T 0940/98 (Diastereomere/HOECHST) 19-02-2003
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Diastereomere des 3-Cephem-4-carbonsäure-1-(isopropoxycarbonyloxy)ethylesters und Verfahren zu deren Herstellung
Sachverhalt und Anträge
I. Die am 20. Mai 1998 eingegangene Beschwerde richtet sich gegen die am 19. März 1998 zur Post gegebene Entscheidung der Prüfungsabteilung über die Zurückweisung der Anmeldung Nummer 92 114 982.9 mit der europäischen Veröffentlichungsnummer 531 875.
II. Die Prüfungsabteilung stützte die angefochtene Entscheidung darauf, daß die Druckschrift
(5) EP-A-49 118
dem Gegenstand der am 29. Juli 1997 eingereichten Ansprüche 1 bis 3 und der Ansprüche 6 bis 8 der Anmeldung gemäß Artikel 54 EPÜ neuheitsschädlich entgegenstehe. Der Anspruch 1 lautete:
"1. Diastereomere des (6R,7R)-7-82-(2-Aminothiazol-4-yl)-2-(Z)- (methoxyimino)acetamido]-3-(methoxymethyl)-3-cephem-4- carbonsäure-1-(isopropoxycarbonyloxy)ethylesters der Formel I
FORMEL (I)
und deren physiologisch unbedenkliche Salze, worin die Verbindung der Formel I das polare Diastereomere ist."
Die weiteren angegriffenen Ansprüche betrafen diastereomerenreine Salze dieser Verbindung, deren Verwendung sowie diese enthaltende pharmazeutische Zubereitungen und die Herstellung davon.
In einer Anmerkung beanstandete die Prüfungsabteilung kursorisch auch die erfinderische Tätigkeit der Ansprüche 4 und 5, ohne jedoch abschließend hierüber zu entscheiden und ohne die angefochtene Entscheidung auf diesen Grund zu stützen.
III. Die Prüfungsabteilung führte in den die angefochtene Entscheidung tragenden Gründen aus, daß die Verbindung (6R,7R)-7-[2-(2-Aminothiazol-4-yl)-2-(Z)- (methoxyimino)acetamido]-3-(methoxymethyl)- 3-cephem-4-carbonsäure-1-(isopropoxycarbonyloxy)ethylester unter dem Namen Cefpodoxim Proxetil aus der Druckschrift (5), Seite 12 Nummer 19 und laut Beschreibungsseite 1 der vorliegenden Anmeldung bekannt sei, wobei diese Verbindung als Mischung von zwei Diastereomeren vorliege. Das polare Diastereomere sei Gegenstand des geltenden Anspruchs 1. Die chemische Zusammensetzung eines Erzeugnisses gehöre indessen zum Stand der Technik, wenn es selbst der Öffentlichkeit zugänglich sei und vom Fachmann analysiert und reproduziert werden könne (siehe Stellungnahme G 1/92, ABl. EPA 1993, 277). Die beiden Diastereomere des Cefpodoxim Proxetil, welche durch konventionelle HPL-Chromatographie getrennt werden könnten, gehörten somit zum Stand der Technik, d. h. auch das polare Diastereomere.
IV. Der Beschwerdeführer trug vor, daß der ihm bekannte Stand der Technik lediglich Mischungen der Diastereomeren, nicht aber das in Anspruch 1 beanspruchte polare Diastereomer beschreibe. Daher sei der beanspruchte Gegenstand im Sinne der Entscheidungen T 181/82, ABl. EPA 1984, 401 und T 296/87, ABl. EPA 1990, 195 neu, weil durch die individualisierte Konfiguration des Diastereomeren gemäß Anspruch 1 ein neues Element hinzugefügt werde. Diese Auffassung werde insbesondere durch die Entscheidung T 1048/92 gestützt. Des weiteren bemerkte der Beschwerdeführer, daß der Fachmann zum Zeitpunkt der Anmeldung kein technisches Verfahren zur Verfügung gehabt habe, um das Diastereomerengemisch zu analysieren und das beanspruchte Diastereomer in individualisierte Weise in die Hand zu bekommen. Eine chromatographische Trennung des Diastereomerengemisches sei auf konventionellem Wege nicht erfolgreich.
V. Der Beschwerdeführer hat beantragt, die angefochtenen Entscheidung aufzuheben und ein Patent auf Grundlage der am 29. Juli 1997 eingereichten Ansprüche 1 bis 3 und der Ansprüche 4 bis 8 der ursprünglichen Anmeldung zu erteilen. Hilfsweise hat er eine mündliche Verhandlung beantragt.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig
2. Änderungen (Artikel 123 (2) EPÜ)
Die Beschränkung der Ansprüche auf das polare Diastereomer findet seine Stütze auf Seite 3, Zeile 5 der ursprünglichen Unterlagen. Die geltenden Ansprüche genügen daher den Erfordernissen des Artikels 123 (2) EPÜ.
3. Neuheit
3.1. Die angegriffenen Ansprüche betreffen ein formel- und namensmäßig beschriebenes Cephalosporin, das insgesamt drei asymmetrische Kohlenstoffatome besitzt. Die beiden asymmetrischen Kohlenstoffatome in der 6- und 7-Stellung des Cephem-Gerüstes sind jeweils als R-Konfiguration festgelegt, nicht jedoch das asymmetrische Kohlenstoffatom in der Ethyloxyestergruppe, so daß insoweit zwei unterschiedliche Diastereomere umfaßt werden. Hiervon ist nur das polare Diastereomer Gegenstand der angegriffenen Ansprüche.
3.2. Auf dieser Grundlage ist allein die Frage zu entscheiden, ob das anspruchsgemäße Diastereomer in seiner individuellen sterischen Konfiguration der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Nach gefestigter Rechtsprechung der Beschwerdekammern kann die Neuheit einer solchen individualisierten sterischen Konfiguration und damit einer chemischen Einzelverbindung mit dieser Konfiguration nur versagt werden, wenn eine unzweideutige Offenbarung dieser individuellen sterischen Konfiguration bei der chemischen Einzelverbindung in Form einer Lehre zum technischen Handeln vorhanden ist (siehe Entscheidungen T 181/82, loc cit., Punkt 8 der Entscheidungsgründe; T 296/87, loc cit., Punkt 6 und 7 der Entscheidungsgründe; T 1084/92, Punkt 2.1 der Entscheidungsgründe; T 1046/97, Punkt 2.1.1.4 der Entscheidungsgründe; letztere beiden nicht veröffentlicht in ABl. EPA). Es ist daher für eine neuheitsschädliche Vorwegnahme nicht ausreichend, wenn das beanspruchte individualisierte Diastereomer lediglich rein begrifflich unter ein offenbartes Kollektiv von denkgesetzlich möglichen Konfigurationen fällt, ohne daß der Stand der Technik einen Fingerzeig auf die sterische Konfiguration eines individuellen Mitglieds des Kollektivs, hier auf das polare (6R,7R)-Diastereomer, enthält. Es ist folglich im vorliegenden Fall zu prüfen, ob das beanspruchte Diastereomer mit seiner individuellen sterischen Konfiguration im Stand der Technik offenbart wird.
3.3. Die Prüfungsabteilung hat für ihre Feststellung der mangelnden Neuheit einerseits auf die Druckschrift (5) und andererseits auf die Beschreibungsseite 1 der vorliegenden Anmeldung abgehoben.
3.3.1. Die Druckschrift (5) offenbart auf ihrer Seite 12 unter der Nummer 19 die Verbindung 7-[2-(2-Aminothiazol-4-yl)- 2-(methoxyimino)acetamido]-3-(methoxymethyl)-3-cephem-4- carbonsäure-1-(isopropoxycarbonyloxy)ethylester. Sie offenbart weder die Konfiguration an den asymmetrischen Kohlenstoffatomen in der 6- und 7-Stellung des Cephem-Gerüstes, noch die Konfiguration am asymmetrischen Kohlenstoffatom in der Ethyloxyestergruppe. Somit offenbart die Druckschrift (5) zwar ein Kollektiv von 23 denkgesetzlich möglichen Konfigurationen dieses namensmäßig beschriebenen Cephalosporins, ohne jedoch einen Fingerzeig auf die individuelle sterische Konfiguration des beanspruchten polaren (6R,7R)-Diastereomers zu enthalten, weswegen sie letzteres nicht neuheitsschädlich vorwegnimmt.
3.3.2. Auf der Seite 1 der Anmeldungsunterlagen würdigt der beschwerdeführende Anmelder den ihm bekannten Stand der Technik. Hierzu gibt er auf Seite 1, Zeilen 22 bis 24 und 31 bis 33 an, daß die Verbindung (6R,7R)-7-[2-(2-Aminothiazol-4-yl)-2-(Z)- (methoxyimino)acetamido]-3-(methoxymethyl)-3- cephem-4-carbonsäure-1-(isopropoxycarbonyloxy)ethylester unter dem Namen Cefpodoxim Proxetil zum Stand der Technik gehört. Die Prüfungsabteilung hat sich in der angefochtenen Entscheidung auf diese Verbindung als Stand der Technik gestützt und der Beschwerdeführer hat diesen Sachverhalt auch im Beschwerdeverfahren nicht bestritten, so daß die Kammer keine Veranlassung hat, hiervon abzuweichen.
Dieses namensmäßig beschriebene Cephalosporin offenbart zwar die R-Konfiguration an den asymmetrischen Kohlenstoffatomen in der 6- und 7-Stellung des Cephem-Gerüstes, nicht jedoch die Konfiguration am asymmetrischen Kohlenstoffatom in der Ethyloxyestergruppe. Folglich beschreibt diese Offenbarung lediglich ein Kollektiv von zwei unterschiedlichen Konfigurationen dieses Cephalosporins, d. h. von zwei unterschiedlichen Diastereomeren, ohne jedoch einen Fingerzeig auf die individuelle sterische Konfiguration des anspruchsgemäß polaren (6R,7R)-Diastereomers zu enthalten. Deswegen nimmt sie auch den beanspruchten Gegenstand nicht neuheitsschädlich vorweg.
3.3.3. Nach Auffassung der Prüfungsabteilung in der angefochtenen Entscheidung gelte das beanspruchte polare (6R,7R)-Diastereomer im Lichte der Stellungnahme G 1/92 (loc cit.) gleichwohl durch Cefpodoxim Proxetil, welches als Mischung zweier Diastereomeren vorliege, als offenbart und damit als nicht mehr neu.
Diese Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer legt indessen lediglich fest, daß die chemische Zusammensetzung eines Erzeugnisses zum Stand der Technik gehört, wenn das Erzeugnis selbst der Öffentlichkeit zugänglich ist und vom Fachmann analysiert und reproduziert werden kann und zwar unabhängig davon, ob es besondere Gründe gibt, die Zusammensetzung zu analysieren. Sie beantwortet die Rechtsfrage, wie das Erfordernis "der Öffentlichkeit zugänglich gemacht" bei der offenkundigen Vorbenutzung eines Erzeugnisses auszulegen ist (siehe Punkt 1.1 der Begründung) und bezieht sich ausschließlich auf die zugänglich gemachte Zusammensetzung als solche. Aus dieser Stellungnahme kann nicht der weitere Grundsatz konstruiert werden, daß die offenkundige Vorbenutzung eines Erzeugnisses jede einzelne seiner Komponenten für sich allein der Öffentlichkeit zugänglich macht. Daher ist die Stellungnahme G 1/92 im vorliegenden Fall nicht einschlägig.
3.4. Zusammenfassend ist festzustellen, daß der entgegengehaltene Stand der Technik das anspruchsgemäße polare (6R,7R)-Diastereomer nicht neuheitsschädlich vorwegnimmt. Daher genügt der Gegenstand der darauf gerichteten oder rückbezogenen Ansprüche 1 bis 3 und 6 bis 8 der Streitanmeldung den Erfordernissen des Artikels 54 EPÜ.
4. Zurückverweisung
Da die Streitanmeldung einzig wegen mangelnder Neuheit des Gegenstandes der Ansprüche 1 bis 3 und 6 bis 8 zurückgewiesen worden ist, dieser Grund die angefochtene Entscheidung aber nicht trägt, war diese aufzuheben. Gleichwohl hat die Kammer keine Entscheidung in der ganzen Angelegenheit getroffen, da die Prüfungsabteilung zu weiteren Fragen der Patentierbarkeit aller Ansprüche bisher keine beschwerdefähige Entscheidung getroffen hat. Hierzu steht eine abschließende Prüfung der ersten Instanz noch aus. Die Kammer hält es daher nicht für angezeigt, an deren Statt diese Fragen zu entscheiden, um auch diesbezüglich die Möglichkeit einer Prüfung durch zwei Instanzen zu erhalten. Unter diesen Umständen verweist die Kammer in Ausübung ihrer Befugnisse gemäß Artikel 111 (1) EPÜ die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurück.
Im Verfahren vor der Prüfungsabteilung sollten offensichtliche Schreibfehler ausgemerzt werden, so beispielsweise in Anspruch 1 die Ziffer "8" durch eine eckige Klammer und in Anspruch 2 der Begriff "polarere" durch "polare" ersetzt werden.
5. Nachdem dem Hauptantrag des Beschwerdeführers stattgegeben wird, war die hilfsweise beantragte mündliche Verhandlung entbehrlich.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zur weiteren Prüfung zurückverwiesen.