T 1071/04 30-03-2005
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Halbzug, insbesondere Draht für Brillengestelle
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerdeführerin (Anmelderin) richtet ihre Beschwerde gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die europäische Patentanmeldung Nr. 0 0118 712.9 (Veröffentlichungsnummer 1 093 007) zurückzuweisen. Der Entscheidung lag ein mit Schreiben vom 16. Februar 2004 eingereichter Anspruch 1 mit folgendem Wortlaut zugrunde:
"Draht aus einer CuTi-Legierung für Brillengestelle, dadurch gekennzeichnet, dass der Draht aushärtbar ist und aus 2 bis 5 Gew.-% Ti, 0,5 bis 10 Gew.-% Mn und Rest Cu besteht."
II. Die Zurückweisung wurde von der Prüfungsabteilung damit begründet, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 im Hinblick auf die Entgegenhaltungen
D5: DE-C-593 783
D6: DE-C1-4 314 625
nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe (Artikel 52 (1) und 56 EPÜ). Die Prüfungsabteilung war zu der Auffassung gelangt, daß dem Offenbarungsgehalt der Entgegenhaltung D6 ein Draht aus einer Kupfer-Titan- Mangan-Legierung für Brillengestelle zu entnehmen sei, von der sich der beanspruchte Gegenstand lediglich durch den Gehalt an Mangan unterscheide, und daß dieses Merkmal sich aus der für den Fachmann naheliegenden Übertragung der in der Druckschrift D5 vorgeschlagenen Mengenverhältnisse der Bestandteile von Kupfer-Titan- Mangan-Legierungen auf den in der Druckschrift D6 offenbarten Draht ergebe.
III. In der Beschwerdebegründung hat die Beschwerdeführerin beantragt, die Entscheidung aufzuheben und ein Patent auf der Basis des der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Patentanspruchs 1 zusammen mit den abhängigen Ansprüchen 2 und 3 und den Seiten 1 bis 3 der Beschreibung in der ursprünglich eingereichten Fassung zu erteilen.
Auf Veranlassung der Kammer hat die Beschwerdeführerin mit dem Schreiben vom 16. März 2005 neue abhängige Ansprüche 2 und 3 und neue Seiten 1 und 2 der Beschreibung eingereicht.
IV. Die Argumente der Beschwerdeführerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Obwohl auf Seite 2, Zeilen 46 und 47 der Patentschrift D6 Mangan als Legierungsbestandteil erwähnt wird, ist es basierend auf dem sonstigen Offenbarungsgehalt der Patentschrift D6 für den Fachmann eindeutig erkennbar, daß es sich bei der Benennung von Mangan um eine fehlerhafte Offenbarung handelt. Die Fehlerhaftigkeit der Offenbarung von Mangan ergibt sich schon aus der Erläuterung der Erfindung und deren Vorteile, die sich auf Magnesium und nicht auf Mangan bezieht. Auch Anspruch 1 und die Unteransprüche sowie die Ausführungsbeispiele beziehen sich auf die alternativen Bestandteile Eisen, Zirkon und Magnesium, nicht aber auf Mangan.
Da die Verwendung von Mangan als Legierungsbestandteil in der Patentschrift D6 nicht als technischer Sachverhalt vorlag, bestand für den Fachmann kein Anlaß, auf das Dokument D5 zurückzugreifen, welches Dokument die Verwendung von Kupfer-Titan-Legierungen als Konstruktionsmaterialien, nicht aber die Verarbeitungseigenschaften von Drahtlegierungen betrifft.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Zulässigkeit der Änderungen - Artikel 123 (2) EPÜ
In der angefochtenen Entscheidung wurden die bis zu jenem Zeitpunkt vorgenommenen Änderungen des Anspruchs 1 nicht bemängelt. Die abhängigen Ansprüche 2 und 3 wurden während des Beschwerdeverfahrens klargestellt und an den Anspruch 1 angepaßt (Artikel 84 EPÜ); die Beschreibung wurde im Wesentlichen nur durch eine Würdigung des Standes der Technik und durch Anpassung an den Anspruch 1 (Regel 27 (1) b), c) EPÜ) verändert.
Die geltenden Unterlagen der Patentanmeldung sind daher nach Auffassung der Kammer im Hinblick auf Artikel 123 (2) EPÜ nicht zu beanstanden.
3. Neuheit - Artikel 54 EPÜ
Die Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 wurde in der angefochtenen Entscheidung nicht in Frage gestellt und auch die Kammer sieht keine Veranlassung, sie in Zweifel zu ziehen, da keine der verfügbaren Druckschriften einen Gegenstand mit allen Merkmalen des Anspruchs 1 offenbart.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 gilt daher als neu im Sinne von Artikel 52 (1) und 54 EPÜ. Das gleiche gilt aufgrund ihres Rückbezugs für die abhängigen Ansprüche 2 und 3.
4. Erfinderische Tätigkeit - Artikel 56 EPÜ
4.1 Die angefochtene Entscheidung geht von Dokument D6 als nächstkommendem Stand der Technik aus. Dokument D6, eine Patentschrift, offenbart eine aushärtbare nickelfreie ternäre Kupfer-Titan-Legierung zur Herstellung von Drähten und Profilen für Brillenteile, insbesondere für Brillengestelle (Zusammenfassung und Seite 2, Zeilen 3 bis 22). Sowohl im Anspruch 1 wie auch in der Definition der Erfindung auf Seite 2, Zeilen 23 bis 29 der Beschreibung wird die Legierung in der Patentschrift D6 so definiert, daß sie aus 2,0 bis 3,5 % Titan und 0,1 bis 1,0 % Eisen oder 0,5 bis 1,5 % Magnesium oder 0,05 bis 0,5 % Zirkon, Rest Kupfer besteht [Hervorhebung durch die Kammer].
4.2 In der angefochtenen Entscheidung hat sich die Prüfungsabteilung allein auf die Textstelle auf Seite 2, Zeilen 42 bis 47 der Patentschrift D6 gestützt, in der es heißt, daß der Bestandteil Chrom in den bekannten Cu- Ti-Cr-Legierungen wegen der Gefahr der Chromoxidbildung und deren toxologischen Wirkung zunehmend substituiert wird und daß "um ähnlicher Überlegungen bei der Brillenteilefertigung vorzubeugen, [...] Chrom erfindungsgemäß durch Eisen, Mangan oder Zirkon ersetzt werden [kann]" [Hervorhebung durch die Kammer].
Die von der Prüfungsabteilung herangezogene Textstelle aus der Patentschrift D6 steht aber nicht nur im Widerspruch mit der in D6 angegebenen Definition des Erfindungsgegenstands (siehe Punkt 4.1 oben), der sich auf die alternative Legierungsbestandteile Eisen, Magnesium und Zirkon bezieht, sondern auch im Widerspruch mit der Gesamtoffenbarung dieser Druckschrift, insbesondere mit der Zusammenfassung, mit der Beschreibungseinleitung auf Seite 2, Zeilen 3 bis 6, mit der Beschreibung der Funktion und Wirkung der Erfindung auf Seite 2, Zeilen 51 bis 60 und mit der Erläuterung der Vorteile der Erfindung auf Seite 2, Zeile 68 bis Seite 3, Zeile 5, die alle sich auf die alternativen Bestandteile Eisen, Magnesium und Zirkon beziehen. Auch die Ausführungsbeispiele (Seite 3, Zeile 14 bis 38) und die abhängigen Ansprüche 2 bis 4 beziehen sich alle auf ternäre Kupfer-Titan-Legierungen mit lediglich Eisen, Magnesium und Zirkon als alternative zusätzliche Legierungsbestandteile. Außerdem wird Mangan in der Patentschrift D6 in keiner anderen als in der von der Prüfungsabteilung herangezogenen Textstelle erwähnt.
Nach alledem muss nach Ansicht der Kammer davon ausgegangen werden, daß, obwohl sich aus dem Wortlaut der von der Prüfungsabteilung herangezogenen Textstelle - bei isolierter Betrachtung - eine Legierung aus Kupfer, Titan und Mangan entnehmen läßt, der Fachmann bei Betrachtung der Gesamtoffenbarung im vorliegenden Fall ohne weiteres erkennen wird, daß die Angabe von Mangan als Legierungsbestandteil in der genannten Textstelle im krassen Widerspruch zu den restlichen Angaben der Gesamtoffenbarung der Patentschrift D6 steht. Daher wird der Fachmann an dem realen Offenbarungsgehalt bezüglich Mangan zweifeln und aufgrund der durchweg in der Definition der Erfindung und in der restlichen Gesamtoffenbarung zitierten alternativen Bestandteile "Eisen, Magnesium oder Zirkon" die isolierte Erwähnung von "Eisen, Mangan oder Zirkon" als einen offensichtlichen Fehler betrachten.
Aus alldem ergibt sich, daß die von der Prüfungsabteilung herangezogene Textstelle offensichtlich nicht den beabsichtigten technischen Sachverhalt wiedergibt und daß die isolierte Erwähnung von Mangan (Mn) statt Magnesium (Mg) als Bestandteil der Legierung in der Patentschrift D6 nicht der tatsächlichen technischen Offenbarung des Dokuments D6 entspricht. Somit gehört die wörtliche Offenbarung von Mangan auf Seite 2, Zeile 46 und 47 der Patentschrift D6 nach Auffassung der Kammer nicht zum Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 EPÜ (siehe z. B. die Entscheidung T 412/91, im ABl. EPA nicht veröffentlicht, Punkt 4).
Es ist daher die Auffassung der Kammer, daß - wie von der Beschwerdeführerin ausgeführt - die Patentschrift D6 aufgrund ihrer für den Fachmann erkennbar fehlerhaften Offenbarung an der in Rede stehenden Stelle dem Fachmann keine ausreichenden Anregungen dahingehend geben kann, einen Draht aus einer aus Kupfer, Titan und Mangan bestehenden Legierung in Betracht zu ziehen.
Folglich kann die Argumentation der Prüfungsabteilung, daß in der Patentschrift D6 Mangan als Alternative zu Eisen, Zirkon oder Magnesium in einer Cu-Ti-Legierung eingesetzt wird, nicht gefolgt werden.
4.3 Selbst wenn man einräumen würde, daß der Fachmann bei der Betrachtung der Offenbarung der Patentschrift D6 die auf Seite 2, Zeilen 42 bis 47 nur wörtlich zu entnehmende Lehre, Mangan als alternativen Bestandteil der Legierung einzusetzen, möglicherweise als technisch sinnvoll bzw. plausibel betrachten würde, scheint es der Kammer, daß die Wahl dieser mit den anderen Ausführungen in der Druckschrift nicht im Einklang stehenden Lehre als nächstkommender, den Ausgangspunkt einer Weiterentwicklung bildender Stand der Technik sich nur aus einer unzulässigen rückblickenden Betrachtung der Erfindung ergeben kann. Und selbst dann würde der Fachmann nicht zu dem Gegenstand nach Anspruch 1 gelangen, insbesondere nicht zu dem im geltenden Anspruch 1 angegebenen Mangangehalt von 0,5 bis 10 Gew. %. Zum ersten enthält die Patentschrift D6 keine Angaben über den Mangangehalt. Und zum zweiten offenbart Dokument D5, auf das sich die Zurückweisungsentscheidung der Prüfungsabteilung ebenfalls stützte (siehe Punkt II oben), zwar ternäre Kupfer-Titan-Legierungen mit bis zu 10. % Mangan (Seite 2, Zeilen 72 bis 79), jedoch aufgrund ihrer Eigenschaften - insbesondere Alterung, Dehnung, Widerstand und Festigkeit - nur als Konstruktionsmaterialien, beispielsweise in Form von Preßstangen, Rohren und dergleichen (Seite 2, Zeilen 82 bis 95). Da an solche Konstruktionsstrukturen naturgemäß andere Anforderungen gestellt werden als an Brillengestelle, hätte der Fachmann nach Auffassung der Kammer die Lehre des Dokuments D5 nicht in Erwägung gezogen.
4.4 Der Gegenstand des Anspruchs 1 wird daher nicht durch die Lehre der Entgegenhaltungen D5 und D6 nahegelegt.
4.5 Auch keine der übrigen verfügbaren Druckschriften enthält irgendwelche Anregungen zu dem Gegenstand des Anspruchs 1. Die Kammer kommt daher zu dem Schluß, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ beruht. Das gleiche gilt für die abhängigen Ansprüche 2 und 3.
5. Nachdem nach Auffassung der Kammer die europäische Patentanmeldung und die Erfindung, die sie zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des Übereinkommens genügen, kann die Erteilung eines europäischen Patents erfolgen (Artikel 97 (2) und 111 (1) EPÜ).
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zurückverwiesen mit der Anordnung, ein Patent aufgrund folgender Unterlagen zu erteilen:
- Ansprüche: Anspruch 1, eingereicht am 17. Februar 2004 mit Schreiben vom 16. Februar 2004, und Ansprüche 2 und 3, eingereicht mit Schreiben vom 16. März 2005;
- Beschreibung: Seiten 1 und 2, eingereicht mit Schreiben vom 16. März 2005, und Seite 3 wie ursprünglich eingereicht.