia of Polymer Science and Technology, 1964, Band 1, Seite 118
(7) US-A-4 246 347
VII. In ihrer am 23. April 1990 eingereichten Beschwerdeerwiderung, deren Inhalt durch ein späteres, am 2. August 1990 eingegangenes Schreiben bestätigt wurde, bot die Beschwerdegegnerin an, zur Ausräumung der Beschwerde die beanstandeten Ansprüche 9 bis 11 zu streichen. Über die im Rahmen des Einspruchs nicht angefochtenen Ansprüche 1 bis 8 habe das EPA nicht zu befinden, weil die damit verbundene Prüfung gegen Artikel 114 (1) EPÜ, so wie er in der Entscheidung T 9/87 ausgelegt worden sei, verstoßen würde.
VIII. Am 6. Juli 1990 legte der Dritte weitere Ausführungen vor, in denen er auf die Verpflichtung des EPA abhob, den Sachverhalt nach Artikel 114 (1) EPÜ von Amts wegen zu ermitteln. Er verwies in diesem Zusammenhang auf die Entscheidung T 156/84, in der die Kammer zu dem Schluß gelangt sei, daß der Grundsatz der Ermittlung von Amts wegen Vorrang vor der dem EPA eingeräumten Befugnis habe, verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel unberücksichtigt zu lassen. Dies ergebe sich aus der Verpflichtung des EPA gegenüber der Öffentlichkeit, keine Patente zu erteilen oder aufrechtzuerhalten, von denen es überzeugt sei, daß sie rechtlich keinen Bestand hätten. Diese Betrachtungsweise habe auch die neuere Entscheidung T 197/88 bestätigt.
IX. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
Die Beschwerdegegnerin beantragte die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage der Ansprüche 1 bis 8.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 sowie den Regeln 1 (1) und 64 EPÜ; sie ist somit zulässig.
2. Gegen die jetzt vorliegende Fassung der Ansprüche bestehen keine Einwände nach Artikel 123 EPÜ.
Anspruch 1 entspricht im wesentlichen einer Kombination der Ansprüche 1 und 8 des erteilten Patents bzw. der Ansprüche 1, 6 und 7 der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung; die Symbole a, b und c sind im Interesse der Klarheit eingefügt worden und haben keinen Einfluß auf den Umfang des Anspruchs.
Die abhängigen Ansprüche 2 bis 8 entsprechen den Ansprüchen 9, 3, 4, 5, 6, 10 und 11 des erteilten Patents bzw. den Ansprüchen 8, 2, 3, 4, 5, 10 und 9 der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung mit entsprechend angepaßten Zahlen und Rückbezügen.
3. Wie aus Nr. V und VI hervorgeht, wurden die von der Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdebegründung herangezogenen Dokumente 1 bis 4 nicht innerhalb der neunmonatigen Einspruchsfrist eingereicht. Dasselbe gilt für die Dokumente 5 bis 7, die vom Dritten erst während des Beschwerdeverfahrens vorgelegt wurden (s. Nr. VI). All diese Dokumente müssen als verspätet vorgebracht im Sinne des Artikels 114 EPÜ angesehen werden.
Die Kammer hat die Dokumente 1 bis 7 geprüft, um ihre Relevanz, d. h. ihre Beweiskraft im Vergleich zu den rechtzeitig eingereichten Schriften, zu ermitteln. Sie ist zu dem Schluß gelangt, daß zumindest einige dieser Dokumente so aufschlußreich sind, daß sich neue Fragen stellen, und zwar namentlich solche, die in der Einspruchsschrift ausdrücklich ausgeklammert waren.
4. Das von der Beschwerdegegnerin vorgebrachte Argument, über die im Einspruchsverfahren nicht angefochtenen Ansprüche 1 bis 8 habe das EPA nicht zu befinden (s. Nr. VII), wirft die rechtliche Grundsatzfrage auf, ob sich die Befugnis des EPA zur Prüfung eines angefochtenen europäischen Patents nach Artikel 101 EPÜ danach richtet, in welchem Umfang gemäß Regel 55 c) EPÜ in der Einspruchsschrift gegen das Patent Einspruch eingelegt wird.
5. In der Entscheidung T 9/87 (ABl. EPA 1989, 438) wurde festgestellt, daß sich die Prüfung eines Einspruchs gemäß Artikel 101 EPÜ auf den Umfang beschränken müsse, in dem laut Einspruchsschrift gegen das Patent Einspruch eingelegt werde, und daß weder die Einspruchsabteilung noch die Beschwerdekammer befugt sei, über den Umfang des Einspruchs hinaus zu prüfen und zu entscheiden, ob ein europäisches Patent aufrechterhalten werden könne. Dieser Auffassung liegt die Überlegung zugrunde, daß das Einspruchsverfahren eine Ausnahme von der allgemeinen Regel darstellt, daß ein europäisches Patent nach seiner Erteilung nicht mehr der Zuständigkeit des EPA unterliegt. Die in der Entscheidung vertretene enge Auslegung dieser Ausnahme besagt, daß "während einer bestimmten Frist der Widerruf ... beim EPA zentral beantragt werden kann, das dann über diesen Antrag entscheidet." Dies bedeutet, daß der "Umfang des Einspruchs ... in Verbindung mit den Einspruchsgründen ... den Rahmen absteckt, innerhalb dessen das EPA zur Prüfung des angefochtenen Patents nach Artikel 101 EPÜ befugt ist" (s. T 9/87, Nr. 3).
Aus der vorstehend angesprochenen Entscheidung folgt somit, daß die in Regel 55 c) EPÜ vorgesehene Erklärung darüber, in welchem Umfang gegen das europäische Patent Einspruch eingelegt wird, nicht nur eine Voraussetzung für die Zulässigkeit des Einspruchs ist, sondern auch festlegt, wie weit die Zuständigkeit oder Befugnis des EPA bei der Prüfung eines angefochtenen europäischen Patents nach Artikel 101 EPÜ geht.
Diese Rechtsprechung wurde dann in den Entscheidungen T 648/88 vom 23. November 1989 (ABl. EPA 1991, 292), T 192/88 vom 20. Juli 1989 (unveröffentlicht) und (s. nachstehend Nr. 7) T 293/88 vom 23. März 1990 (ABl. EPA 1992, 220) aufgegriffen und zum Teil modifiziert.
Demgegenüber wurde in den vom Dritten angesprochenen Entscheidungen T 156/84 (ABl. EPA 1988, 372) und T 197/88 (ABl. EPA 1989, 412) lediglich die Bedeutung des in Artikel 114 (1) EPÜ festgelegten allgemeinen Grundsatzes hervorgehoben.
6. Die Kammer hat gewisse Zweifel, ob aus Artikel 101 EPÜ tatsächlich abgeleitet werden kann, daß ein Einspruch gegen ein europäisches Patent nur in dem Umfang zu prüfen ist, in dem das Patent in der Einspruchsschrift nach Regel 55 c) EPÜ angefochten wird. Wenn sich diese Aussage aber nicht aus Artikel 101 EPÜ herleiten läßt, dann scheint die Entscheidung T 9/87 zu besagen, daß Artikel 114 (1) EPÜ hinter die Regel 55 c) EPÜ (und nicht hinter Artikel 101 EPÜ) zurücktritt. Eine solche Auslegung könnte aber mit Blick auf die Rechtssystematik als fragwürdig angesehen werden, weil dann eine auf einer höheren normativen Ebene angesiedelte Bestimmung (d. h. Artikel 114 (1) EPÜ) hinter eine nachrangige (d. h. Regel 55 c) EPÜ) zurückträte.
Andererseits ist zu bedenken, daß Artikel 101 (2) EPÜ ausdrücklich vorschreibt, daß die "Prüfung des Einspruchs ... nach Maßgabe der Ausführungsordnung durchzuführen ist", wodurch implizit, aber unmißverständlich unter anderem auf Regel 55 c) EPÜ verwiesen wird, so daß die vorstehend angesprochene Aussage möglicherweise doch gerechtfertigt ist.
7. In der Entscheidung T 293/88 (s. Nr. 5) wird festgestellt, daß es nach Artikel 114 (1) EPÜ im Ermessen der Einspruchsabteilung steht, die Gültigkeit abhängiger Ansprüche zu prüfen, die vom Einsprechenden zu keinem Zeitpunkt angefochten worden sind, sofern diese Ansprüche derselben Kategorie wie die im Einspruchsverfahren angefochtenen angehören und ihre Gültigkeit zwangsläufig und unmittelbar in Frage gestellt ist.
Somit kann dieser Entscheidung zufolge von der Rechtsprechung der Entscheidung T 9/87 (s. Nr. 5) abgewichen werden, wenn sich die nicht angefochtenen Ansprüche auf abhängige, engere Aspekte desselben Gegenstands beziehen.
Stellt man sich demnach auf den Standpunkt, daß die Befugnis des EPA, gemäß den Artikeln 101 und 102 EPÜ zu prüfen und zu entscheiden, ob ein europäisches Patent aufrechterhalten werden soll, grundsätzlich davon abhängt, in welchem Umfang gemäß Regel 55 c) EPÜ in der Einspruchsschrift gegen das Patent Einspruch eingelegt wird, so ergibt sich daraus zwangsläufig die weitere Frage nach möglichen Ausnahmen von dieser Grundregel.
8. Da die Meinungen hier stark auseinandergehen, hält es die Kammer für angezeigt, die Frage, ob eine Einspruchsabteilung oder - aufgrund der Regel 66 (1) EPÜ - eine Beschwerdekammer befugt ist, unabhängig von dem Umfang, in dem gemäß Regel 55 c) EPÜ in der Einspruchsschrift Beschwerde gegen ein europäisches Patent eingelegt wird, zu prüfen und zu entscheiden, ob dieses Patent aufrechterhalten werden soll (Art. 101 und 102 EPÜ), als Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Artikels 112 (1) EPÜ der Großen Beschwerdekammer vorzulegen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Rechtsfragen vorgelegt:
1. Hängt die einer Einspruchsabteilung oder - aufgrund der Regel 66 (1) EPÜ - einer Beschwerdekammer übertragene Befugnis, gemäß den Artikeln 101 und 102 EPÜ zu prüfen und zu entscheiden, ob ein europäisches Patent aufrechterhalten werden soll, von dem Umfang ab, in dem gemäß Regel 55 c) EPÜ in der Einspruchsschrift gegen das Patent Einspruch eingelegt wird?
2. Wenn ja, gibt es Ausnahmen hiervon?